schien keinen großen Eindruck auf ihn zu machen; ich aber entdeckte in seinen Zügen, seiner Kleidung und Be- wegungen eine reizende Eigenheit nach der andern. Nachlässig, Bewußtlos, Naturlaunig saß er auf seinem Schimmel, der das Regiment mit ihm theilte. -- Dort- hin flog er im Nebel schwimmend, der ihn nur allzubald mir verbarg; ich aber blieb bei den letzten Reben, wo heute die Prozession in ausgelassnem Übermuth ausein- ander sprengte, allein zurück: Ich fühlte mich sehr ge- demüthigt, ich ahndete nicht nur, ich war überzeugt, dies rasche Leben, das eben gleichgültig an mir vorüber ge- streift war, begehre mit allen fünf Sinnen, des Köst- lichsten und Erhabensten im Dasein sich zu bemäch- tigen.
Die Einsamkeit giebt dem Geist Selbstgefühl; die duftenden Weinberge schmeichelten mich wieder zufrieden.
Und nun vertraue ich Dir schmucklos meinen Rei- ter, meine gekränkte Eitelkeit, meine Sehnsucht nach dem lebendigen Geheimniß in der Menschenbrust. Soll ich in Dir lebendig werden, genießen, athmen und ruhen, alles im Gefühl des Gedeihens, so muß ich, deiner hö- heren Natur unbeschadet, alles bekennen dürfen, was mir fehlt, was ich erlebe und ahnde; nimm mich auf,
ſchien keinen großen Eindruck auf ihn zu machen; ich aber entdeckte in ſeinen Zügen, ſeiner Kleidung und Be- wegungen eine reizende Eigenheit nach der andern. Nachläſſig, Bewußtlos, Naturlaunig ſaß er auf ſeinem Schimmel, der das Regiment mit ihm theilte. — Dort- hin flog er im Nebel ſchwimmend, der ihn nur allzubald mir verbarg; ich aber blieb bei den letzten Reben, wo heute die Prozeſſion in ausgelaſſnem Übermuth ausein- ander ſprengte, allein zurück: Ich fühlte mich ſehr ge- demüthigt, ich ahndete nicht nur, ich war überzeugt, dies raſche Leben, das eben gleichgültig an mir vorüber ge- ſtreift war, begehre mit allen fünf Sinnen, des Köſt- lichſten und Erhabenſten im Daſein ſich zu bemäch- tigen.
Die Einſamkeit giebt dem Geiſt Selbſtgefühl; die duftenden Weinberge ſchmeichelten mich wieder zufrieden.
Und nun vertraue ich Dir ſchmucklos meinen Rei- ter, meine gekränkte Eitelkeit, meine Sehnſucht nach dem lebendigen Geheimniß in der Menſchenbruſt. Soll ich in Dir lebendig werden, genießen, athmen und ruhen, alles im Gefühl des Gedeihens, ſo muß ich, deiner hö- heren Natur unbeſchadet, alles bekennen dürfen, was mir fehlt, was ich erlebe und ahnde; nimm mich auf,
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ſchien keinen großen Eindruck auf ihn zu machen; ich
aber entdeckte in ſeinen Zügen, ſeiner Kleidung und Be-
wegungen eine reizende Eigenheit nach der andern.
Nachläſſig, Bewußtlos, Naturlaunig ſaß er auf ſeinem
Schimmel, der das Regiment mit ihm theilte. — Dort-
hin flog er im Nebel ſchwimmend, der ihn nur allzubald
mir verbarg; ich aber blieb bei den letzten Reben, wo
heute die Prozeſſion in ausgelaſſnem Übermuth ausein-
ander ſprengte, allein zurück: Ich fühlte mich ſehr ge-
demüthigt, ich ahndete nicht nur, ich war überzeugt, dies
raſche Leben, das eben gleichgültig an mir vorüber ge-
ſtreift war, begehre mit allen fünf Sinnen, des Köſt-
lichſten und Erhabenſten im Daſein ſich zu bemäch-
tigen.
Die Einſamkeit giebt dem Geiſt Selbſtgefühl; die
duftenden Weinberge ſchmeichelten mich wieder zufrieden.
Und nun vertraue ich Dir ſchmucklos meinen Rei-
ter, meine gekränkte Eitelkeit, meine Sehnſucht nach dem
lebendigen Geheimniß in der Menſchenbruſt. Soll ich
in Dir lebendig werden, genießen, athmen und ruhen,
alles im Gefühl des Gedeihens, ſo muß ich, deiner hö-
heren Natur unbeſchadet, alles bekennen dürfen, was
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Arnim, Bettina von: Goethe's Briefwechsel mit einem Kinde. Bd. 1. Berlin, 1835, S. 234. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/arnimb_goethe01_1835/266>, abgerufen am 22.11.2024.
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