Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Allgemeine Zeitung. Nr. 17. Augsburg, 17. Januar 1840.

Bild:
<< vorherige Seite
Ernst, das Chartisten-Epos.

In England ist in erstaunlich kurzer Zeit ein neues politisches Element in die Erscheinung getreten, das, wie zu hoffen und auch zu erwarten ist, zwar in die Schranken der Gesetzlichkeit zurückgedämmt, aber schwerlich mehr bis zur gänzlichen Unbedeutenheit wird unterdrückt werden können: der von seiner Hände Arbeit lebende Proletarierstand strebt nach politischen Rechten, zumal directer Theilnahme an der Legislatur des Landes durch Wahlberechtigung. Die agrarischen Träumereien und Leveller-Grillen des Chartismus werden an dem gesunden Volkssinn und der trotz ihrer Dehnbarkeit, oder vielmehr kraft dieser Dehnbarkeit, starken brittischen Verfassung ohne Zweifel in ihr Nichts zerscheitern; aber würde das, was in den Forderungen der untern Volksclassen relativ Vernünftiges und Haltbares, wenigstens Ausführbares liegt, durch einen glücklichen Gährungsproceß aus dem Chaos der politischen Narrheit sich ausscheiden, so könnte dann der Radicalismus, der im Parlament zwar Fuß gefaßt hat, bisher aber in demselben doch mehr die Rolle eines Theoretikers spielte, an dem verständigeren Theil der Chartisten einen nicht zu verachtenden praktischen Rückhalt und Nachdruck gewinnen. Daß die Chartisten auf dem Wege physischer Gewalt nichts ausrichten werden, scheint die leichte Unterdrückung des Aufstandes in Newport zur Genüge zu beweisen, und die Rädelsführer dieses thörichten Versuchs sehen jetzt vor einer Jury ihres Landes ihrem Urtheil entgegen. Indessen ist und bleibt der Chartismus ein wichtiges Zeitereigniß, und daß man ihn in England als ein solches betrachtet, dafür zeugt die Spannung, mit der man theils nach den Assisen in Monmouth blickt, theils allen Gerüchten von neuen Bewegungen lauscht. Unter diesen Umständen dürften folgende Auszüge aus einem Artikel, der eine dem Chartismus verwandte litterarische Erscheinung bespricht, für unsere Leser nicht ohne Interesse seyn. Sie sind den "Blättern zur Kunde der Litteratur des Auslands, von Gustav Pfizer" *)*) entnommen, und unter Anderm auch dadurch bemerkenswerth, daß sie zeigen, wie leicht in England irgend einer politischen Bewegung sich ein Element verbindet, das in Frankreich bei ähnlichen Vorgängen, trotz der Bücher von Lamennais, fast gar nicht in Betracht kommt: das religiöse.

"Die chartistische Bewegung in England (heißt es darin), welche eine Zeitlang wohl geeignet war, ernste Besorgnisse für die Ruhe Englands hervorzurufen, die aber an dem Ansehen der Gesetze und an dem loyalen Sinn der Mehrheit des Volks scheiterte, hat auch sogleich einen und zwar nicht unbedeutenden Dichter gefunden. Sein Werk, betitelt: Ernst, oder die politische Wiedergeburt, in zwölf Büchern, London 1837, gedruckt für den Verfasser, ist nicht veröffentlicht worden; dagegen theilt das Monthly Magazine reichliche Proben daraus mit, nebst einer ausführlicheren Beurtheilung. Das Gedicht scheint uns eben so als litterarisches wie als sociales Phänomen alle Aufmerksamkeit zu verdienen. Wir haben uns entschlossen, das Gedicht ausführlicher zu beurtheilen, weil wir dieß für den ersprießlichsten Dienst halten, den wir den religiösen und politischen Bedürfnissen der Gegenwart zu leisten vermögen. Den extremsten Grundsätzen anhängend, ist der Verfasser dieses Werks ein Dichter vom ersten Rang und von der tiefsten Frömmigkeit. Was Shelley in dem republicanischen Ton zu dichten leistete, ward in seiner Wirkung vernichtet durch seinen gestandenen (obwohl fälschlich sogenannten) Atheismus. Er verurtheilte sich selbst und zerstörte den Einfluß seiner Productionen durch den Titel, den er annahm; der Verfasser des vorliegenden Gedichts dagegen ist durch und durch Miltonisch in Ansichten und Gesinnungen, politischen wie religiösen. Wie Milton irrt er, wenn er erwartet, daß das bloße, nackte Princip im socialen Leben durchgeführt werde, und daß es für die Gesellschaft, ohne die höchste Gefährdung, möglich sey, zu den ersten Elementen ihrer Verfassung zurückzukehren. Aus einer solchen Zersetzung müßte der Tod, nicht das Leben folgen. Und selbst wenn wir zugeben, daß bei Gemeinschaften, wie bei Individuen die Seele die Auflösung des Körpers überlebt: behaupten wir doch, daß sie nicht denselben Körper wieder beseelen werde. Für die Gesellschaft wie für die Individuen gilt die nicht genug eingeschärfte Wahrheit, daß die Organisation das Ergebniß des Lebens, daß die Verfassung der Gesellschaft, wie sie bei uns besteht, das Ergebniß eines specifischen Lebens ist; und daß, wenn sie einmal aufgelöst wird, es dann keine Reconstitution gibt, weil das Leben nicht als Endresultat zu einer Organisation hinzutritt, sondern als wirkende Ursache ihr vorangeht und sie in allen Theilen durchdringt. Jahrhunderte sind erforderlich zum Wachsthum und zur Entwicklung eines organischen Sociallebens, und kein Volk hat es je in seiner Macht, ein neues in einem Tag, einer Woche, einem Monat oder einem Jahr zu produciren, bloß durch eine Willensäußerung oder die Erlassung eines Beschlusses. Selbst gesetzgebende Versammlungen, ordentliche oder außerordentliche, alte Parlamente oder neue Nationalconvente, sind nur Theile des Gesammtkörpers, nicht seine Seele, viel weniger seine Schöpfer.

"Der vorliegende Dichter verdiente natürlich unsere Beachtung nicht, wäre es nicht augenfällig, daß er, wie Milton, ein Dichter und Theolog eben sowohl als ein Republicaner ist, und die letztere Eigenschaft wird uns um so wichtiger durch ihre Verbindung mit den beiden andern. Dieser Punkt möge sofort mit seinen eigenen Worten ins Licht gesetzt werden:

"Du, Poesie, bist, wie mein Herz dich kennt,
Glaubensheroldin, Schutzgeist alles Guten;
Das Menschenherz, das, ach! so fleischlich brennt,
Sollst läutern du für reine Geistesgluthen.
Warum bliebt beide ihr so lang getrennt?
Doch endlich jetzt vermählet eure Fluthen
In Eins, zu wild poetischer Melodie,
Geweiht von tiefer, frommer Harmonie!
Aus Phantasien viel Eine Wahrheit findend,
Aus bunter Farben Meng' Ein reines Licht -
Aus viel Gefühlen Eine Seele bindend,
Eine Vernunft, die hoch vom Throne spricht,
Daß Fried' und Freude hier ein Reich sich gründend
Mit Glorie krönen Gottes Angesicht -
O herrliche Vollendung!"

(Ein zweiter Artikel folgt.)

*) Diese Blätter haben, als litterarische Beilage zum Ausland, mit 1840 ihren vierten Jahrgang angetreten, und enthalten, neben vielen gelungenen Nachbildungen in gebundener Rede (Vieles der Art, wie die Uebersetzungen von F. Freiligrath und die Beranger'schen Lieder von Rubens, die jetzt eigens gesammelt sind, ist darin zuerst erschienen), eine Reihe gediegener kritischen Arbeiten über die bedeutendsten litterarischen Persönlichkeiten und Erzeugnisse des Auslands, Englands und Frankreichs zunächst, auf belletristischem, philosophischem und historiographischem Feld.
Ernst, das Chartisten-Epos.

In England ist in erstaunlich kurzer Zeit ein neues politisches Element in die Erscheinung getreten, das, wie zu hoffen und auch zu erwarten ist, zwar in die Schranken der Gesetzlichkeit zurückgedämmt, aber schwerlich mehr bis zur gänzlichen Unbedeutenheit wird unterdrückt werden können: der von seiner Hände Arbeit lebende Proletarierstand strebt nach politischen Rechten, zumal directer Theilnahme an der Legislatur des Landes durch Wahlberechtigung. Die agrarischen Träumereien und Leveller-Grillen des Chartismus werden an dem gesunden Volkssinn und der trotz ihrer Dehnbarkeit, oder vielmehr kraft dieser Dehnbarkeit, starken brittischen Verfassung ohne Zweifel in ihr Nichts zerscheitern; aber würde das, was in den Forderungen der untern Volksclassen relativ Vernünftiges und Haltbares, wenigstens Ausführbares liegt, durch einen glücklichen Gährungsproceß aus dem Chaos der politischen Narrheit sich ausscheiden, so könnte dann der Radicalismus, der im Parlament zwar Fuß gefaßt hat, bisher aber in demselben doch mehr die Rolle eines Theoretikers spielte, an dem verständigeren Theil der Chartisten einen nicht zu verachtenden praktischen Rückhalt und Nachdruck gewinnen. Daß die Chartisten auf dem Wege physischer Gewalt nichts ausrichten werden, scheint die leichte Unterdrückung des Aufstandes in Newport zur Genüge zu beweisen, und die Rädelsführer dieses thörichten Versuchs sehen jetzt vor einer Jury ihres Landes ihrem Urtheil entgegen. Indessen ist und bleibt der Chartismus ein wichtiges Zeitereigniß, und daß man ihn in England als ein solches betrachtet, dafür zeugt die Spannung, mit der man theils nach den Assisen in Monmouth blickt, theils allen Gerüchten von neuen Bewegungen lauscht. Unter diesen Umständen dürften folgende Auszüge aus einem Artikel, der eine dem Chartismus verwandte litterarische Erscheinung bespricht, für unsere Leser nicht ohne Interesse seyn. Sie sind den „Blättern zur Kunde der Litteratur des Auslands, von Gustav Pfizer*)*) entnommen, und unter Anderm auch dadurch bemerkenswerth, daß sie zeigen, wie leicht in England irgend einer politischen Bewegung sich ein Element verbindet, das in Frankreich bei ähnlichen Vorgängen, trotz der Bücher von Lamennais, fast gar nicht in Betracht kommt: das religiöse.

„Die chartistische Bewegung in England (heißt es darin), welche eine Zeitlang wohl geeignet war, ernste Besorgnisse für die Ruhe Englands hervorzurufen, die aber an dem Ansehen der Gesetze und an dem loyalen Sinn der Mehrheit des Volks scheiterte, hat auch sogleich einen und zwar nicht unbedeutenden Dichter gefunden. Sein Werk, betitelt: Ernst, oder die politische Wiedergeburt, in zwölf Büchern, London 1837, gedruckt für den Verfasser, ist nicht veröffentlicht worden; dagegen theilt das Monthly Magazine reichliche Proben daraus mit, nebst einer ausführlicheren Beurtheilung. Das Gedicht scheint uns eben so als litterarisches wie als sociales Phänomen alle Aufmerksamkeit zu verdienen. Wir haben uns entschlossen, das Gedicht ausführlicher zu beurtheilen, weil wir dieß für den ersprießlichsten Dienst halten, den wir den religiösen und politischen Bedürfnissen der Gegenwart zu leisten vermögen. Den extremsten Grundsätzen anhängend, ist der Verfasser dieses Werks ein Dichter vom ersten Rang und von der tiefsten Frömmigkeit. Was Shelley in dem republicanischen Ton zu dichten leistete, ward in seiner Wirkung vernichtet durch seinen gestandenen (obwohl fälschlich sogenannten) Atheismus. Er verurtheilte sich selbst und zerstörte den Einfluß seiner Productionen durch den Titel, den er annahm; der Verfasser des vorliegenden Gedichts dagegen ist durch und durch Miltonisch in Ansichten und Gesinnungen, politischen wie religiösen. Wie Milton irrt er, wenn er erwartet, daß das bloße, nackte Princip im socialen Leben durchgeführt werde, und daß es für die Gesellschaft, ohne die höchste Gefährdung, möglich sey, zu den ersten Elementen ihrer Verfassung zurückzukehren. Aus einer solchen Zersetzung müßte der Tod, nicht das Leben folgen. Und selbst wenn wir zugeben, daß bei Gemeinschaften, wie bei Individuen die Seele die Auflösung des Körpers überlebt: behaupten wir doch, daß sie nicht denselben Körper wieder beseelen werde. Für die Gesellschaft wie für die Individuen gilt die nicht genug eingeschärfte Wahrheit, daß die Organisation das Ergebniß des Lebens, daß die Verfassung der Gesellschaft, wie sie bei uns besteht, das Ergebniß eines specifischen Lebens ist; und daß, wenn sie einmal aufgelöst wird, es dann keine Reconstitution gibt, weil das Leben nicht als Endresultat zu einer Organisation hinzutritt, sondern als wirkende Ursache ihr vorangeht und sie in allen Theilen durchdringt. Jahrhunderte sind erforderlich zum Wachsthum und zur Entwicklung eines organischen Sociallebens, und kein Volk hat es je in seiner Macht, ein neues in einem Tag, einer Woche, einem Monat oder einem Jahr zu produciren, bloß durch eine Willensäußerung oder die Erlassung eines Beschlusses. Selbst gesetzgebende Versammlungen, ordentliche oder außerordentliche, alte Parlamente oder neue Nationalconvente, sind nur Theile des Gesammtkörpers, nicht seine Seele, viel weniger seine Schöpfer.

„Der vorliegende Dichter verdiente natürlich unsere Beachtung nicht, wäre es nicht augenfällig, daß er, wie Milton, ein Dichter und Theolog eben sowohl als ein Republicaner ist, und die letztere Eigenschaft wird uns um so wichtiger durch ihre Verbindung mit den beiden andern. Dieser Punkt möge sofort mit seinen eigenen Worten ins Licht gesetzt werden:

„Du, Poesie, bist, wie mein Herz dich kennt,
Glaubensheroldin, Schutzgeist alles Guten;
Das Menschenherz, das, ach! so fleischlich brennt,
Sollst läutern du für reine Geistesgluthen.
Warum bliebt beide ihr so lang getrennt?
Doch endlich jetzt vermählet eure Fluthen
In Eins, zu wild poetischer Melodie,
Geweiht von tiefer, frommer Harmonie!
Aus Phantasien viel Eine Wahrheit findend,
Aus bunter Farben Meng' Ein reines Licht –
Aus viel Gefühlen Eine Seele bindend,
Eine Vernunft, die hoch vom Throne spricht,
Daß Fried' und Freude hier ein Reich sich gründend
Mit Glorie krönen Gottes Angesicht –
O herrliche Vollendung!“

(Ein zweiter Artikel folgt.)

*) Diese Blätter haben, als litterarische Beilage zum Ausland, mit 1840 ihren vierten Jahrgang angetreten, und enthalten, neben vielen gelungenen Nachbildungen in gebundener Rede (Vieles der Art, wie die Uebersetzungen von F. Freiligrath und die Béranger'schen Lieder von Rubens, die jetzt eigens gesammelt sind, ist darin zuerst erschienen), eine Reihe gediegener kritischen Arbeiten über die bedeutendsten litterarischen Persönlichkeiten und Erzeugnisse des Auslands, Englands und Frankreichs zunächst, auf belletristischem, philosophischem und historiographischem Feld.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <pb facs="#f0009" n="0129"/>
      <div n="1">
        <head> <hi rendition="#b"><hi rendition="#g">Ernst</hi>, <hi rendition="#g">das Chartisten</hi>-<hi rendition="#g">Epos</hi>.</hi> </head><lb/>
        <p>In England ist in erstaunlich kurzer Zeit ein neues politisches Element in die Erscheinung getreten, das, wie zu hoffen und auch zu erwarten ist, zwar in die Schranken der Gesetzlichkeit zurückgedämmt, aber schwerlich mehr bis zur gänzlichen Unbedeutenheit wird unterdrückt werden können: der von seiner Hände Arbeit lebende Proletarierstand strebt nach politischen Rechten, zumal directer Theilnahme an der Legislatur des Landes durch Wahlberechtigung. Die agrarischen Träumereien und Leveller-Grillen des Chartismus werden an dem gesunden Volkssinn und der trotz ihrer Dehnbarkeit, oder vielmehr kraft dieser Dehnbarkeit, starken brittischen Verfassung ohne Zweifel in ihr Nichts zerscheitern; aber würde das, was in den Forderungen der untern Volksclassen <hi rendition="#g">relativ</hi> Vernünftiges und Haltbares, wenigstens Ausführbares liegt, durch einen glücklichen Gährungsproceß aus dem Chaos der politischen Narrheit sich ausscheiden, so könnte dann der Radicalismus, der im Parlament zwar Fuß gefaßt hat, bisher aber in demselben doch mehr die Rolle eines Theoretikers spielte, an dem verständigeren Theil der Chartisten einen nicht zu verachtenden <hi rendition="#g">praktischen</hi> Rückhalt und Nachdruck gewinnen. Daß die Chartisten auf dem Wege physischer Gewalt nichts ausrichten werden, scheint die leichte Unterdrückung des Aufstandes in Newport zur Genüge zu beweisen, und die Rädelsführer dieses thörichten Versuchs sehen jetzt vor einer Jury ihres Landes ihrem Urtheil entgegen. Indessen ist und bleibt der Chartismus ein wichtiges Zeitereigniß, und daß man ihn in England als ein solches betrachtet, dafür zeugt die Spannung, mit der man theils nach den Assisen in Monmouth blickt, theils allen Gerüchten von neuen Bewegungen lauscht. Unter diesen Umständen dürften folgende Auszüge aus einem Artikel, der eine dem Chartismus verwandte litterarische Erscheinung bespricht, für unsere Leser nicht ohne Interesse seyn. Sie sind den &#x201E;<hi rendition="#g">Blättern zur Kunde der Litteratur des Auslands</hi>, <hi rendition="#g">von Gustav Pfizer</hi>&#x201C; <hi rendition="#sup">*)</hi><note place="foot" n="*)"> Diese Blätter haben, als litterarische Beilage zum <hi rendition="#g">Ausland</hi>, mit 1840 ihren vierten Jahrgang angetreten, und enthalten, neben vielen gelungenen Nachbildungen in gebundener Rede (Vieles der Art, wie die Uebersetzungen von F. <hi rendition="#g">Freiligrath</hi> und die Béranger'schen Lieder von <hi rendition="#g">Rubens</hi>, die jetzt eigens gesammelt sind, ist darin zuerst erschienen), eine Reihe gediegener kritischen Arbeiten über die bedeutendsten litterarischen Persönlichkeiten und Erzeugnisse des Auslands, Englands und Frankreichs zunächst, auf belletristischem, philosophischem und historiographischem Feld.</note> entnommen, und unter Anderm auch dadurch bemerkenswerth, daß sie zeigen, wie leicht in England irgend einer politischen Bewegung sich ein Element verbindet, das in Frankreich bei ähnlichen Vorgängen, trotz der Bücher von Lamennais, fast gar nicht in Betracht kommt: das <hi rendition="#g">religiöse</hi>.</p><lb/>
        <p>&#x201E;Die chartistische Bewegung in England (heißt es darin), welche eine Zeitlang wohl geeignet war, ernste Besorgnisse für die Ruhe Englands hervorzurufen, die aber an dem Ansehen der Gesetze und an dem loyalen Sinn der Mehrheit des Volks scheiterte, hat auch sogleich einen und zwar nicht unbedeutenden Dichter gefunden. Sein Werk, betitelt: <hi rendition="#g">Ernst</hi>, <hi rendition="#g">oder die politische Wiedergeburt</hi>, in zwölf Büchern, London 1837, gedruckt für den Verfasser, ist nicht veröffentlicht worden; dagegen theilt das Monthly Magazine reichliche Proben daraus mit, nebst einer ausführlicheren Beurtheilung. Das Gedicht scheint uns eben so als litterarisches wie als sociales Phänomen alle Aufmerksamkeit zu verdienen. Wir haben uns entschlossen, das Gedicht ausführlicher zu beurtheilen, weil wir dieß für den ersprießlichsten Dienst halten, den wir den religiösen und politischen Bedürfnissen der Gegenwart zu leisten vermögen. Den extremsten Grundsätzen anhängend, ist der Verfasser dieses Werks ein Dichter vom ersten Rang und von der tiefsten Frömmigkeit. Was Shelley in dem republicanischen Ton zu dichten leistete, ward in seiner Wirkung vernichtet durch seinen gestandenen (obwohl fälschlich sogenannten) Atheismus. Er verurtheilte sich selbst und zerstörte den Einfluß seiner Productionen durch den Titel, den er annahm; der Verfasser des vorliegenden Gedichts dagegen ist durch und durch Miltonisch in Ansichten und Gesinnungen, politischen wie religiösen. Wie Milton irrt er, wenn er erwartet, daß das bloße, nackte Princip im socialen Leben durchgeführt werde, und daß es für die Gesellschaft, ohne die höchste Gefährdung, möglich sey, zu den ersten Elementen ihrer Verfassung zurückzukehren. Aus einer solchen Zersetzung müßte der Tod, nicht das Leben folgen. Und selbst wenn wir zugeben, daß bei Gemeinschaften, wie bei Individuen die Seele die Auflösung des Körpers überlebt: behaupten wir doch, daß sie nicht denselben Körper wieder beseelen werde. Für die Gesellschaft wie für die Individuen gilt die nicht genug eingeschärfte Wahrheit, daß die Organisation das Ergebniß des Lebens, daß die Verfassung der Gesellschaft, wie sie bei uns besteht, das Ergebniß eines specifischen Lebens ist; und daß, wenn sie einmal aufgelöst wird, es dann keine Reconstitution gibt, weil das Leben nicht als Endresultat zu einer Organisation hinzutritt, sondern als wirkende Ursache ihr vorangeht und sie in allen Theilen durchdringt. Jahrhunderte sind erforderlich zum Wachsthum und zur Entwicklung eines organischen Sociallebens, und kein Volk hat es je in seiner Macht, ein neues in einem Tag, einer Woche, einem Monat oder einem Jahr zu produciren, bloß durch eine Willensäußerung oder die Erlassung eines Beschlusses. Selbst gesetzgebende Versammlungen, ordentliche oder außerordentliche, alte Parlamente oder neue Nationalconvente, sind nur Theile des Gesammtkörpers, nicht seine Seele, viel weniger seine Schöpfer.</p><lb/>
        <p>&#x201E;Der vorliegende Dichter verdiente natürlich unsere Beachtung nicht, wäre es nicht augenfällig, daß er, wie Milton, ein Dichter und Theolog eben sowohl als ein Republicaner ist, und die letztere Eigenschaft wird uns um so wichtiger durch ihre Verbindung mit den beiden andern. Dieser Punkt möge sofort mit seinen eigenen Worten ins Licht gesetzt werden:</p><lb/>
        <lg type="poem">
          <l>&#x201E;Du, Poesie, bist, wie mein Herz dich kennt,</l><lb/>
          <l>Glaubensheroldin, Schutzgeist alles Guten;</l><lb/>
          <l>Das Menschenherz, das, ach! so fleischlich brennt,</l><lb/>
          <l>Sollst läutern du für reine Geistesgluthen.</l><lb/>
          <l>Warum bliebt beide ihr so lang getrennt?</l><lb/>
          <l>Doch endlich jetzt vermählet eure Fluthen</l><lb/>
          <l>In Eins, zu wild poetischer Melodie,</l><lb/>
          <l>Geweiht von tiefer, frommer Harmonie!</l><lb/>
          <l/>
          <l>Aus Phantasien viel Eine Wahrheit findend,</l><lb/>
          <l>Aus bunter Farben Meng' Ein reines Licht &#x2013;</l><lb/>
          <l>Aus viel Gefühlen Eine Seele bindend,</l><lb/>
          <l>Eine Vernunft, die hoch vom Throne spricht,</l><lb/>
          <l>Daß Fried' und Freude hier ein Reich sich gründend</l><lb/>
          <l>Mit Glorie krönen Gottes Angesicht &#x2013;</l><lb/>
          <l>O herrliche Vollendung!&#x201C;</l>
        </lg><lb/>
        <p>(Ein zweiter Artikel folgt.)</p><lb/>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0129/0009] Ernst, das Chartisten-Epos. In England ist in erstaunlich kurzer Zeit ein neues politisches Element in die Erscheinung getreten, das, wie zu hoffen und auch zu erwarten ist, zwar in die Schranken der Gesetzlichkeit zurückgedämmt, aber schwerlich mehr bis zur gänzlichen Unbedeutenheit wird unterdrückt werden können: der von seiner Hände Arbeit lebende Proletarierstand strebt nach politischen Rechten, zumal directer Theilnahme an der Legislatur des Landes durch Wahlberechtigung. Die agrarischen Träumereien und Leveller-Grillen des Chartismus werden an dem gesunden Volkssinn und der trotz ihrer Dehnbarkeit, oder vielmehr kraft dieser Dehnbarkeit, starken brittischen Verfassung ohne Zweifel in ihr Nichts zerscheitern; aber würde das, was in den Forderungen der untern Volksclassen relativ Vernünftiges und Haltbares, wenigstens Ausführbares liegt, durch einen glücklichen Gährungsproceß aus dem Chaos der politischen Narrheit sich ausscheiden, so könnte dann der Radicalismus, der im Parlament zwar Fuß gefaßt hat, bisher aber in demselben doch mehr die Rolle eines Theoretikers spielte, an dem verständigeren Theil der Chartisten einen nicht zu verachtenden praktischen Rückhalt und Nachdruck gewinnen. Daß die Chartisten auf dem Wege physischer Gewalt nichts ausrichten werden, scheint die leichte Unterdrückung des Aufstandes in Newport zur Genüge zu beweisen, und die Rädelsführer dieses thörichten Versuchs sehen jetzt vor einer Jury ihres Landes ihrem Urtheil entgegen. Indessen ist und bleibt der Chartismus ein wichtiges Zeitereigniß, und daß man ihn in England als ein solches betrachtet, dafür zeugt die Spannung, mit der man theils nach den Assisen in Monmouth blickt, theils allen Gerüchten von neuen Bewegungen lauscht. Unter diesen Umständen dürften folgende Auszüge aus einem Artikel, der eine dem Chartismus verwandte litterarische Erscheinung bespricht, für unsere Leser nicht ohne Interesse seyn. Sie sind den „Blättern zur Kunde der Litteratur des Auslands, von Gustav Pfizer“ *) *) entnommen, und unter Anderm auch dadurch bemerkenswerth, daß sie zeigen, wie leicht in England irgend einer politischen Bewegung sich ein Element verbindet, das in Frankreich bei ähnlichen Vorgängen, trotz der Bücher von Lamennais, fast gar nicht in Betracht kommt: das religiöse. „Die chartistische Bewegung in England (heißt es darin), welche eine Zeitlang wohl geeignet war, ernste Besorgnisse für die Ruhe Englands hervorzurufen, die aber an dem Ansehen der Gesetze und an dem loyalen Sinn der Mehrheit des Volks scheiterte, hat auch sogleich einen und zwar nicht unbedeutenden Dichter gefunden. Sein Werk, betitelt: Ernst, oder die politische Wiedergeburt, in zwölf Büchern, London 1837, gedruckt für den Verfasser, ist nicht veröffentlicht worden; dagegen theilt das Monthly Magazine reichliche Proben daraus mit, nebst einer ausführlicheren Beurtheilung. Das Gedicht scheint uns eben so als litterarisches wie als sociales Phänomen alle Aufmerksamkeit zu verdienen. Wir haben uns entschlossen, das Gedicht ausführlicher zu beurtheilen, weil wir dieß für den ersprießlichsten Dienst halten, den wir den religiösen und politischen Bedürfnissen der Gegenwart zu leisten vermögen. Den extremsten Grundsätzen anhängend, ist der Verfasser dieses Werks ein Dichter vom ersten Rang und von der tiefsten Frömmigkeit. Was Shelley in dem republicanischen Ton zu dichten leistete, ward in seiner Wirkung vernichtet durch seinen gestandenen (obwohl fälschlich sogenannten) Atheismus. Er verurtheilte sich selbst und zerstörte den Einfluß seiner Productionen durch den Titel, den er annahm; der Verfasser des vorliegenden Gedichts dagegen ist durch und durch Miltonisch in Ansichten und Gesinnungen, politischen wie religiösen. Wie Milton irrt er, wenn er erwartet, daß das bloße, nackte Princip im socialen Leben durchgeführt werde, und daß es für die Gesellschaft, ohne die höchste Gefährdung, möglich sey, zu den ersten Elementen ihrer Verfassung zurückzukehren. Aus einer solchen Zersetzung müßte der Tod, nicht das Leben folgen. Und selbst wenn wir zugeben, daß bei Gemeinschaften, wie bei Individuen die Seele die Auflösung des Körpers überlebt: behaupten wir doch, daß sie nicht denselben Körper wieder beseelen werde. Für die Gesellschaft wie für die Individuen gilt die nicht genug eingeschärfte Wahrheit, daß die Organisation das Ergebniß des Lebens, daß die Verfassung der Gesellschaft, wie sie bei uns besteht, das Ergebniß eines specifischen Lebens ist; und daß, wenn sie einmal aufgelöst wird, es dann keine Reconstitution gibt, weil das Leben nicht als Endresultat zu einer Organisation hinzutritt, sondern als wirkende Ursache ihr vorangeht und sie in allen Theilen durchdringt. Jahrhunderte sind erforderlich zum Wachsthum und zur Entwicklung eines organischen Sociallebens, und kein Volk hat es je in seiner Macht, ein neues in einem Tag, einer Woche, einem Monat oder einem Jahr zu produciren, bloß durch eine Willensäußerung oder die Erlassung eines Beschlusses. Selbst gesetzgebende Versammlungen, ordentliche oder außerordentliche, alte Parlamente oder neue Nationalconvente, sind nur Theile des Gesammtkörpers, nicht seine Seele, viel weniger seine Schöpfer. „Der vorliegende Dichter verdiente natürlich unsere Beachtung nicht, wäre es nicht augenfällig, daß er, wie Milton, ein Dichter und Theolog eben sowohl als ein Republicaner ist, und die letztere Eigenschaft wird uns um so wichtiger durch ihre Verbindung mit den beiden andern. Dieser Punkt möge sofort mit seinen eigenen Worten ins Licht gesetzt werden: „Du, Poesie, bist, wie mein Herz dich kennt, Glaubensheroldin, Schutzgeist alles Guten; Das Menschenherz, das, ach! so fleischlich brennt, Sollst läutern du für reine Geistesgluthen. Warum bliebt beide ihr so lang getrennt? Doch endlich jetzt vermählet eure Fluthen In Eins, zu wild poetischer Melodie, Geweiht von tiefer, frommer Harmonie! Aus Phantasien viel Eine Wahrheit findend, Aus bunter Farben Meng' Ein reines Licht – Aus viel Gefühlen Eine Seele bindend, Eine Vernunft, die hoch vom Throne spricht, Daß Fried' und Freude hier ein Reich sich gründend Mit Glorie krönen Gottes Angesicht – O herrliche Vollendung!“ (Ein zweiter Artikel folgt.) *) Diese Blätter haben, als litterarische Beilage zum Ausland, mit 1840 ihren vierten Jahrgang angetreten, und enthalten, neben vielen gelungenen Nachbildungen in gebundener Rede (Vieles der Art, wie die Uebersetzungen von F. Freiligrath und die Béranger'schen Lieder von Rubens, die jetzt eigens gesammelt sind, ist darin zuerst erschienen), eine Reihe gediegener kritischen Arbeiten über die bedeutendsten litterarischen Persönlichkeiten und Erzeugnisse des Auslands, Englands und Frankreichs zunächst, auf belletristischem, philosophischem und historiographischem Feld.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Deutsches Textarchiv: Bereitstellung der Texttranskription. (2016-06-28T11:37:15Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Matthias Boenig: Bearbeitung der digitalen Edition. (2016-06-28T11:37:15Z)

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: gekennzeichnet; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: keine Angabe; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: Lautwert transkribiert; I/J in Fraktur: Lautwert transkribiert; Kolumnentitel: gekennzeichnet; Kustoden: gekennzeichnet; langes s (ſ): als s transkribiert; Normalisierungen: keine Angabe; rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: aufgelöst; u/v bzw. U/V: Lautwert transkribiert; Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert; Vollständigkeit: teilweise erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: nein;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/augsburgerallgemeine_017_18400117
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/augsburgerallgemeine_017_18400117/9
Zitationshilfe: Allgemeine Zeitung. Nr. 17. Augsburg, 17. Januar 1840, S. 0129. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/augsburgerallgemeine_017_18400117/9>, abgerufen am 21.11.2024.