Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Arnim, Bettina von: Die Günderode. Bd. 2. Grünberg u. a., 1840.

Bild:
<< vorherige Seite

geboren wird. -- Auch wie das Meer Ebbe und Fluth
hat, so scheinen mir die Zeiten zu haben. Wir sind in
der Zeit der Ebbe jetzt, wo es gleichgültig ist wer sich
geltend mache, weil es ja doch nicht an der Zeit ist
daß das Meer des Geistes aufwalle, das Menschenge¬
schlecht senkt den Athem und was auch Bedeutendes in
der Geschichte vorfalle, es ist nur Vorbereiten, Gefühl
wecken, Kräfte üben und sammeln, eine höhere Potenz
des Geistes zu erfassen. Geist steigert die Welt, durch
ihn allein lebt das wirkliche Leben, und durch ihn allein
reiht sich Moment an Moment, alles andre ist verflüch¬
tigender Schatten, jeder Mensch der einen Moment in
der Zeit wahr macht ist ein großer Mensch, und so ge¬
waltig auch manche Erscheinungen in der Zeit sind, so
kann ich sie nicht zu den Wirklichkeiten rechnen, weil
keine tiefere Erkenntniß, kein reiner Wille den eignen
Geist zu steigern sie treibt, sondern der Leidenschaft
ganz gemeine Motive. Napoleon zum Beispiel. -- Doch
sind solche nicht ohne Nutzen fürs menschliche Vermögen
des Geistes. Vorurtheile müssen ganz gesättigt, ja gleich¬
sam übersättigt werden eh sie vom Geist der Zeit ab¬
lassen. Nun! welche Vorurtheile mag wohl dieser Aller
Held, schon erschüttert haben? -- und welche wird er
nicht noch bis zum Ekel sättigen? wie manches werden

geboren wird. — Auch wie das Meer Ebbe und Fluth
hat, ſo ſcheinen mir die Zeiten zu haben. Wir ſind in
der Zeit der Ebbe jetzt, wo es gleichgültig iſt wer ſich
geltend mache, weil es ja doch nicht an der Zeit iſt
daß das Meer des Geiſtes aufwalle, das Menſchenge¬
ſchlecht ſenkt den Athem und was auch Bedeutendes in
der Geſchichte vorfalle, es iſt nur Vorbereiten, Gefühl
wecken, Kräfte üben und ſammeln, eine höhere Potenz
des Geiſtes zu erfaſſen. Geiſt ſteigert die Welt, durch
ihn allein lebt das wirkliche Leben, und durch ihn allein
reiht ſich Moment an Moment, alles andre iſt verflüch¬
tigender Schatten, jeder Menſch der einen Moment in
der Zeit wahr macht iſt ein großer Menſch, und ſo ge¬
waltig auch manche Erſcheinungen in der Zeit ſind, ſo
kann ich ſie nicht zu den Wirklichkeiten rechnen, weil
keine tiefere Erkenntniß, kein reiner Wille den eignen
Geiſt zu ſteigern ſie treibt, ſondern der Leidenſchaft
ganz gemeine Motive. Napoleon zum Beiſpiel. — Doch
ſind ſolche nicht ohne Nutzen fürs menſchliche Vermögen
des Geiſtes. Vorurtheile müſſen ganz geſättigt, ja gleich¬
ſam überſättigt werden eh ſie vom Geiſt der Zeit ab¬
laſſen. Nun! welche Vorurtheile mag wohl dieſer Aller
Held, ſchon erſchüttert haben? — und welche wird er
nicht noch bis zum Ekel ſättigen? wie manches werden

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0291" n="277"/>
geboren wird. &#x2014; Auch wie das Meer Ebbe und Fluth<lb/>
hat, &#x017F;o &#x017F;cheinen mir die Zeiten zu haben. Wir &#x017F;ind in<lb/>
der Zeit der Ebbe jetzt, wo es gleichgültig i&#x017F;t wer &#x017F;ich<lb/>
geltend mache, weil es ja doch nicht an der Zeit i&#x017F;t<lb/>
daß das Meer des Gei&#x017F;tes aufwalle, das Men&#x017F;chenge¬<lb/>
&#x017F;chlecht &#x017F;enkt den Athem und was auch Bedeutendes in<lb/>
der Ge&#x017F;chichte vorfalle, es i&#x017F;t nur Vorbereiten, Gefühl<lb/>
wecken, Kräfte üben und &#x017F;ammeln, eine höhere Potenz<lb/>
des Gei&#x017F;tes zu erfa&#x017F;&#x017F;en. Gei&#x017F;t &#x017F;teigert die Welt, durch<lb/>
ihn allein lebt das wirkliche Leben, und durch ihn allein<lb/>
reiht &#x017F;ich Moment an Moment, alles andre i&#x017F;t verflüch¬<lb/>
tigender Schatten, jeder Men&#x017F;ch der einen Moment in<lb/>
der Zeit wahr macht i&#x017F;t ein großer Men&#x017F;ch, und &#x017F;o ge¬<lb/>
waltig auch manche Er&#x017F;cheinungen in der Zeit &#x017F;ind, &#x017F;o<lb/>
kann ich &#x017F;ie nicht zu den Wirklichkeiten rechnen, weil<lb/>
keine tiefere Erkenntniß, kein reiner Wille den eignen<lb/>
Gei&#x017F;t zu &#x017F;teigern &#x017F;ie treibt, &#x017F;ondern der Leiden&#x017F;chaft<lb/>
ganz gemeine Motive. Napoleon zum Bei&#x017F;piel. &#x2014; Doch<lb/>
&#x017F;ind &#x017F;olche nicht ohne Nutzen fürs men&#x017F;chliche Vermögen<lb/>
des Gei&#x017F;tes. Vorurtheile mü&#x017F;&#x017F;en ganz ge&#x017F;ättigt, ja gleich¬<lb/>
&#x017F;am über&#x017F;ättigt werden eh &#x017F;ie vom Gei&#x017F;t der Zeit ab¬<lb/>
la&#x017F;&#x017F;en. Nun! welche Vorurtheile mag wohl die&#x017F;er Aller<lb/>
Held, &#x017F;chon er&#x017F;chüttert haben? &#x2014; und welche wird er<lb/>
nicht noch bis zum Ekel &#x017F;ättigen? wie manches werden<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[277/0291] geboren wird. — Auch wie das Meer Ebbe und Fluth hat, ſo ſcheinen mir die Zeiten zu haben. Wir ſind in der Zeit der Ebbe jetzt, wo es gleichgültig iſt wer ſich geltend mache, weil es ja doch nicht an der Zeit iſt daß das Meer des Geiſtes aufwalle, das Menſchenge¬ ſchlecht ſenkt den Athem und was auch Bedeutendes in der Geſchichte vorfalle, es iſt nur Vorbereiten, Gefühl wecken, Kräfte üben und ſammeln, eine höhere Potenz des Geiſtes zu erfaſſen. Geiſt ſteigert die Welt, durch ihn allein lebt das wirkliche Leben, und durch ihn allein reiht ſich Moment an Moment, alles andre iſt verflüch¬ tigender Schatten, jeder Menſch der einen Moment in der Zeit wahr macht iſt ein großer Menſch, und ſo ge¬ waltig auch manche Erſcheinungen in der Zeit ſind, ſo kann ich ſie nicht zu den Wirklichkeiten rechnen, weil keine tiefere Erkenntniß, kein reiner Wille den eignen Geiſt zu ſteigern ſie treibt, ſondern der Leidenſchaft ganz gemeine Motive. Napoleon zum Beiſpiel. — Doch ſind ſolche nicht ohne Nutzen fürs menſchliche Vermögen des Geiſtes. Vorurtheile müſſen ganz geſättigt, ja gleich¬ ſam überſättigt werden eh ſie vom Geiſt der Zeit ab¬ laſſen. Nun! welche Vorurtheile mag wohl dieſer Aller Held, ſchon erſchüttert haben? — und welche wird er nicht noch bis zum Ekel ſättigen? wie manches werden

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/arnimb_guenderode02_1840
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/arnimb_guenderode02_1840/291
Zitationshilfe: Arnim, Bettina von: Die Günderode. Bd. 2. Grünberg u. a., 1840, S. 277. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/arnimb_guenderode02_1840/291>, abgerufen am 23.11.2024.