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Arnim, Bettina von: Goethe's Briefwechsel mit einem Kinde. Bd. 2. Berlin, 1835.

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er es anzuwenden so wird er losgesprochen; dies ist die
Schule durch welche die Kunst sich fortpflanzt. Ein so
Losgesprochner ist Einer dem alle Irrwege zwar offen
stehn aber nicht der rechte. Aus der langgewohnten
Herberge in die die Lehre der Erfahrung ihn eingepfergt
hatte, entlassen, ist die Wüste des Irrthums seine Welt,
aus der er nicht heraus zu treten vermag, jeder Weg
den er ergreift ist ein einseitiger Pfad des Irrthums,
des göttlichen Geistes baar, durch Vorurtheile verlei-
tet, sucht er seine Kunstgriffe in Anwendung zu brin-
gen, hat er sie alle an seinem Gegenstand durchge-
setzt, so hat er ein Kunstwerk hervorgebracht. Mehr
hat noch nie das Bestreben eines durch die Kunstschule
gebildeten Künstlers erworben. Wer je zu etwas ge-
kommen ist in der Kunst, der hat seiner Kunstgriffe ver-
gessen, dessen Fracht von Erfahrungen hat Schiffbruch
gelitten und die Verzweiflung hat ihn am rechten Ufer
landen lassen. Was aus solcher gewaltsamen Epoche
hervorgeht, ist zwar oft ergreifend aber nicht überzeugend,
weil der Maasstab des Urtheils und des Begriffs immer
nur jene Erfahrungen und Kunstgriffe sind die nicht passen,
wo das Erzeugniß nicht durch sie vermittelt ist; dann auch:
weil das Vorurtheil der errungnen Meisterschaft, nicht
zuläßt daß etwas sei was nicht in ihm begriffen ist;

er es anzuwenden ſo wird er losgeſprochen; dies iſt die
Schule durch welche die Kunſt ſich fortpflanzt. Ein ſo
Losgeſprochner iſt Einer dem alle Irrwege zwar offen
ſtehn aber nicht der rechte. Aus der langgewohnten
Herberge in die die Lehre der Erfahrung ihn eingepfergt
hatte, entlaſſen, iſt die Wüſte des Irrthums ſeine Welt,
aus der er nicht heraus zu treten vermag, jeder Weg
den er ergreift iſt ein einſeitiger Pfad des Irrthums,
des göttlichen Geiſtes baar, durch Vorurtheile verlei-
tet, ſucht er ſeine Kunſtgriffe in Anwendung zu brin-
gen, hat er ſie alle an ſeinem Gegenſtand durchge-
ſetzt, ſo hat er ein Kunſtwerk hervorgebracht. Mehr
hat noch nie das Beſtreben eines durch die Kunſtſchule
gebildeten Künſtlers erworben. Wer je zu etwas ge-
kommen iſt in der Kunſt, der hat ſeiner Kunſtgriffe ver-
geſſen, deſſen Fracht von Erfahrungen hat Schiffbruch
gelitten und die Verzweiflung hat ihn am rechten Ufer
landen laſſen. Was aus ſolcher gewaltſamen Epoche
hervorgeht, iſt zwar oft ergreifend aber nicht überzeugend,
weil der Maasſtab des Urtheils und des Begriffs immer
nur jene Erfahrungen und Kunſtgriffe ſind die nicht paſſen,
wo das Erzeugniß nicht durch ſie vermittelt iſt; dann auch:
weil das Vorurtheil der errungnen Meiſterſchaft, nicht
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[294/0304] er es anzuwenden ſo wird er losgeſprochen; dies iſt die Schule durch welche die Kunſt ſich fortpflanzt. Ein ſo Losgeſprochner iſt Einer dem alle Irrwege zwar offen ſtehn aber nicht der rechte. Aus der langgewohnten Herberge in die die Lehre der Erfahrung ihn eingepfergt hatte, entlaſſen, iſt die Wüſte des Irrthums ſeine Welt, aus der er nicht heraus zu treten vermag, jeder Weg den er ergreift iſt ein einſeitiger Pfad des Irrthums, des göttlichen Geiſtes baar, durch Vorurtheile verlei- tet, ſucht er ſeine Kunſtgriffe in Anwendung zu brin- gen, hat er ſie alle an ſeinem Gegenſtand durchge- ſetzt, ſo hat er ein Kunſtwerk hervorgebracht. Mehr hat noch nie das Beſtreben eines durch die Kunſtſchule gebildeten Künſtlers erworben. Wer je zu etwas ge- kommen iſt in der Kunſt, der hat ſeiner Kunſtgriffe ver- geſſen, deſſen Fracht von Erfahrungen hat Schiffbruch gelitten und die Verzweiflung hat ihn am rechten Ufer landen laſſen. Was aus ſolcher gewaltſamen Epoche hervorgeht, iſt zwar oft ergreifend aber nicht überzeugend, weil der Maasſtab des Urtheils und des Begriffs immer nur jene Erfahrungen und Kunſtgriffe ſind die nicht paſſen, wo das Erzeugniß nicht durch ſie vermittelt iſt; dann auch: weil das Vorurtheil der errungnen Meiſterſchaft, nicht zuläßt daß etwas ſei was nicht in ihm begriffen iſt;

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Zitationshilfe: Arnim, Bettina von: Goethe's Briefwechsel mit einem Kinde. Bd. 2. Berlin, 1835, S. 294. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/arnimb_goethe02_1835/304>, abgerufen am 21.11.2024.