da fand ich ihn im dritten Stock; unangemeldet trat ich ein, er saß am Clavier, ich nennte meinen Namen, er war sehr freundlich und fragte: ob ich ein Lied hö- ren wolle was er eben componirt habe? -- dann sang er scharf und schneidend, daß die Wehmuth auf den Hörer zurückwirkte: "Kennst du das Land," -- "nicht wahr, es ist schön," sagte er begeistert, "wunderschön! ich will's noch einmal singen," er freute sich über mei- nen heiteren Beifall. "Die meisten Menschen sind ge- rührt über etwas Gutes, das sind aber keine Künst- lernaturen, Künstler sind feurig, die weinen nicht," sagte er. Dann sang er noch ein Lied von Dir, das er auch in diesen Tagen componirt hatte: "Trocknet nicht Thränen der ewigen Liebe." -- Er beglei- tete mich nach Hause, und unterwegs sprach er eben das viele Schöne über die Kunst, dabei sprach er so laut und blieb auf der Straße stehen, daß Muth dazu ge- hörte zu zuhören, er sprach mit großer Leidenschaft und viel zu überraschend, als daß ich nicht auch der Straße vergessen hätte, man war sehr verwundert ihn mit mir in eine große Gesellschaft, die bei uns zum Diner war, eintreten zu sehen. Nach Tisch setzte er sich unaufge- fordert an's Instrument und spielte lang und wunder- bar, sein Stolz fermentirte zugleich mit seinem Genie;
da fand ich ihn im dritten Stock; unangemeldet trat ich ein, er ſaß am Clavier, ich nennte meinen Namen, er war ſehr freundlich und fragte: ob ich ein Lied hö- ren wolle was er eben componirt habe? — dann ſang er ſcharf und ſchneidend, daß die Wehmuth auf den Hörer zurückwirkte: „Kennſt du das Land,“ — „nicht wahr, es iſt ſchön,“ ſagte er begeiſtert, „wunderſchön! ich will's noch einmal ſingen,“ er freute ſich über mei- nen heiteren Beifall. „Die meiſten Menſchen ſind ge- rührt über etwas Gutes, das ſind aber keine Künſt- lernaturen, Künſtler ſind feurig, die weinen nicht,“ ſagte er. Dann ſang er noch ein Lied von Dir, das er auch in dieſen Tagen componirt hatte: „Trocknet nicht Thränen der ewigen Liebe.“ — Er beglei- tete mich nach Hauſe, und unterwegs ſprach er eben das viele Schöne über die Kunſt, dabei ſprach er ſo laut und blieb auf der Straße ſtehen, daß Muth dazu ge- hörte zu zuhören, er ſprach mit großer Leidenſchaft und viel zu überraſchend, als daß ich nicht auch der Straße vergeſſen hätte, man war ſehr verwundert ihn mit mir in eine große Geſellſchaft, die bei uns zum Diner war, eintreten zu ſehen. Nach Tiſch ſetzte er ſich unaufge- fordert an's Inſtrument und ſpielte lang und wunder- bar, ſein Stolz fermentirte zugleich mit ſeinem Genie;
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da fand ich ihn im dritten Stock; unangemeldet trat
ich ein, er ſaß am Clavier, ich nennte meinen Namen,
er war ſehr freundlich und fragte: ob ich ein Lied hö-
ren wolle was er eben componirt habe? — dann ſang
er ſcharf und ſchneidend, daß die Wehmuth auf den
Hörer zurückwirkte: „Kennſt du das Land,“ — „nicht
wahr, es iſt ſchön,“ ſagte er begeiſtert, „wunderſchön!
ich will's noch einmal ſingen,“ er freute ſich über mei-
nen heiteren Beifall. „Die meiſten Menſchen ſind ge-
rührt über etwas Gutes, das ſind aber keine Künſt-
lernaturen, Künſtler ſind feurig, die weinen nicht,“
ſagte er. Dann ſang er noch ein Lied von Dir, das er
auch in dieſen Tagen componirt hatte: „Trocknet
nicht Thränen der ewigen Liebe.“ — Er beglei-
tete mich nach Hauſe, und unterwegs ſprach er eben das
viele Schöne über die Kunſt, dabei ſprach er ſo laut
und blieb auf der Straße ſtehen, daß Muth dazu ge-
hörte zu zuhören, er ſprach mit großer Leidenſchaft und
viel zu überraſchend, als daß ich nicht auch der Straße
vergeſſen hätte, man war ſehr verwundert ihn mit mir
in eine große Geſellſchaft, die bei uns zum Diner war,
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Arnim, Bettina von: Goethe's Briefwechsel mit einem Kinde. Bd. 2. Berlin, 1835, S. 194. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/arnimb_goethe02_1835/204>, abgerufen am 22.11.2024.
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