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Allgemeine Zeitung. Nr. 9. Augsburg, 9. Januar 1840.

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wem es in der Geschichte um Wahrheit zu thun ist, der wird hier volle Befriedigung erhalten: der Geschichtsfreund, der Geschichtsforscher, der Staatsmann, der Menschenbeobachter. Zwei Gegenstände hauptsächlich treten im hellsten Licht hervor: der Zustand von Griechenland im Anfange seiner Selbstständigkeit und der Charakter des Mannes, der zur Leitung des neuen Staates berufen war. Man kann ohne Bedenken die Behauptung wagen, daß die gegenwärtige Briefsammlung zu den historischen Erscheinungen unserer Zeit zu rechnen ist, vor welchen jene erkünstelten Memoires, mit denen sie so schonungslos überschwemmt worden ist, erbleichen und in Nebel zerfließen. Hier sieht der Leser die Ereignisse unter seinen Augen sich gestalten; fast jeder Brief, möchte man sagen, ist eine Thatsache, oder ruft eine Thatsache hervor. Aber was noch mehr ist, hier erscheint der Mann, welcher so oft falsch beurtheilt wurde, wie er war, wie er lebte und handelte: seine Grundsätze, sein Herz, sein ganzes Innere spricht sich hier aus; ganz er selbst steht er da, rein und ohne fremde Beimischung, wie er dachte und wirkte für den hohen Zweck, den er rastlos zu erreichen strebte. Wer am Menschen den Menschen zu suchen versteht, wird ihn am Staatsmann, der sich für sein Vaterland hingab, mit Wohlgefallen erkennen. Und vielleicht Mancher, der an dem Höheren in der Menschenbrust zu zweifeln versucht ist, wird sich dem aufgegebenen Glauben wieder zuwenden.

Man schrickt zurück, wenn man den Zustand von Griechenland auffaßt, wie er war, als der Präsident den Fuß auf den vaterländischen Boden setzte, um den hochherzigen Absichten der drei großen Schutzmächte und dem Ruf seines Volks Folge zu leisten. Trotz der Anordnungen der vorhergegangenen Nationalregierung waren wenig Spuren von Ordnung zu finden: alle Elemente, durch welche ein gesellschaftlicher Zustand möglich wird, waren aufgelöst; sie mußten aus dem Chaos hervorgerufen, oder neu geschaffen werden. Der Präsident fand die Cultur des Bodens bis in die Wurzeln vernichtet, Felder in Wüsten, Landbesitzungen in Schutt oder in Aschenhaufen verwandelt, Städte in Trümmer zerworfen, Tausende von Familien ohne Obdach, herumirrend, ohne Brod, ohne Bekleidung; Wittwen, welche um Beistand und Schutz, Schaaren von Kindern, welche um Elternsorge und Pflege flehten. Gränzenlos war das Elend, der Mangel an Mitteln, ihm Schranken zu setzen, unabsehlich; die Wohlthätigkeit der Herzen, welche sich von einem Ende Europa's zum andern dem Präsidenten geöffnet, war fast seine einzige Hülfsquelle, fast nur durch sie war er im Stande die neue Schöpfung zu retten; sie stand in Gefahr, in den Geburtsschmerzen zu sterben. Finanzen waren in Griechenland noch nicht vorhanden: man sieht ihn, durch Palliative die Existenz desselben von einem Tage zum andern fristen. Mitten in dieser Bedrängniß weiß er zwei Gedanken, die ihm hauptsächlich am Herzen liegen, zur Wirklichkeit zu bringen: er errichtet Erziehungsanstalten, um aus den Waisen durch Unterricht und Bildung eine Generation nützlicher Bürger für das Vaterland heranzubilden; er eilt, das Volk durch Arbeit aus der Armuth zu Ordnung und Wohlseyn zu führen, indem er den Brodlosen Ländereien anweist, welche sie für ihre Nahrungsmittel zu besäen und zu bepflanzen gehalten sind. Zu gleicher Zeit muß er die verschiedenartigsten Zweige des Staatswesens ins Leben rufen: er schafft eine Bank; Finanzwesen, Justiz, Landarmee, Marine, Schulwesen, Cultus, jede Verwaltungsmaaßregel nimmt seine Thätigkeit in Anspruch. Sie war unerschöpflich, und sie mußte es seyn, da aus Mangel an Zwischenbeamten das Haupt der Regierung in jedes Detail des Dienstmechanismus selbst eingehen mußte. Ja bis zu Formularen im Rechnungswesen und zur Lehrordnung in den Schulen sieht man den Präsidenten Vorschriften ertheilen. Daher auch die Nothwendigkeit seines unablässigen Ortswechsels. Daher seine Verfügungen, erlassen bald aus Aegina, bald aus Nauplia, bald aus Poros, dann wieder am Bord des russischen Kriegsschiffs Helena oder des englischen Warspite geschrieben, oder wieder aus Kandili oder aus Petalidi datirt. Dieß nennt er in seinen vertrauteren Briefen sein "Bivouacsleben." So manche seiner Dienstvorschriften wurden unter freiem Himmel, unter Regen oder Wind ausgefertigt, an Orten, wo es dem Staatsoberhaupt bisweilen an einem Tisch zum Schreiben gebrach. Häufig war er genöthigt, selbst zu sehen, anzuordnen, zu leiten. Mußte er doch in Person zur Armee gehen, um die Operationen zu bewachen; mußte er doch zu den Verwahrungsanstalten gegen die Pest sich selbst begeben, um sich über ihre Ausführung zu beruhigen! Wer dem Präsidenten den Vorwurf macht, daß er zu viel selbst gethan habe, der bedenkt nicht, daß er, in vielen Stücken auf sich selbst beschränkt, Zahlloses zu thun vorfand.

Während der innere Zustand des Landes eine so angestrengte Thätigkeit erheischte, nahmen die Verhältnisse nach außen sie aufs dringendste in Anspruch. Kaum hatte sich auf sein langes Flehen bei den Schutzmächten um die versprochenen Subsidien der schwache Anfang eines Resultats gezeigt, als der Krieg gegen die im Besitz bleibenden Türken, so wie gegen die nach der Schlacht bei Navarin eingedrungenen Aegyptier die einzigen Hülfsmittel verschlang. Zum Krieg gesellte sich noch die Pest, welche die letzteren mit ihren Schrecken und Gräueln auf die griechischen Inseln geschleudert hatten. An diese Plagen schloß sich die größte von allen: der Revolutionsgeist; er kam, alle niedrigen Leidenschaften aufregend, um in Griechenland den alten Parteigeist wieder in Flammen zu setzen; dieß gelang ihm, indem er diejenigen, welche die den Türken entrissene Herrschaft sich zuzueignen strebten, die Primaten und Kapitani, gegen die neue Ordnung der Dinge und gegen den, der sie gründen sollte, zu Felde führte. Der Parteigeist suchte sich Helfershelfer unter denen, welche, mehr um Glück zu machen als um die Zukunft eines ordnungsbedürftigen Volkes zu bereiten, gekommen waren. Der Parteigeist fand sogar seine Beförderer unter einigen europäischen Diplomaten, welche, des Zeitgeistes voll, ihn über den neuen Staat auszugießen sich befugt glaubten. Nun erhob sich vielfach im Volk Anarchie, bei der Armee Undisciplin und Ungehorsam, in verschiedenen Verwaltungszweigen Veruntreuung und Raubsucht, böser Wille und Opposition bis zu den höheren Regionen der Behörden hinauf. Verdächtigungen, Anschuldigungen, Verleumdungen ergossen sich gegen den Mann, der sein ganzes Daseyn opferte, um an die Stelle von Willkür und Gewalt, Recht und Ordnung zu setzen. Ueber diesen Zustand der Demoralisirung sind merkwürdige Aufschlüsse an vielen Orten der Briefsammlung enthalten; man findet sie in der Eröffnung des Präsidenten an das Panhellenion (Thl. II, S. 171 u. f.); in seinen Briefen an den außerordentlichen Commissär Psyllas (II, 366); an den Metropoliten Ignaz in Pisa (II, 185); an Ypsilanti (S. 429); in der sachvollen Auseinandersetzung seines Schreibens an den Grafen Loverdo (S. 454-466) und in seiner Zuschrift an den Obersten Heideck (S. 469) u. a. O.

Im Gedränge so ungeheuer schwieriger Verhältnisse verließ den Grafen Kapodistrias der Muth nicht: unter ihnen entwickelte sich sein Charakter; das Bewußtseyn der Reinheit seiner Absichten, das hohe Gefühl seiner Pflicht und sein festes Vertrauen auf die Leitung der Vorsehung gaben ihm Kraft. Gott war seine Stärke. Schon von Paris aus sagte er der


wem es in der Geschichte um Wahrheit zu thun ist, der wird hier volle Befriedigung erhalten: der Geschichtsfreund, der Geschichtsforscher, der Staatsmann, der Menschenbeobachter. Zwei Gegenstände hauptsächlich treten im hellsten Licht hervor: der Zustand von Griechenland im Anfange seiner Selbstständigkeit und der Charakter des Mannes, der zur Leitung des neuen Staates berufen war. Man kann ohne Bedenken die Behauptung wagen, daß die gegenwärtige Briefsammlung zu den historischen Erscheinungen unserer Zeit zu rechnen ist, vor welchen jene erkünstelten Mémoires, mit denen sie so schonungslos überschwemmt worden ist, erbleichen und in Nebel zerfließen. Hier sieht der Leser die Ereignisse unter seinen Augen sich gestalten; fast jeder Brief, möchte man sagen, ist eine Thatsache, oder ruft eine Thatsache hervor. Aber was noch mehr ist, hier erscheint der Mann, welcher so oft falsch beurtheilt wurde, wie er war, wie er lebte und handelte: seine Grundsätze, sein Herz, sein ganzes Innere spricht sich hier aus; ganz er selbst steht er da, rein und ohne fremde Beimischung, wie er dachte und wirkte für den hohen Zweck, den er rastlos zu erreichen strebte. Wer am Menschen den Menschen zu suchen versteht, wird ihn am Staatsmann, der sich für sein Vaterland hingab, mit Wohlgefallen erkennen. Und vielleicht Mancher, der an dem Höheren in der Menschenbrust zu zweifeln versucht ist, wird sich dem aufgegebenen Glauben wieder zuwenden.

Man schrickt zurück, wenn man den Zustand von Griechenland auffaßt, wie er war, als der Präsident den Fuß auf den vaterländischen Boden setzte, um den hochherzigen Absichten der drei großen Schutzmächte und dem Ruf seines Volks Folge zu leisten. Trotz der Anordnungen der vorhergegangenen Nationalregierung waren wenig Spuren von Ordnung zu finden: alle Elemente, durch welche ein gesellschaftlicher Zustand möglich wird, waren aufgelöst; sie mußten aus dem Chaos hervorgerufen, oder neu geschaffen werden. Der Präsident fand die Cultur des Bodens bis in die Wurzeln vernichtet, Felder in Wüsten, Landbesitzungen in Schutt oder in Aschenhaufen verwandelt, Städte in Trümmer zerworfen, Tausende von Familien ohne Obdach, herumirrend, ohne Brod, ohne Bekleidung; Wittwen, welche um Beistand und Schutz, Schaaren von Kindern, welche um Elternsorge und Pflege flehten. Gränzenlos war das Elend, der Mangel an Mitteln, ihm Schranken zu setzen, unabsehlich; die Wohlthätigkeit der Herzen, welche sich von einem Ende Europa's zum andern dem Präsidenten geöffnet, war fast seine einzige Hülfsquelle, fast nur durch sie war er im Stande die neue Schöpfung zu retten; sie stand in Gefahr, in den Geburtsschmerzen zu sterben. Finanzen waren in Griechenland noch nicht vorhanden: man sieht ihn, durch Palliative die Existenz desselben von einem Tage zum andern fristen. Mitten in dieser Bedrängniß weiß er zwei Gedanken, die ihm hauptsächlich am Herzen liegen, zur Wirklichkeit zu bringen: er errichtet Erziehungsanstalten, um aus den Waisen durch Unterricht und Bildung eine Generation nützlicher Bürger für das Vaterland heranzubilden; er eilt, das Volk durch Arbeit aus der Armuth zu Ordnung und Wohlseyn zu führen, indem er den Brodlosen Ländereien anweist, welche sie für ihre Nahrungsmittel zu besäen und zu bepflanzen gehalten sind. Zu gleicher Zeit muß er die verschiedenartigsten Zweige des Staatswesens ins Leben rufen: er schafft eine Bank; Finanzwesen, Justiz, Landarmee, Marine, Schulwesen, Cultus, jede Verwaltungsmaaßregel nimmt seine Thätigkeit in Anspruch. Sie war unerschöpflich, und sie mußte es seyn, da aus Mangel an Zwischenbeamten das Haupt der Regierung in jedes Detail des Dienstmechanismus selbst eingehen mußte. Ja bis zu Formularen im Rechnungswesen und zur Lehrordnung in den Schulen sieht man den Präsidenten Vorschriften ertheilen. Daher auch die Nothwendigkeit seines unablässigen Ortswechsels. Daher seine Verfügungen, erlassen bald aus Aegina, bald aus Nauplia, bald aus Poros, dann wieder am Bord des russischen Kriegsschiffs Helena oder des englischen Warspite geschrieben, oder wieder aus Kandili oder aus Petalidi datirt. Dieß nennt er in seinen vertrauteren Briefen sein „Bivouacsleben.“ So manche seiner Dienstvorschriften wurden unter freiem Himmel, unter Regen oder Wind ausgefertigt, an Orten, wo es dem Staatsoberhaupt bisweilen an einem Tisch zum Schreiben gebrach. Häufig war er genöthigt, selbst zu sehen, anzuordnen, zu leiten. Mußte er doch in Person zur Armee gehen, um die Operationen zu bewachen; mußte er doch zu den Verwahrungsanstalten gegen die Pest sich selbst begeben, um sich über ihre Ausführung zu beruhigen! Wer dem Präsidenten den Vorwurf macht, daß er zu viel selbst gethan habe, der bedenkt nicht, daß er, in vielen Stücken auf sich selbst beschränkt, Zahlloses zu thun vorfand.

Während der innere Zustand des Landes eine so angestrengte Thätigkeit erheischte, nahmen die Verhältnisse nach außen sie aufs dringendste in Anspruch. Kaum hatte sich auf sein langes Flehen bei den Schutzmächten um die versprochenen Subsidien der schwache Anfang eines Resultats gezeigt, als der Krieg gegen die im Besitz bleibenden Türken, so wie gegen die nach der Schlacht bei Navarin eingedrungenen Aegyptier die einzigen Hülfsmittel verschlang. Zum Krieg gesellte sich noch die Pest, welche die letzteren mit ihren Schrecken und Gräueln auf die griechischen Inseln geschleudert hatten. An diese Plagen schloß sich die größte von allen: der Revolutionsgeist; er kam, alle niedrigen Leidenschaften aufregend, um in Griechenland den alten Parteigeist wieder in Flammen zu setzen; dieß gelang ihm, indem er diejenigen, welche die den Türken entrissene Herrschaft sich zuzueignen strebten, die Primaten und Kapitani, gegen die neue Ordnung der Dinge und gegen den, der sie gründen sollte, zu Felde führte. Der Parteigeist suchte sich Helfershelfer unter denen, welche, mehr um Glück zu machen als um die Zukunft eines ordnungsbedürftigen Volkes zu bereiten, gekommen waren. Der Parteigeist fand sogar seine Beförderer unter einigen europäischen Diplomaten, welche, des Zeitgeistes voll, ihn über den neuen Staat auszugießen sich befugt glaubten. Nun erhob sich vielfach im Volk Anarchie, bei der Armee Undisciplin und Ungehorsam, in verschiedenen Verwaltungszweigen Veruntreuung und Raubsucht, böser Wille und Opposition bis zu den höheren Regionen der Behörden hinauf. Verdächtigungen, Anschuldigungen, Verleumdungen ergossen sich gegen den Mann, der sein ganzes Daseyn opferte, um an die Stelle von Willkür und Gewalt, Recht und Ordnung zu setzen. Ueber diesen Zustand der Demoralisirung sind merkwürdige Aufschlüsse an vielen Orten der Briefsammlung enthalten; man findet sie in der Eröffnung des Präsidenten an das Panhellenion (Thl. II, S. 171 u. f.); in seinen Briefen an den außerordentlichen Commissär Psyllas (II, 366); an den Metropoliten Ignaz in Pisa (II, 185); an Ypsilanti (S. 429); in der sachvollen Auseinandersetzung seines Schreibens an den Grafen Loverdo (S. 454-466) und in seiner Zuschrift an den Obersten Heideck (S. 469) u. a. O.

Im Gedränge so ungeheuer schwieriger Verhältnisse verließ den Grafen Kapodistrias der Muth nicht: unter ihnen entwickelte sich sein Charakter; das Bewußtseyn der Reinheit seiner Absichten, das hohe Gefühl seiner Pflicht und sein festes Vertrauen auf die Leitung der Vorsehung gaben ihm Kraft. Gott war seine Stärke. Schon von Paris aus sagte er der

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Aber was noch mehr ist, hier erscheint der Mann, welcher so oft falsch beurtheilt wurde, wie er war, wie er lebte und handelte: seine Grundsätze, sein Herz, sein ganzes Innere spricht sich hier aus; ganz er selbst steht er da, rein und ohne fremde Beimischung, wie er dachte und wirkte für den hohen Zweck, den er rastlos zu erreichen strebte. Wer am Menschen den Menschen zu suchen versteht, wird ihn am Staatsmann, der sich für sein Vaterland hingab, mit Wohlgefallen erkennen. Und vielleicht Mancher, der an dem Höheren in der Menschenbrust zu zweifeln versucht ist, wird sich dem aufgegebenen Glauben wieder zuwenden. Man schrickt zurück, wenn man den Zustand von Griechenland auffaßt, wie er war, als der Präsident den Fuß auf den vaterländischen Boden setzte, um den hochherzigen Absichten der drei großen Schutzmächte und dem Ruf seines Volks Folge zu leisten. Trotz der Anordnungen der vorhergegangenen Nationalregierung waren wenig Spuren von Ordnung zu finden: alle Elemente, durch welche ein gesellschaftlicher Zustand möglich wird, waren aufgelöst; sie mußten aus dem Chaos hervorgerufen, oder neu geschaffen werden. Der Präsident fand die Cultur des Bodens bis in die Wurzeln vernichtet, Felder in Wüsten, Landbesitzungen in Schutt oder in Aschenhaufen verwandelt, Städte in Trümmer zerworfen, Tausende von Familien ohne Obdach, herumirrend, ohne Brod, ohne Bekleidung; Wittwen, welche um Beistand und Schutz, Schaaren von Kindern, welche um Elternsorge und Pflege flehten. Gränzenlos war das Elend, der Mangel an Mitteln, ihm Schranken zu setzen, unabsehlich; die Wohlthätigkeit der Herzen, welche sich von einem Ende Europa's zum andern dem Präsidenten geöffnet, war fast seine einzige Hülfsquelle, fast nur durch sie war er im Stande die neue Schöpfung zu retten; sie stand in Gefahr, in den Geburtsschmerzen zu sterben. Finanzen waren in Griechenland noch nicht vorhanden: man sieht ihn, durch Palliative die Existenz desselben von einem Tage zum andern fristen. Mitten in dieser Bedrängniß weiß er zwei Gedanken, die ihm hauptsächlich am Herzen liegen, zur Wirklichkeit zu bringen: er errichtet Erziehungsanstalten, um aus den Waisen durch Unterricht und Bildung eine Generation nützlicher Bürger für das Vaterland heranzubilden; er eilt, das Volk durch Arbeit aus der Armuth zu Ordnung und Wohlseyn zu führen, indem er den Brodlosen Ländereien anweist, welche sie für ihre Nahrungsmittel zu besäen und zu bepflanzen gehalten sind. Zu gleicher Zeit muß er die verschiedenartigsten Zweige des Staatswesens ins Leben rufen: er schafft eine Bank; Finanzwesen, Justiz, Landarmee, Marine, Schulwesen, Cultus, jede Verwaltungsmaaßregel nimmt seine Thätigkeit in Anspruch. Sie war unerschöpflich, und sie mußte es seyn, da aus Mangel an Zwischenbeamten das Haupt der Regierung in jedes Detail des Dienstmechanismus selbst eingehen mußte. Ja bis zu Formularen im Rechnungswesen und zur Lehrordnung in den Schulen sieht man den Präsidenten Vorschriften ertheilen. Daher auch die Nothwendigkeit seines unablässigen Ortswechsels. Daher seine Verfügungen, erlassen bald aus Aegina, bald aus Nauplia, bald aus Poros, dann wieder am Bord des russischen Kriegsschiffs Helena oder des englischen Warspite geschrieben, oder wieder aus Kandili oder aus Petalidi datirt. Dieß nennt er in seinen vertrauteren Briefen sein „Bivouacsleben.“ So manche seiner Dienstvorschriften wurden unter freiem Himmel, unter Regen oder Wind ausgefertigt, an Orten, wo es dem Staatsoberhaupt bisweilen an einem Tisch zum Schreiben gebrach. Häufig war er genöthigt, selbst zu sehen, anzuordnen, zu leiten. Mußte er doch in Person zur Armee gehen, um die Operationen zu bewachen; mußte er doch zu den Verwahrungsanstalten gegen die Pest sich selbst begeben, um sich über ihre Ausführung zu beruhigen! Wer dem Präsidenten den Vorwurf macht, daß er zu viel selbst gethan habe, der bedenkt nicht, daß er, in vielen Stücken auf sich selbst beschränkt, Zahlloses zu thun vorfand. Während der innere Zustand des Landes eine so angestrengte Thätigkeit erheischte, nahmen die Verhältnisse nach außen sie aufs dringendste in Anspruch. Kaum hatte sich auf sein langes Flehen bei den Schutzmächten um die versprochenen Subsidien der schwache Anfang eines Resultats gezeigt, als der Krieg gegen die im Besitz bleibenden Türken, so wie gegen die nach der Schlacht bei Navarin eingedrungenen Aegyptier die einzigen Hülfsmittel verschlang. Zum Krieg gesellte sich noch die Pest, welche die letzteren mit ihren Schrecken und Gräueln auf die griechischen Inseln geschleudert hatten. An diese Plagen schloß sich die größte von allen: der Revolutionsgeist; er kam, alle niedrigen Leidenschaften aufregend, um in Griechenland den alten Parteigeist wieder in Flammen zu setzen; dieß gelang ihm, indem er diejenigen, welche die den Türken entrissene Herrschaft sich zuzueignen strebten, die Primaten und Kapitani, gegen die neue Ordnung der Dinge und gegen den, der sie gründen sollte, zu Felde führte. Der Parteigeist suchte sich Helfershelfer unter denen, welche, mehr um Glück zu machen als um die Zukunft eines ordnungsbedürftigen Volkes zu bereiten, gekommen waren. Der Parteigeist fand sogar seine Beförderer unter einigen europäischen Diplomaten, welche, des Zeitgeistes voll, ihn über den neuen Staat auszugießen sich befugt glaubten. Nun erhob sich vielfach im Volk Anarchie, bei der Armee Undisciplin und Ungehorsam, in verschiedenen Verwaltungszweigen Veruntreuung und Raubsucht, böser Wille und Opposition bis zu den höheren Regionen der Behörden hinauf. Verdächtigungen, Anschuldigungen, Verleumdungen ergossen sich gegen den Mann, der sein ganzes Daseyn opferte, um an die Stelle von Willkür und Gewalt, Recht und Ordnung zu setzen. Ueber diesen Zustand der Demoralisirung sind merkwürdige Aufschlüsse an vielen Orten der Briefsammlung enthalten; man findet sie in der Eröffnung des Präsidenten an das Panhellenion (Thl. II, S. 171 u. f.); in seinen Briefen an den außerordentlichen Commissär Psyllas (II, 366); an den Metropoliten Ignaz in Pisa (II, 185); an Ypsilanti (S. 429); in der sachvollen Auseinandersetzung seines Schreibens an den Grafen Loverdo (S. 454-466) und in seiner Zuschrift an den Obersten Heideck (S. 469) u. a. O. Im Gedränge so ungeheuer schwieriger Verhältnisse verließ den Grafen Kapodistrias der Muth nicht: unter ihnen entwickelte sich sein Charakter; das Bewußtseyn der Reinheit seiner Absichten, das hohe Gefühl seiner Pflicht und sein festes Vertrauen auf die Leitung der Vorsehung gaben ihm Kraft. Gott war seine Stärke. Schon von Paris aus sagte er der

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Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Deutsches Textarchiv: Bereitstellung der Texttranskription. (2016-06-28T11:37:15Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Matthias Boenig: Bearbeitung der digitalen Edition. (2016-06-28T11:37:15Z)

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Zitationshilfe: Allgemeine Zeitung. Nr. 9. Augsburg, 9. Januar 1840, S. 0068. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/augsburgerallgemeine_009_18400109/10>, abgerufen am 27.04.2024.