In Weimar kamen wir um 12 Uhr an; wir aßen zu Mittag, ich aber nicht. Die beiden legten sich auf's Sopha und schliefen; drei Nächte hatten wir durchwacht. Ich rathe Ihnen, sagte mein Schwager, auch auszuru- hen; der Goethe wird sich nicht viel draus machen, ob Sie zu ihm kommen oder nicht, und was Besondres wird auch nicht an ihm zu sehen sein. Kann Sie denken, daß mir diese Rede allen Muth benahm? -- Ach ich wußte nicht was ich thun sollte, ich war ganz allein in der fremden Stadt; ich hatte mich anders an- gekleidet, ich stand am Fenster und sah nach der Thurm- uhr, eben schlug es halb 3. -- Es war mir auch so, als ob sich Goethe nichts draus machen werde mich zu sehen; es fiel mir ein, daß ihn die Leute stolz nennen; ich drückte mein Herz fest zusammen, daß es nicht be- gehren solle; -- auf einmal schlug es 3 Uhr. Und da war's doch auch grad' als hätte er mich gerufen, ich lief hinunter nach dem Lohnbedienten, kein Wagen war da, eine Portechaise? Nein, sagt' ich, das ist eine Equi- page für's Lazareth. Wir gingen zu Fuß. Es war ein wahrer Chokoladenbrei auf der Straße, über den dicksten Morast mußte ich mich tragen lassen, und so kam ich zu Wieland, nicht zu Ihrem Sohn. Den Wieland hatte ich nie gesehen, ich that als sey ich eine alte Be-
In Weimar kamen wir um 12 Uhr an; wir aßen zu Mittag, ich aber nicht. Die beiden legten ſich auf's Sopha und ſchliefen; drei Nächte hatten wir durchwacht. Ich rathe Ihnen, ſagte mein Schwager, auch auszuru- hen; der Goethe wird ſich nicht viel draus machen, ob Sie zu ihm kommen oder nicht, und was Beſondres wird auch nicht an ihm zu ſehen ſein. Kann Sie denken, daß mir dieſe Rede allen Muth benahm? — Ach ich wußte nicht was ich thun ſollte, ich war ganz allein in der fremden Stadt; ich hatte mich anders an- gekleidet, ich ſtand am Fenſter und ſah nach der Thurm- uhr, eben ſchlug es halb 3. — Es war mir auch ſo, als ob ſich Goethe nichts draus machen werde mich zu ſehen; es fiel mir ein, daß ihn die Leute ſtolz nennen; ich drückte mein Herz feſt zuſammen, daß es nicht be- gehren ſolle; — auf einmal ſchlug es 3 Uhr. Und da war's doch auch grad' als hätte er mich gerufen, ich lief hinunter nach dem Lohnbedienten, kein Wagen war da, eine Portechaiſe? Nein, ſagt' ich, das iſt eine Equi- page für's Lazareth. Wir gingen zu Fuß. Es war ein wahrer Chokoladenbrei auf der Straße, über den dickſten Moraſt mußte ich mich tragen laſſen, und ſo kam ich zu Wieland, nicht zu Ihrem Sohn. Den Wieland hatte ich nie geſehen, ich that als ſey ich eine alte Be-
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In Weimar kamen wir um 12 Uhr an; wir aßen
zu Mittag, ich aber nicht. Die beiden legten ſich auf's
Sopha und ſchliefen; drei Nächte hatten wir durchwacht.
Ich rathe Ihnen, ſagte mein Schwager, auch auszuru-
hen; der Goethe wird ſich nicht viel draus machen,
ob Sie zu ihm kommen oder nicht, und was Beſondres
wird auch nicht an ihm zu ſehen ſein. Kann Sie
denken, daß mir dieſe Rede allen Muth benahm? —
Ach ich wußte nicht was ich thun ſollte, ich war ganz
allein in der fremden Stadt; ich hatte mich anders an-
gekleidet, ich ſtand am Fenſter und ſah nach der Thurm-
uhr, eben ſchlug es halb 3. — Es war mir auch ſo,
als ob ſich Goethe nichts draus machen werde mich zu
ſehen; es fiel mir ein, daß ihn die Leute ſtolz nennen;
ich drückte mein Herz feſt zuſammen, daß es nicht be-
gehren ſolle; — auf einmal ſchlug es 3 Uhr. Und da
war's doch auch grad' als hätte er mich gerufen, ich lief
hinunter nach dem Lohnbedienten, kein Wagen war da,
eine Portechaiſe? Nein, ſagt' ich, das iſt eine Equi-
page für's Lazareth. Wir gingen zu Fuß. Es war ein
wahrer Chokoladenbrei auf der Straße, über den dickſten
Moraſt mußte ich mich tragen laſſen, und ſo kam ich
zu Wieland, nicht zu Ihrem Sohn. Den Wieland
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Arnim, Bettina von: Goethe's Briefwechsel mit einem Kinde. Bd. 1. Berlin, 1835, S. 8. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/arnimb_goethe01_1835/40>, abgerufen am 21.11.2024.
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