mich von weitem an mit ihren zolllangen schwarzen Augenwimpern, die andern Kinder lachten es aus und sagten alle Menschen hielten sich drüber auf, daß es so lange Wimpern habe. Es stand beschämt da, und fing endlich an zu weinen. Ich tröstete es und sagte: Weil Dich Gott zur Hüterin über die schönen weißen Gänse bestellt hat, und Du immer auf freier Wiese gehest, wo die Sonne so sehr blendet, so hat er Dir diese langen Augenschatten wachsen lassen. Die Gänse drängten sich an ihre weinende Hüterin, und zischten mich und die lachenden Kinder an, könnt' ich malen -- das gäb' ein Bild!
Gut ist's, daß ich nicht viel von dem weiß, was in der Welt vorgeht, und von Künsten und Wissenschaf- ten nichts versteh', ich könnte leicht in Versuchung ge- rathen, Dir darüber zu sprechen, und meine Phantasie würde alles besser wissen wollen, jetzt nährt sich mein Geist von Inspirationen. -- Manches hör' ich nennen, anwenden, vergleichen, was ich nicht begreife, was hin- dert mich danach zu fragen? -- was macht mich so gleichgültig dagegen? oder warum weiche ich wohl gar aus, etwas Neues zu erfahren? --
mich von weitem an mit ihren zolllangen ſchwarzen Augenwimpern, die andern Kinder lachten es aus und ſagten alle Menſchen hielten ſich drüber auf, daß es ſo lange Wimpern habe. Es ſtand beſchämt da, und fing endlich an zu weinen. Ich tröſtete es und ſagte: Weil Dich Gott zur Hüterin über die ſchönen weißen Gänſe beſtellt hat, und Du immer auf freier Wieſe geheſt, wo die Sonne ſo ſehr blendet, ſo hat er Dir dieſe langen Augenſchatten wachſen laſſen. Die Gänſe drängten ſich an ihre weinende Hüterin, und ziſchten mich und die lachenden Kinder an, könnt' ich malen — das gäb' ein Bild!
Gut iſt's, daß ich nicht viel von dem weiß, was in der Welt vorgeht, und von Künſten und Wiſſenſchaf- ten nichts verſteh', ich könnte leicht in Verſuchung ge- rathen, Dir darüber zu ſprechen, und meine Phantaſie würde alles beſſer wiſſen wollen, jetzt nährt ſich mein Geiſt von Inſpirationen. — Manches hör' ich nennen, anwenden, vergleichen, was ich nicht begreife, was hin- dert mich danach zu fragen? — was macht mich ſo gleichgültig dagegen? oder warum weiche ich wohl gar aus, etwas Neues zu erfahren? —
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0274"n="242"/>
mich von weitem an mit ihren zolllangen ſchwarzen<lb/>
Augenwimpern, die andern Kinder lachten es aus und<lb/>ſagten alle Menſchen hielten ſich drüber auf, daß es ſo<lb/>
lange Wimpern habe. Es ſtand beſchämt da, und fing<lb/>
endlich an zu weinen. Ich tröſtete es und ſagte: Weil<lb/>
Dich Gott zur Hüterin über die ſchönen weißen Gänſe<lb/>
beſtellt hat, und Du immer auf freier Wieſe geheſt, wo<lb/>
die Sonne ſo ſehr blendet, ſo hat er Dir dieſe langen<lb/>
Augenſchatten wachſen laſſen. Die Gänſe drängten ſich<lb/>
an ihre weinende Hüterin, und ziſchten mich und die<lb/>
lachenden Kinder an, könnt' ich malen — das gäb' ein<lb/>
Bild!</p><lb/><p>Gut iſt's, daß ich nicht viel von dem weiß, was<lb/>
in der Welt vorgeht, und von Künſten und Wiſſenſchaf-<lb/>
ten nichts verſteh', ich könnte leicht in Verſuchung ge-<lb/>
rathen, Dir darüber zu ſprechen, und meine Phantaſie<lb/>
würde alles beſſer wiſſen wollen, jetzt nährt ſich mein<lb/>
Geiſt von <choice><sic>Inſpirarionen</sic><corr>Inſpirationen</corr></choice>. — Manches hör' ich nennen,<lb/>
anwenden, vergleichen, was ich nicht begreife, was hin-<lb/>
dert mich danach zu fragen? — was macht mich ſo<lb/>
gleichgültig dagegen? oder warum weiche ich wohl gar<lb/>
aus, etwas Neues zu erfahren? —</p></div><lb/></div></body></text></TEI>
[242/0274]
mich von weitem an mit ihren zolllangen ſchwarzen
Augenwimpern, die andern Kinder lachten es aus und
ſagten alle Menſchen hielten ſich drüber auf, daß es ſo
lange Wimpern habe. Es ſtand beſchämt da, und fing
endlich an zu weinen. Ich tröſtete es und ſagte: Weil
Dich Gott zur Hüterin über die ſchönen weißen Gänſe
beſtellt hat, und Du immer auf freier Wieſe geheſt, wo
die Sonne ſo ſehr blendet, ſo hat er Dir dieſe langen
Augenſchatten wachſen laſſen. Die Gänſe drängten ſich
an ihre weinende Hüterin, und ziſchten mich und die
lachenden Kinder an, könnt' ich malen — das gäb' ein
Bild!
Gut iſt's, daß ich nicht viel von dem weiß, was
in der Welt vorgeht, und von Künſten und Wiſſenſchaf-
ten nichts verſteh', ich könnte leicht in Verſuchung ge-
rathen, Dir darüber zu ſprechen, und meine Phantaſie
würde alles beſſer wiſſen wollen, jetzt nährt ſich mein
Geiſt von Inſpirationen. — Manches hör' ich nennen,
anwenden, vergleichen, was ich nicht begreife, was hin-
dert mich danach zu fragen? — was macht mich ſo
gleichgültig dagegen? oder warum weiche ich wohl gar
aus, etwas Neues zu erfahren? —
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Arnim, Bettina von: Goethe's Briefwechsel mit einem Kinde. Bd. 1. Berlin, 1835, S. 242. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/arnimb_goethe01_1835/274>, abgerufen am 22.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.