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Allgemeine Zeitung. Nr. 1. Augsburg, 1. Januar 1840.

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stolz seyn auf einen Münnich, Ostermann, Katharina II. Dagegen ist die materielle Basis die breiteste, das Volk kräftig, ergeben, religiös-unterwürfig, die Regierung ist vollkommen autokratisch gegliedert, die auswärtige Politik rastlos thätig. Es scheint natürlicher Alliirter der Grundsätze der Legitimität und des göttlichen Rechts; aber die Regierungen können sich aus Furcht, ihre Selbstständigkeit zu verlieren, nur halb anschließen, und kein Volk fühlt Sympathie für diese Macht. Die Absperrung der Gränze vermehrt den Widerwillen. Rußland hat nur in Asien allein, in Europa nur mittelst Verbindungen erobert. Der Sund und die Dardanellen bieten eine interessante Parallele. Dort ist England exportirend und offensiv, hier importirend und defensiv. Noch ist der Augenblick einer Verbündung mit Frankreich für Rußland nicht gekommen, daher wartet es ab, gibt nach und unterhandelt.

Frankreich (vierter Abschnitt) zieht seine Hauptstärke aus seiner Nationalität und der Centralisation in Paris, welche aber auch wie eine Herzerweiterung auf die Pulsationen wirkt. Wenn es seinen Liberalismus nicht selbst in Verruf brächte, und nicht stets das linke Rheinufer mit einer Beharrlichkeit anspräche, welche Deutschland für Elsaß und Lothringen besser anstände, so könnte es die bedeutende Rolle schnell wieder aufnehmen, zu welcher Lage, Kräfte und Kriegslust des Volks es berufen.

(Fortsetzung folgt.)

Amerika.*)

Je weiter man in der Kenntniß Amerika's fortschreitet, desto mehr findet man, daß einst das ganze Land eine andere Gestalt und andere Bewohner hatte. Die wenigen Bemerkungen, welche wir jetzt schon aus Darwins Forschungen kennen, geben uns einen annähernden Begriff von den unermeßlichen Revolutionen, welche einst in den Cordilleren vor sich gingen; das ganze ungeheure Ländergebiet zwischen den Cordilleren und dem atlantischen Ocean muß in einer vergleichungsweise neueren Epoche, nachdem es zuvor über dem Meeresniveau stand, wieder unter dasselbe versenkt worden seyen -- eine Umwälzung, worin seine zahlreichen und merkwürdigen Thiergeschlechter untergingen. Welche Katastrophe hat aber Nordamerika betroffen? wo sind die zahlreichen Bewohner hingekommen, welche einst das Thal des Mississippi und der darein mündenden Flüsse bewohnt haben müssen? Mancher ist wahrscheinlich schnell fertig mit der Antwort: sie seyen im Laufe der letzten drei Jahrhunderte von den Europäern nach und nach ausgetilgt worden; aber dieß ist gänzlich unrichtig, denn die Thäler des Mississippi und seiner Nebenflüsse sind erst seit dem Anfange dieses Jahrhunderts in größerem Umfange betreten worden, die erwähnten Alterthümer aber weisen auf eine zahlreiche Bevölkerung zurück, welche vor mehr als tausend Jahren daselbst wohnte, und von denen die jetzige indianische Bevölkerung auch nicht eine Sage hat. Mit Einem Wort, das alte Amerika mit seiner untergegangenen Thier- und Menschenwelt ist uns noch ein Buch mit sieben Siegeln, und lange werden die Forscher, Ameisen gleich, die näheren Data zusammensuchen müssen, ehe wir einigermaßen darüber zu einer klaren Ansicht werden kommen können. Daß Südamerika die neuesten und furchtbarsten Umwälzungen erlitten hat, ist kein Zweifel, und beachtungswerth ist der wohl nicht allein dem Klima zuzuschreibende Umstand, wie scharf, schon in älterer, wie wiederum in neuerer Zeit, der Cordilleren-Bewohner sich von den Bewohnern der Ebenen scheidet. Wir haben in einer kürzlichen Mittheilung bemerkt, daß das Reich der Incas und Lipas sich im Wesentlichen streng auf die Cordillerenkette beschränkt, die politische Macht der Incas sich allerdings auch auf einige Niederungen, namentlich auf die Westküste, hin ausgedehnt habe, daß aber jetzt, wo keine politischen Verhältnisse dieser Art mehr einwirken, der Quichua-Indianer in der Regel die Berge nicht verläßt. Auch kann es nicht fehlen, daß, da die Zahl der Spanier, selbst im Gebirge, keineswegs zu-, sondern eher abnimmt, im Lauf einiger Jahrhunderte der Quichuastamm in den Anden entschieden wieder vorherrschen wird, vielleicht in einer nominellen Abhängigkeit von dieser oder jener halbeuropäischen Hauptstadt, aber im Wesentlichen durchaus frei und ungefesselt.

Dieß führt uns auf die alte, stets wiederholte Bemerkung, daß Amerika noch immer mit der Bildung seiner Racen und Stämme beschäftigt ist, und nach der furchtbaren Erschütterung, welche die Eroberung durch die Europäer und die Einfuhr der Neger veranlaßt hat, sich wieder neu zu gestalten beginnt. Die Symptome dieser fortschreitenden Racenbildung sind nicht leicht zusammenzustellen, und man muß sich gewissermaßen an Aeußerlichkeiten als an die Repräsentanten des innern Zustandes halten. In der Ebene von Venezuela hat die aus Negern, Indianern und Europäern gemischte gelbe Race sich schon ziemlich constituirt, dasselbe ist bekanntlich auch im Innern der argentinischen Republik der Fall, wo zwar die weiße Race vorherrscht, doch immer mit starker Beimischung von Neger- und Indianerblut. In Paraguay scheint der Guarani-Stamm zu überwiegen, wie im Nordwesten der Quichua-Indianer, denn das Spanische verschwindet mehr und mehr, und die Häuser, selbst in der Hauptstadt, lassen sich zählen, wo die Frauen ein auch nur erträgliches Spanisch sprechen; das Guarani wird sich hier ohne allen Zweifel zur herrschenden Sprache erheben - eine Erscheinung, welche man, wie es scheint, einzig dem Bekehrungs- und Regierungssystem der Jesuiten und dem Isolirungssystem Francia's dankt, ohne welche die Guaranis während der Revolution vermuthlich ganz vernichtet worden wären. Was weiter im Norden im Innern Brasiliens vor sich geht, davon wissen wir so gut wie nichts, obgleich die fortdauernden Nachrichten von Eroberung und Plünderung einzelner Städte in den nördlichen Provinzen Brasiliens, also zunächst an der Linie, den Beweis liefern, daß dort nicht bloß weiße Herren und schwarze Sklaven den Boden bebauen: es scheint namentlich im Gebiete des Tocantinflusses ein Gemenge von Negern, Mulatten und Indianern zu hausen, welche da und dort in die Städte einbrechen, aber ohne einen andern Zweck als zu plündern, weßhalb, wenn endlich die Truppen der Regierung anlangen, diese immer wieder mit großer Tapferkeit die Städte erobern, besonders wenn die rohen Räuberschaaren sie schon geräumt haben. Gegen die noch immer im Aufstand befindlichen Bewohner von Rio Grande do Sul, welche meist weißer Abkunft sind, fallen freilich die Lorbeeren sehr mager aus, so nahe auch diese Provinz der Hauptstadt liegt. Alles dieses bietet nur weitere Symptome der Auflösung des so pomphaft angekündigten brasilianischen Kaiserreichs dar. Es ist auffallend, daß man in Zeitschriften so gar wenig über Brasilien findet; daß die brasilianische Litteratur selbst im höchsten Grad unbedeutend ist, das darf freilich Niemand sehr Wunder nehmen: in der Nähe der Linie sind die Geistesproductionen von jeher weder an Umfang, noch an Tiefe von Bedeutung gewesen, und die Denksprüche des Marquis v. Marica, die in der eben citirten Mittheilung geschildert sind, darf man eher als ein europäisches Erzeugniß betrachten. Aber eine leichte, tändelnde Poesie sollte man wenigstens erwarten,

*) Aus den beachtungswerthen "Rückblicken", mit denen das Ausland am Schlusse des Jahres eine Uebersicht der Ereignisse und der darüber gelieferten Betrachtungen gibt.


stolz seyn auf einen Münnich, Ostermann, Katharina II. Dagegen ist die materielle Basis die breiteste, das Volk kräftig, ergeben, religiös-unterwürfig, die Regierung ist vollkommen autokratisch gegliedert, die auswärtige Politik rastlos thätig. Es scheint natürlicher Alliirter der Grundsätze der Legitimität und des göttlichen Rechts; aber die Regierungen können sich aus Furcht, ihre Selbstständigkeit zu verlieren, nur halb anschließen, und kein Volk fühlt Sympathie für diese Macht. Die Absperrung der Gränze vermehrt den Widerwillen. Rußland hat nur in Asien allein, in Europa nur mittelst Verbindungen erobert. Der Sund und die Dardanellen bieten eine interessante Parallele. Dort ist England exportirend und offensiv, hier importirend und defensiv. Noch ist der Augenblick einer Verbündung mit Frankreich für Rußland nicht gekommen, daher wartet es ab, gibt nach und unterhandelt.

Frankreich (vierter Abschnitt) zieht seine Hauptstärke aus seiner Nationalität und der Centralisation in Paris, welche aber auch wie eine Herzerweiterung auf die Pulsationen wirkt. Wenn es seinen Liberalismus nicht selbst in Verruf brächte, und nicht stets das linke Rheinufer mit einer Beharrlichkeit anspräche, welche Deutschland für Elsaß und Lothringen besser anstände, so könnte es die bedeutende Rolle schnell wieder aufnehmen, zu welcher Lage, Kräfte und Kriegslust des Volks es berufen.

(Fortsetzung folgt.)

Amerika.*)

Je weiter man in der Kenntniß Amerika's fortschreitet, desto mehr findet man, daß einst das ganze Land eine andere Gestalt und andere Bewohner hatte. Die wenigen Bemerkungen, welche wir jetzt schon aus Darwins Forschungen kennen, geben uns einen annähernden Begriff von den unermeßlichen Revolutionen, welche einst in den Cordilleren vor sich gingen; das ganze ungeheure Ländergebiet zwischen den Cordilleren und dem atlantischen Ocean muß in einer vergleichungsweise neueren Epoche, nachdem es zuvor über dem Meeresniveau stand, wieder unter dasselbe versenkt worden seyen — eine Umwälzung, worin seine zahlreichen und merkwürdigen Thiergeschlechter untergingen. Welche Katastrophe hat aber Nordamerika betroffen? wo sind die zahlreichen Bewohner hingekommen, welche einst das Thal des Mississippi und der darein mündenden Flüsse bewohnt haben müssen? Mancher ist wahrscheinlich schnell fertig mit der Antwort: sie seyen im Laufe der letzten drei Jahrhunderte von den Europäern nach und nach ausgetilgt worden; aber dieß ist gänzlich unrichtig, denn die Thäler des Mississippi und seiner Nebenflüsse sind erst seit dem Anfange dieses Jahrhunderts in größerem Umfange betreten worden, die erwähnten Alterthümer aber weisen auf eine zahlreiche Bevölkerung zurück, welche vor mehr als tausend Jahren daselbst wohnte, und von denen die jetzige indianische Bevölkerung auch nicht eine Sage hat. Mit Einem Wort, das alte Amerika mit seiner untergegangenen Thier- und Menschenwelt ist uns noch ein Buch mit sieben Siegeln, und lange werden die Forscher, Ameisen gleich, die näheren Data zusammensuchen müssen, ehe wir einigermaßen darüber zu einer klaren Ansicht werden kommen können. Daß Südamerika die neuesten und furchtbarsten Umwälzungen erlitten hat, ist kein Zweifel, und beachtungswerth ist der wohl nicht allein dem Klima zuzuschreibende Umstand, wie scharf, schon in älterer, wie wiederum in neuerer Zeit, der Cordilleren-Bewohner sich von den Bewohnern der Ebenen scheidet. Wir haben in einer kürzlichen Mittheilung bemerkt, daß das Reich der Incas und Lipas sich im Wesentlichen streng auf die Cordillerenkette beschränkt, die politische Macht der Incas sich allerdings auch auf einige Niederungen, namentlich auf die Westküste, hin ausgedehnt habe, daß aber jetzt, wo keine politischen Verhältnisse dieser Art mehr einwirken, der Quichua-Indianer in der Regel die Berge nicht verläßt. Auch kann es nicht fehlen, daß, da die Zahl der Spanier, selbst im Gebirge, keineswegs zu-, sondern eher abnimmt, im Lauf einiger Jahrhunderte der Quichuastamm in den Anden entschieden wieder vorherrschen wird, vielleicht in einer nominellen Abhängigkeit von dieser oder jener halbeuropäischen Hauptstadt, aber im Wesentlichen durchaus frei und ungefesselt.

Dieß führt uns auf die alte, stets wiederholte Bemerkung, daß Amerika noch immer mit der Bildung seiner Racen und Stämme beschäftigt ist, und nach der furchtbaren Erschütterung, welche die Eroberung durch die Europäer und die Einfuhr der Neger veranlaßt hat, sich wieder neu zu gestalten beginnt. Die Symptome dieser fortschreitenden Racenbildung sind nicht leicht zusammenzustellen, und man muß sich gewissermaßen an Aeußerlichkeiten als an die Repräsentanten des innern Zustandes halten. In der Ebene von Venezuela hat die aus Negern, Indianern und Europäern gemischte gelbe Race sich schon ziemlich constituirt, dasselbe ist bekanntlich auch im Innern der argentinischen Republik der Fall, wo zwar die weiße Race vorherrscht, doch immer mit starker Beimischung von Neger- und Indianerblut. In Paraguay scheint der Guarani-Stamm zu überwiegen, wie im Nordwesten der Quichua-Indianer, denn das Spanische verschwindet mehr und mehr, und die Häuser, selbst in der Hauptstadt, lassen sich zählen, wo die Frauen ein auch nur erträgliches Spanisch sprechen; das Guarani wird sich hier ohne allen Zweifel zur herrschenden Sprache erheben – eine Erscheinung, welche man, wie es scheint, einzig dem Bekehrungs- und Regierungssystem der Jesuiten und dem Isolirungssystem Francia's dankt, ohne welche die Guaranis während der Revolution vermuthlich ganz vernichtet worden wären. Was weiter im Norden im Innern Brasiliens vor sich geht, davon wissen wir so gut wie nichts, obgleich die fortdauernden Nachrichten von Eroberung und Plünderung einzelner Städte in den nördlichen Provinzen Brasiliens, also zunächst an der Linie, den Beweis liefern, daß dort nicht bloß weiße Herren und schwarze Sklaven den Boden bebauen: es scheint namentlich im Gebiete des Tocantinflusses ein Gemenge von Negern, Mulatten und Indianern zu hausen, welche da und dort in die Städte einbrechen, aber ohne einen andern Zweck als zu plündern, weßhalb, wenn endlich die Truppen der Regierung anlangen, diese immer wieder mit großer Tapferkeit die Städte erobern, besonders wenn die rohen Räuberschaaren sie schon geräumt haben. Gegen die noch immer im Aufstand befindlichen Bewohner von Rio Grande do Sul, welche meist weißer Abkunft sind, fallen freilich die Lorbeeren sehr mager aus, so nahe auch diese Provinz der Hauptstadt liegt. Alles dieses bietet nur weitere Symptome der Auflösung des so pomphaft angekündigten brasilianischen Kaiserreichs dar. Es ist auffallend, daß man in Zeitschriften so gar wenig über Brasilien findet; daß die brasilianische Litteratur selbst im höchsten Grad unbedeutend ist, das darf freilich Niemand sehr Wunder nehmen: in der Nähe der Linie sind die Geistesproductionen von jeher weder an Umfang, noch an Tiefe von Bedeutung gewesen, und die Denksprüche des Marquis v. Maricà, die in der eben citirten Mittheilung geschildert sind, darf man eher als ein europäisches Erzeugniß betrachten. Aber eine leichte, tändelnde Poesie sollte man wenigstens erwarten,

*) Aus den beachtungswerthen „Rückblicken“, mit denen das Ausland am Schlusse des Jahres eine Uebersicht der Ereignisse und der darüber gelieferten Betrachtungen gibt.
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Frankreich (vierter Abschnitt) zieht seine Hauptstärke aus seiner Nationalität und der Centralisation in Paris, welche aber auch wie eine Herzerweiterung auf die Pulsationen wirkt. Wenn es seinen Liberalismus nicht selbst in Verruf brächte, und nicht stets das linke Rheinufer mit einer Beharrlichkeit anspräche, welche Deutschland für Elsaß und Lothringen besser anstände, so könnte es die bedeutende Rolle schnell wieder aufnehmen, zu welcher Lage, Kräfte und Kriegslust des Volks es berufen. (Fortsetzung folgt.) Amerika. *) Je weiter man in der Kenntniß Amerika's fortschreitet, desto mehr findet man, daß einst das ganze Land eine andere Gestalt und andere Bewohner hatte. Die wenigen Bemerkungen, welche wir jetzt schon aus Darwins Forschungen kennen, geben uns einen annähernden Begriff von den unermeßlichen Revolutionen, welche einst in den Cordilleren vor sich gingen; das ganze ungeheure Ländergebiet zwischen den Cordilleren und dem atlantischen Ocean muß in einer vergleichungsweise neueren Epoche, nachdem es zuvor über dem Meeresniveau stand, wieder unter dasselbe versenkt worden seyen — eine Umwälzung, worin seine zahlreichen und merkwürdigen Thiergeschlechter untergingen. Welche Katastrophe hat aber Nordamerika betroffen? wo sind die zahlreichen Bewohner hingekommen, welche einst das Thal des Mississippi und der darein mündenden Flüsse bewohnt haben müssen? Mancher ist wahrscheinlich schnell fertig mit der Antwort: sie seyen im Laufe der letzten drei Jahrhunderte von den Europäern nach und nach ausgetilgt worden; aber dieß ist gänzlich unrichtig, denn die Thäler des Mississippi und seiner Nebenflüsse sind erst seit dem Anfange dieses Jahrhunderts in größerem Umfange betreten worden, die erwähnten Alterthümer aber weisen auf eine zahlreiche Bevölkerung zurück, welche vor mehr als tausend Jahren daselbst wohnte, und von denen die jetzige indianische Bevölkerung auch nicht eine Sage hat. Mit Einem Wort, das alte Amerika mit seiner untergegangenen Thier- und Menschenwelt ist uns noch ein Buch mit sieben Siegeln, und lange werden die Forscher, Ameisen gleich, die näheren Data zusammensuchen müssen, ehe wir einigermaßen darüber zu einer klaren Ansicht werden kommen können. Daß Südamerika die neuesten und furchtbarsten Umwälzungen erlitten hat, ist kein Zweifel, und beachtungswerth ist der wohl nicht allein dem Klima zuzuschreibende Umstand, wie scharf, schon in älterer, wie wiederum in neuerer Zeit, der Cordilleren-Bewohner sich von den Bewohnern der Ebenen scheidet. Wir haben in einer kürzlichen Mittheilung bemerkt, daß das Reich der Incas und Lipas sich im Wesentlichen streng auf die Cordillerenkette beschränkt, die politische Macht der Incas sich allerdings auch auf einige Niederungen, namentlich auf die Westküste, hin ausgedehnt habe, daß aber jetzt, wo keine politischen Verhältnisse dieser Art mehr einwirken, der Quichua-Indianer in der Regel die Berge nicht verläßt. Auch kann es nicht fehlen, daß, da die Zahl der Spanier, selbst im Gebirge, keineswegs zu-, sondern eher abnimmt, im Lauf einiger Jahrhunderte der Quichuastamm in den Anden entschieden wieder vorherrschen wird, vielleicht in einer nominellen Abhängigkeit von dieser oder jener halbeuropäischen Hauptstadt, aber im Wesentlichen durchaus frei und ungefesselt. Dieß führt uns auf die alte, stets wiederholte Bemerkung, daß Amerika noch immer mit der Bildung seiner Racen und Stämme beschäftigt ist, und nach der furchtbaren Erschütterung, welche die Eroberung durch die Europäer und die Einfuhr der Neger veranlaßt hat, sich wieder neu zu gestalten beginnt. Die Symptome dieser fortschreitenden Racenbildung sind nicht leicht zusammenzustellen, und man muß sich gewissermaßen an Aeußerlichkeiten als an die Repräsentanten des innern Zustandes halten. In der Ebene von Venezuela hat die aus Negern, Indianern und Europäern gemischte gelbe Race sich schon ziemlich constituirt, dasselbe ist bekanntlich auch im Innern der argentinischen Republik der Fall, wo zwar die weiße Race vorherrscht, doch immer mit starker Beimischung von Neger- und Indianerblut. In Paraguay scheint der Guarani-Stamm zu überwiegen, wie im Nordwesten der Quichua-Indianer, denn das Spanische verschwindet mehr und mehr, und die Häuser, selbst in der Hauptstadt, lassen sich zählen, wo die Frauen ein auch nur erträgliches Spanisch sprechen; das Guarani wird sich hier ohne allen Zweifel zur herrschenden Sprache erheben – eine Erscheinung, welche man, wie es scheint, einzig dem Bekehrungs- und Regierungssystem der Jesuiten und dem Isolirungssystem Francia's dankt, ohne welche die Guaranis während der Revolution vermuthlich ganz vernichtet worden wären. Was weiter im Norden im Innern Brasiliens vor sich geht, davon wissen wir so gut wie nichts, obgleich die fortdauernden Nachrichten von Eroberung und Plünderung einzelner Städte in den nördlichen Provinzen Brasiliens, also zunächst an der Linie, den Beweis liefern, daß dort nicht bloß weiße Herren und schwarze Sklaven den Boden bebauen: es scheint namentlich im Gebiete des Tocantinflusses ein Gemenge von Negern, Mulatten und Indianern zu hausen, welche da und dort in die Städte einbrechen, aber ohne einen andern Zweck als zu plündern, weßhalb, wenn endlich die Truppen der Regierung anlangen, diese immer wieder mit großer Tapferkeit die Städte erobern, besonders wenn die rohen Räuberschaaren sie schon geräumt haben. Gegen die noch immer im Aufstand befindlichen Bewohner von Rio Grande do Sul, welche meist weißer Abkunft sind, fallen freilich die Lorbeeren sehr mager aus, so nahe auch diese Provinz der Hauptstadt liegt. Alles dieses bietet nur weitere Symptome der Auflösung des so pomphaft angekündigten brasilianischen Kaiserreichs dar. Es ist auffallend, daß man in Zeitschriften so gar wenig über Brasilien findet; daß die brasilianische Litteratur selbst im höchsten Grad unbedeutend ist, das darf freilich Niemand sehr Wunder nehmen: in der Nähe der Linie sind die Geistesproductionen von jeher weder an Umfang, noch an Tiefe von Bedeutung gewesen, und die Denksprüche des Marquis v. Maricà, die in der eben citirten Mittheilung geschildert sind, darf man eher als ein europäisches Erzeugniß betrachten. Aber eine leichte, tändelnde Poesie sollte man wenigstens erwarten, *) Aus den beachtungswerthen „Rückblicken“, mit denen das Ausland am Schlusse des Jahres eine Uebersicht der Ereignisse und der darüber gelieferten Betrachtungen gibt.

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Zitationshilfe: Allgemeine Zeitung. Nr. 1. Augsburg, 1. Januar 1840, S. 0002. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/augsburgerallgemeine_001_18400101/10>, abgerufen am 21.11.2024.