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[Arnim, Bettina von]: Tagebuch. Berlin, 1835.

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Ahndungen sind Regungen die Flügel des Geistes
höher zu heben; Sehnsucht ist ein Beweis, daß der Geist
eine höhere Seeligkeit sucht; Geist ist nicht allein Fas-
sungsgabe, sondern auch Gefühl und Insti[n]kt des Höhe-
ren, aus dem er seine Erscheinung, den Gedanken ent-
wickelt; der Gedanke aber ist nicht das Wesentliche,
wir könnten seiner entbehren, wenn er nicht für die
Seele der Spiegel wär', in dem sie ihre Geistigkeit
erkennt.


Der verschlossne Saame und die Blüthe, die aus
ihm erwächst, sind einander nicht vergleichbar, und doch
ist sein erstes Keimen die Ahndung dieser Blüthe, und
so wächst und gedeiht er fort mit gesteigerter Zuversicht,
bis Blüthe und Frucht seinen ersten Instinkt bewährt,
der, wenn er verloren gehen könnte, keine Blüthe und
Früchte tragen würde.


Und wenn ich's auch in's Buch schreibe, daß ich
heute traurig bin, kann mich's trösten? wie öde sind


Ahndungen ſind Regungen die Flügel des Geiſtes
höher zu heben; Sehnſucht iſt ein Beweis, daß der Geiſt
eine höhere Seeligkeit ſucht; Geiſt iſt nicht allein Faſ-
ſungsgabe, ſondern auch Gefühl und Inſti[n]kt des Höhe-
ren, aus dem er ſeine Erſcheinung, den Gedanken ent-
wickelt; der Gedanke aber iſt nicht das Weſentliche,
wir könnten ſeiner entbehren, wenn er nicht für die
Seele der Spiegel wär', in dem ſie ihre Geiſtigkeit
erkennt.


Der verſchloſſne Saame und die Blüthe, die aus
ihm erwächſt, ſind einander nicht vergleichbar, und doch
iſt ſein erſtes Keimen die Ahndung dieſer Blüthe, und
ſo wächſt und gedeiht er fort mit geſteigerter Zuverſicht,
bis Blüthe und Frucht ſeinen erſten Inſtinkt bewährt,
der, wenn er verloren gehen könnte, keine Blüthe und
Früchte tragen würde.


Und wenn ich's auch in's Buch ſchreibe, daß ich
heute traurig bin, kann mich's tröſten? wie öde ſind

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[55/0065] Ahndungen ſind Regungen die Flügel des Geiſtes höher zu heben; Sehnſucht iſt ein Beweis, daß der Geiſt eine höhere Seeligkeit ſucht; Geiſt iſt nicht allein Faſ- ſungsgabe, ſondern auch Gefühl und Inſtinkt des Höhe- ren, aus dem er ſeine Erſcheinung, den Gedanken ent- wickelt; der Gedanke aber iſt nicht das Weſentliche, wir könnten ſeiner entbehren, wenn er nicht für die Seele der Spiegel wär', in dem ſie ihre Geiſtigkeit erkennt. Der verſchloſſne Saame und die Blüthe, die aus ihm erwächſt, ſind einander nicht vergleichbar, und doch iſt ſein erſtes Keimen die Ahndung dieſer Blüthe, und ſo wächſt und gedeiht er fort mit geſteigerter Zuverſicht, bis Blüthe und Frucht ſeinen erſten Inſtinkt bewährt, der, wenn er verloren gehen könnte, keine Blüthe und Früchte tragen würde. Und wenn ich's auch in's Buch ſchreibe, daß ich heute traurig bin, kann mich's tröſten? wie öde ſind

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Zitationshilfe: [Arnim, Bettina von]: Tagebuch. Berlin, 1835, S. 55. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/arnimb_goethe03_1835/65>, abgerufen am 21.11.2024.