nen Lippen, daß Du mich noch mit offnen Armen em- pfangen wirst.
Erlaube mir, ja fordere es, daß ich dieselbe Luft einathme wie Du, daß ich täglich Dir unter die Augen sehe, daß ich den Blick aufsuche, der mir die Todes- götter bannt.
Goethe, Du bist alles, Du giebst wieder was die Welt, was die traurige Zeit raubt; da Du es nun ver- magst mit gelaßnen Blick reichlich zu spenden, warum soll ich mit Zutrauen nicht begehren? Diese ganze Zeit bin ich nicht mehr in's Freie gekommen, die Gebirgs- ketten, die einzige Aussicht, die man von hier hat, wa- ren oft von den Flammen des Kriegs geröthet, und ich habe nie mehr gewagt meinen Blick dahin zu wenden, wo der Teufel ein Lamm würgt, wo die einzige Frei- heit eines selbstständigen Volkes sich selber entzündet und in sich verlodert. Diese Menschen, die mit kaltem Blut und sicher über ungeheure Klüfte schreiten, die den Schwindel nicht kennen, machen alle andere, die ihnen zusehen, von ihrer Höhe herab schwindlich; es ist ein Volk, das für den Morgen nicht sorgt, dem Gott un- mittelbar grade, wenn die Stunde des Hungers kommt, auch die Nahrung in die Hand giebt; das, wie es den Adlern gleich, auf den höchsten Felsspitzen über den Ne-
nen Lippen, daß Du mich noch mit offnen Armen em- pfangen wirſt.
Erlaube mir, ja fordere es, daß ich dieſelbe Luft einathme wie Du, daß ich täglich Dir unter die Augen ſehe, daß ich den Blick aufſuche, der mir die Todes- götter bannt.
Goethe, Du biſt alles, Du giebſt wieder was die Welt, was die traurige Zeit raubt; da Du es nun ver- magſt mit gelaßnen Blick reichlich zu ſpenden, warum ſoll ich mit Zutrauen nicht begehren? Dieſe ganze Zeit bin ich nicht mehr in's Freie gekommen, die Gebirgs- ketten, die einzige Ausſicht, die man von hier hat, wa- ren oft von den Flammen des Kriegs geröthet, und ich habe nie mehr gewagt meinen Blick dahin zu wenden, wo der Teufel ein Lamm würgt, wo die einzige Frei- heit eines ſelbſtſtändigen Volkes ſich ſelber entzündet und in ſich verlodert. Dieſe Menſchen, die mit kaltem Blut und ſicher über ungeheure Klüfte ſchreiten, die den Schwindel nicht kennen, machen alle andere, die ihnen zuſehen, von ihrer Höhe herab ſchwindlich; es iſt ein Volk, das für den Morgen nicht ſorgt, dem Gott un- mittelbar grade, wenn die Stunde des Hungers kommt, auch die Nahrung in die Hand giebt; das, wie es den Adlern gleich, auf den höchſten Felsſpitzen über den Ne-
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0102"n="92"/>
nen Lippen, daß Du mich noch mit offnen Armen em-<lb/>
pfangen wirſt.</p><lb/><p>Erlaube mir, ja fordere es, daß ich dieſelbe Luft<lb/>
einathme wie Du, daß ich täglich Dir unter die Augen<lb/>ſehe, daß ich den Blick aufſuche, der mir die Todes-<lb/>
götter bannt.</p><lb/><p>Goethe, Du biſt alles, Du giebſt wieder was die<lb/>
Welt, was die traurige Zeit raubt; da Du es nun ver-<lb/>
magſt mit gelaßnen Blick reichlich zu ſpenden, warum<lb/>ſoll <hirendition="#g">ich</hi> mit Zutrauen nicht begehren? Dieſe ganze Zeit<lb/>
bin ich nicht mehr in's Freie gekommen, die Gebirgs-<lb/>
ketten, die einzige Ausſicht, die man von hier hat, wa-<lb/>
ren oft von den Flammen des Kriegs geröthet, und ich<lb/>
habe nie mehr gewagt meinen Blick dahin zu wenden,<lb/>
wo der Teufel ein Lamm würgt, wo die einzige Frei-<lb/>
heit eines ſelbſtſtändigen Volkes ſich ſelber entzündet<lb/>
und in ſich verlodert. Dieſe Menſchen, die mit kaltem<lb/>
Blut und ſicher über ungeheure Klüfte ſchreiten, die den<lb/>
Schwindel nicht kennen, machen alle andere, die ihnen<lb/>
zuſehen, von <hirendition="#g">ihrer</hi> Höhe herab ſchwindlich; es iſt ein<lb/>
Volk, das für den Morgen nicht ſorgt, dem Gott un-<lb/>
mittelbar grade, wenn die Stunde des Hungers kommt,<lb/>
auch die Nahrung in die Hand giebt; das, wie es den<lb/>
Adlern gleich, auf den höchſten Felsſpitzen über den Ne-<lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[92/0102]
nen Lippen, daß Du mich noch mit offnen Armen em-
pfangen wirſt.
Erlaube mir, ja fordere es, daß ich dieſelbe Luft
einathme wie Du, daß ich täglich Dir unter die Augen
ſehe, daß ich den Blick aufſuche, der mir die Todes-
götter bannt.
Goethe, Du biſt alles, Du giebſt wieder was die
Welt, was die traurige Zeit raubt; da Du es nun ver-
magſt mit gelaßnen Blick reichlich zu ſpenden, warum
ſoll ich mit Zutrauen nicht begehren? Dieſe ganze Zeit
bin ich nicht mehr in's Freie gekommen, die Gebirgs-
ketten, die einzige Ausſicht, die man von hier hat, wa-
ren oft von den Flammen des Kriegs geröthet, und ich
habe nie mehr gewagt meinen Blick dahin zu wenden,
wo der Teufel ein Lamm würgt, wo die einzige Frei-
heit eines ſelbſtſtändigen Volkes ſich ſelber entzündet
und in ſich verlodert. Dieſe Menſchen, die mit kaltem
Blut und ſicher über ungeheure Klüfte ſchreiten, die den
Schwindel nicht kennen, machen alle andere, die ihnen
zuſehen, von ihrer Höhe herab ſchwindlich; es iſt ein
Volk, das für den Morgen nicht ſorgt, dem Gott un-
mittelbar grade, wenn die Stunde des Hungers kommt,
auch die Nahrung in die Hand giebt; das, wie es den
Adlern gleich, auf den höchſten Felsſpitzen über den Ne-
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Arnim, Bettina von: Goethe's Briefwechsel mit einem Kinde. Bd. 2. Berlin, 1835, S. 92. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/arnimb_goethe02_1835/102>, abgerufen am 24.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.