Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Arnim, Bettina von: Goethe's Briefwechsel mit einem Kinde. Bd. 1. Berlin, 1835.

Bild:
<< vorherige Seite

Leidenschaft ist ja der einzige Schlüssel zur Welt, durch
die lernt der Geist alles kennen und fühlen, wie soll er
denn sonst in sie hineinkommen? -- und da fühl' ich
daß ich durch die Liebe zu Ihm erst in den Geist ge-
boren bin, daß durch Ihn die Welt sich mir erst auf-
schließt, da mir die Sonne scheint, und der Tag sich
von der Nacht scheidet. Was ich durch diese Liebe
nicht lerne, das werde ich nie begreifen. Ich wollt' ich
säß' an seiner Thür, ein armes Bettelkind, und nähm'
ein Stückchen Brod von ihm, und er erkennte dann an
meinem Blick weß Geistes Kind ich bin, da zög' er mich
an sich und hüllte mich in seinen Mantel, damit ich
warm würde. Gewiß, er hieß mich nicht wieder gehen,
ich dürfte fort und fort im Haus' herumwandeln, und
so vergingen die Jahre und keiner wüßte wer ich wäre,
und niemand wüßte wo ich hingekommen wär', und so
vergingen die Jahre und das Leben, und in seinem
Antlitz spiegelte sich mir die ganze Welt, ich brauchte
nichts Andres mehr zu lernen. Warum thu' ich's denn
nicht? -- es kommt ja nur drauf an daß ich Muth
fasse, so kann ich in den Hafen meines Glückes ein-
laufen.

Weiß Sie noch wie ich den Winter durch Schnee
und Regen gesprungen kam, und Sie fragt', wie läufst

Leidenſchaft iſt ja der einzige Schlüſſel zur Welt, durch
die lernt der Geiſt alles kennen und fühlen, wie ſoll er
denn ſonſt in ſie hineinkommen? — und da fühl' ich
daß ich durch die Liebe zu Ihm erſt in den Geiſt ge-
boren bin, daß durch Ihn die Welt ſich mir erſt auf-
ſchließt, da mir die Sonne ſcheint, und der Tag ſich
von der Nacht ſcheidet. Was ich durch dieſe Liebe
nicht lerne, das werde ich nie begreifen. Ich wollt' ich
ſäß' an ſeiner Thür, ein armes Bettelkind, und nähm'
ein Stückchen Brod von ihm, und er erkennte dann an
meinem Blick weß Geiſtes Kind ich bin, da zög' er mich
an ſich und hüllte mich in ſeinen Mantel, damit ich
warm würde. Gewiß, er hieß mich nicht wieder gehen,
ich dürfte fort und fort im Hauſ' herumwandeln, und
ſo vergingen die Jahre und keiner wüßte wer ich wäre,
und niemand wüßte wo ich hingekommen wär', und ſo
vergingen die Jahre und das Leben, und in ſeinem
Antlitz ſpiegelte ſich mir die ganze Welt, ich brauchte
nichts Andres mehr zu lernen. Warum thu' ich's denn
nicht? — es kommt ja nur drauf an daß ich Muth
faſſe, ſo kann ich in den Hafen meines Glückes ein-
laufen.

Weiß Sie noch wie ich den Winter durch Schnee
und Regen geſprungen kam, und Sie fragt', wie läufſt

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0063" n="31"/>
Leiden&#x017F;chaft i&#x017F;t ja der einzige Schlü&#x017F;&#x017F;el zur Welt, durch<lb/>
die lernt der Gei&#x017F;t alles kennen und fühlen, wie &#x017F;oll er<lb/>
denn &#x017F;on&#x017F;t in &#x017F;ie hineinkommen? &#x2014; und da fühl' ich<lb/>
daß ich durch die Liebe zu Ihm er&#x017F;t in den Gei&#x017F;t ge-<lb/>
boren bin, daß durch Ihn die Welt &#x017F;ich mir er&#x017F;t auf-<lb/>
&#x017F;chließt, da mir die Sonne &#x017F;cheint, und der Tag &#x017F;ich<lb/>
von der Nacht &#x017F;cheidet. Was ich durch die&#x017F;e Liebe<lb/>
nicht lerne, das werde ich nie begreifen. Ich wollt' ich<lb/>
&#x017F;äß' an &#x017F;einer Thür, ein armes Bettelkind, und nähm'<lb/>
ein Stückchen Brod von ihm, und er erkennte dann an<lb/>
meinem Blick weß Gei&#x017F;tes Kind ich bin, da zög' er mich<lb/>
an &#x017F;ich und hüllte mich in &#x017F;einen Mantel, damit ich<lb/>
warm würde. Gewiß, er hieß mich nicht wieder gehen,<lb/>
ich dürfte fort und fort im Hau&#x017F;' herumwandeln, und<lb/>
&#x017F;o vergingen die Jahre und keiner wüßte wer ich wäre,<lb/>
und niemand wüßte wo ich hingekommen wär', und &#x017F;o<lb/>
vergingen die Jahre und das Leben, und in &#x017F;einem<lb/>
Antlitz &#x017F;piegelte &#x017F;ich mir die ganze Welt, ich brauchte<lb/>
nichts Andres mehr zu lernen. Warum thu' ich's denn<lb/>
nicht? &#x2014; es kommt ja nur drauf an daß ich Muth<lb/>
fa&#x017F;&#x017F;e, &#x017F;o kann ich in den Hafen meines Glückes ein-<lb/>
laufen.</p><lb/>
          <p>Weiß Sie noch wie ich den Winter durch Schnee<lb/>
und Regen ge&#x017F;prungen kam, und Sie fragt', wie läuf&#x017F;t<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[31/0063] Leidenſchaft iſt ja der einzige Schlüſſel zur Welt, durch die lernt der Geiſt alles kennen und fühlen, wie ſoll er denn ſonſt in ſie hineinkommen? — und da fühl' ich daß ich durch die Liebe zu Ihm erſt in den Geiſt ge- boren bin, daß durch Ihn die Welt ſich mir erſt auf- ſchließt, da mir die Sonne ſcheint, und der Tag ſich von der Nacht ſcheidet. Was ich durch dieſe Liebe nicht lerne, das werde ich nie begreifen. Ich wollt' ich ſäß' an ſeiner Thür, ein armes Bettelkind, und nähm' ein Stückchen Brod von ihm, und er erkennte dann an meinem Blick weß Geiſtes Kind ich bin, da zög' er mich an ſich und hüllte mich in ſeinen Mantel, damit ich warm würde. Gewiß, er hieß mich nicht wieder gehen, ich dürfte fort und fort im Hauſ' herumwandeln, und ſo vergingen die Jahre und keiner wüßte wer ich wäre, und niemand wüßte wo ich hingekommen wär', und ſo vergingen die Jahre und das Leben, und in ſeinem Antlitz ſpiegelte ſich mir die ganze Welt, ich brauchte nichts Andres mehr zu lernen. Warum thu' ich's denn nicht? — es kommt ja nur drauf an daß ich Muth faſſe, ſo kann ich in den Hafen meines Glückes ein- laufen. Weiß Sie noch wie ich den Winter durch Schnee und Regen geſprungen kam, und Sie fragt', wie läufſt

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/arnimb_goethe01_1835
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/arnimb_goethe01_1835/63
Zitationshilfe: Arnim, Bettina von: Goethe's Briefwechsel mit einem Kinde. Bd. 1. Berlin, 1835, S. 31. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/arnimb_goethe01_1835/63>, abgerufen am 24.11.2024.