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Allgemeine Zeitung. Nr. 54. Augsburg, 23. Februar 1840.

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Briefe aus Pesth.
*)

Du verlangst über Ungarn etwas von mir zu hören - du lieber Gott! seit zwei Monaten bin ich hier, und weiß von Ungarn nicht viel mehr als der Zuschauer im Theater, ehe der Vorhang aufgezogen wird. Meine Schuld ist es nicht ganz, denn nach den ersten Tagen meiner Ankunft, die in Staubwolken gehüllt war, fing es an zu regnen, und hat seitdem nur mit kurzen Intervallen ausgesetzt, denn das Klima gehört nicht zu den Vorzügen Ungarns! Die Landstraßen sind nun fast unpassirbar, und selbst ein Spazierritt ist nur im Sumpfe möglich. Nebel verdecken den Horizont, und alle Ausflüge werden beinahe unmöglich. Auch die Gesellschaft der Hauptstadt ist out of town, weil der Landtag in Preßburg zwei Drittheile derselben fern hält. Es bliebe mir nichts übrig als politische Broschüren zu lesen, an denen es nicht fehlt, und einseitige mündliche Mittheilungen anzuhören, die freigebig geboten werden; aber wie trügt das, ohne selbst zu sehen, und du weißt schon aus meinem Brief an den Grafen Veltheim (ich schmeichle mir, du lasest ihn), daß ich weder für die pia noch impia desideria, so vortrefflich die erstern auch sind, weder für die rechten noch linken Veränderungsplane eher große Sympathie fühlen kann, bis ich mich genauer von ihrem wahren Werth überzeugt habe, hauptsächlich bis ich eingesehen, inwiefern sie an der Zeit sind, worauf eigentlich Alles allein ankommt, denn es gibt beinahe nichts, was nicht einmal unter gewissen Umständen gut wäre, und nichts ist so gut, daß es nicht später einmal schlecht werden könnte. Einen recht passenden Beleg für diese Wahrheit gibt gerade jetzt im Nachbarlande jener so viel besprochene Hattischeriff von der Fabrication eines in Frankreich confus gewordenen Ministers, die sogenannte neue Constitution, die man den jungen Sultan seinen Völkern hat octroyiren lassen, welche wirklich ganz erbaulich in der Theorie, aber bei der totalen Demoralisation der einflußreicheren Classen in der Türkei, und der Stumpfheit der niedern, leider ganz unausführbar in der Praxis ist, und mir daher nur das allerwirksamste Mittel scheint, das man zum Vortheile Mehemed Ali's und Anderer von gleichem Interesse, die man doch keineswegs begünstigen will, aussinnen konnte, eine neue Wunde, die sich der türkische Herrscher selbst applicirt, fast einer zweiten Janitscharenvernichtung im unglücklichsten Moment zu vergleichen, die alles, was mächtig im Reiche ist, zum stillen Widerstand und Haß gegen die Regierung reizen muß. Höchstens werden die Großen die Concession benutzen, um sich selbst besser als bisher gegen den Sultan zu schützen, aber nie zulassen, daß dieß auch weiter nach unten geschehe. Es ist allerdings traurig, daß dem so ist, aber es ist so, und die Zukunft wird vielleicht bald auch den Kurzsichtigsten davon überführen, wenn man das unthunliche Project mit Ernst weiter verfolgt, was jedoch kaum zu besorgen ist.

Wenn also das an sich Gute zu früh oder zu spät kommt, macht es das Uebel nur ärger, indeß die Vorsehung, erhaben über der Menschen blinden Wahn, es dennoch zuletzt immer zum Fortschritt des Ganzen zu wenden weiß, und insofern ist auch Alles gut - was geschieht. Ferner bleibt selbst das Verfehlteste, doch immer für Einen oder den Andern ersprießlich, wie exempli gratia der früher so hochbelobte Handelstractat mit der Türkei - den der Smyrnaer Correspondent der Allgemeinen Zeitung mit Recht: eine der des Lords Ponsonby würdigsten Conceptionen nennt - sich wenigstens für die Russen gut ausweist, die nicht daran Theil nahmen. Viele wundern sich überhaupt, daß diese sonst so thätig eingreifende nordische Macht seit einiger Zeit eine fast passive, stets nachgebende Rolle in den Angelegenheiten des Orients zu spielen scheint. Ich wundere mich nicht im geringsten darüber. Es gibt Lagen, wo man so glücklich situirt ist, die Hände ganz sorglos in den Schooß legen zu können, sicher, daß die Ungeschicklichkeit, die Uebereilung, das Schwanken, oder die Apathie Anderer, die ganze gewünschte Arbeit schon von selbst verrichten werden.

Daß übrigens, man thue was man wolle, das türkische Reich, wie es noch schattenartig besteht, in nicht langer Zeit ganz zusammenfallen muß, davon bin ich fest überzeugt, aber daß dadurch (alle politischen Folgen jetzt ganz bei Seite gesetzt) wie sich kürzlich eine beredte Stimme vernehmen ließ, auch eine allmähliche Verschwindung des Islams herbeigeführt werden könnte, das halte ich für einen großen Irrthum. Der Islamismus ist eine wahre und ächte Volksreligion, zum großen Theil auf nimmer zu vertilgende Eigenschaften und Bedürfnisse der orientalischen Bevölkerungen mit genialem Geiste gegründet, und nicht bloß eine abtrünnige Secte mit negativen Tendenzen, die trotz aller Bemühungen und günstigen Umstände zu keinem organischen, wahren Leben erstarken kann. Eine so beschaffene Religion aber ist nicht so leicht über den Haufen zu werfen. Ich glaube im Gegentheil, daß das Ende der türkischen Herrschaft, die während ihrer Größe und ihres Falles am meisten dazu beigetragen hat, die Religion Mohammeds zu corrumpiren (welche unter den Khalifen und in Spanien wohl bewiesen hat, daß sie weder eine Feindin der Kunst und Wissenschaft noch wesentlich zerstörend sey) sich gerade als eins der wirksamsten Mittel zu ihrer Reinigung und Erfrischung ausweisen wird, und daß solchergestalt der sich vorbereitende Fortschritt der orientalischen Civilisation wohl durch europäische Einflüsse unterstützt werden kann, aber dennoch aus eigener Kraft, und seiner eigenthümlichen Natur getreu neu emporblühen werde. Mithin steht es keineswegs zu befürchten, daß nach den Worten des angezogenen Autors "jene Monotie und Gleichförmigkeit, die sich im Allgemeinen im christlichen Staaten-, Völker- und Gesellschaftsleben täglich fühlbarer machen, noch unerträglicher werden möchten, wenn sie sich auch über eine Welt ausbreiteten, in der sich der Geist und das Leben der Menschheit in einem eigenthümlichen Medium bricht." O nein, des Orients glühend Leben wird unter dem Hauch dieses kalten Nordwindes nicht erblassen, und das einst in breiten Strömen sich nothwendig dahin ergießende Europa wird auch für sich selbst seinen Theil davon zu nehmen wissen. Der türkische Koloß, der noch heute über mehr Land gebietet, als die ansehnlichsten Reiche Europa's einnehmen, und dieses nur paralysirt, wird trotz seiner so lange bewiesenen Zähigkeit sterben, aber die Macht, die Unabhängigkeit und der Welteinfluß des Orients deßhalb nicht untergehen, auch ihm ein zweiter Mehemed Ali, und ein größerer, zu seiner Zeit nicht fehlen.

Ueber Ungarns Zustände also, um auf mein erstes Thema zurückzukommen, weiß ich vor der Hand nichts Anderes zu melden, als daß ich im Allgemeinen einer großen Aufregung hier gewahr werde; ferner eine sehr active und zum Theil

*) Durch Zufall etwas verspätet Der Aufsatz sollte schon vor mehreren Wochen erscheinen.
Briefe aus Pesth.
*)

♔Du verlangst über Ungarn etwas von mir zu hören – du lieber Gott! seit zwei Monaten bin ich hier, und weiß von Ungarn nicht viel mehr als der Zuschauer im Theater, ehe der Vorhang aufgezogen wird. Meine Schuld ist es nicht ganz, denn nach den ersten Tagen meiner Ankunft, die in Staubwolken gehüllt war, fing es an zu regnen, und hat seitdem nur mit kurzen Intervallen ausgesetzt, denn das Klima gehört nicht zu den Vorzügen Ungarns! Die Landstraßen sind nun fast unpassirbar, und selbst ein Spazierritt ist nur im Sumpfe möglich. Nebel verdecken den Horizont, und alle Ausflüge werden beinahe unmöglich. Auch die Gesellschaft der Hauptstadt ist out of town, weil der Landtag in Preßburg zwei Drittheile derselben fern hält. Es bliebe mir nichts übrig als politische Broschüren zu lesen, an denen es nicht fehlt, und einseitige mündliche Mittheilungen anzuhören, die freigebig geboten werden; aber wie trügt das, ohne selbst zu sehen, und du weißt schon aus meinem Brief an den Grafen Veltheim (ich schmeichle mir, du lasest ihn), daß ich weder für die pia noch impia desideria, so vortrefflich die erstern auch sind, weder für die rechten noch linken Veränderungsplane eher große Sympathie fühlen kann, bis ich mich genauer von ihrem wahren Werth überzeugt habe, hauptsächlich bis ich eingesehen, inwiefern sie an der Zeit sind, worauf eigentlich Alles allein ankommt, denn es gibt beinahe nichts, was nicht einmal unter gewissen Umständen gut wäre, und nichts ist so gut, daß es nicht später einmal schlecht werden könnte. Einen recht passenden Beleg für diese Wahrheit gibt gerade jetzt im Nachbarlande jener so viel besprochene Hattischeriff von der Fabrication eines in Frankreich confus gewordenen Ministers, die sogenannte neue Constitution, die man den jungen Sultan seinen Völkern hat octroyiren lassen, welche wirklich ganz erbaulich in der Theorie, aber bei der totalen Demoralisation der einflußreicheren Classen in der Türkei, und der Stumpfheit der niedern, leider ganz unausführbar in der Praxis ist, und mir daher nur das allerwirksamste Mittel scheint, das man zum Vortheile Mehemed Ali's und Anderer von gleichem Interesse, die man doch keineswegs begünstigen will, aussinnen konnte, eine neue Wunde, die sich der türkische Herrscher selbst applicirt, fast einer zweiten Janitscharenvernichtung im unglücklichsten Moment zu vergleichen, die alles, was mächtig im Reiche ist, zum stillen Widerstand und Haß gegen die Regierung reizen muß. Höchstens werden die Großen die Concession benutzen, um sich selbst besser als bisher gegen den Sultan zu schützen, aber nie zulassen, daß dieß auch weiter nach unten geschehe. Es ist allerdings traurig, daß dem so ist, aber es ist so, und die Zukunft wird vielleicht bald auch den Kurzsichtigsten davon überführen, wenn man das unthunliche Project mit Ernst weiter verfolgt, was jedoch kaum zu besorgen ist.

Wenn also das an sich Gute zu früh oder zu spät kommt, macht es das Uebel nur ärger, indeß die Vorsehung, erhaben über der Menschen blinden Wahn, es dennoch zuletzt immer zum Fortschritt des Ganzen zu wenden weiß, und insofern ist auch Alles gut – was geschieht. Ferner bleibt selbst das Verfehlteste, doch immer für Einen oder den Andern ersprießlich, wie exempli gratia der früher so hochbelobte Handelstractat mit der Türkei – den der Smyrnaer Correspondent der Allgemeinen Zeitung mit Recht: eine der des Lords Ponsonby würdigsten Conceptionen nennt – sich wenigstens für die Russen gut ausweist, die nicht daran Theil nahmen. Viele wundern sich überhaupt, daß diese sonst so thätig eingreifende nordische Macht seit einiger Zeit eine fast passive, stets nachgebende Rolle in den Angelegenheiten des Orients zu spielen scheint. Ich wundere mich nicht im geringsten darüber. Es gibt Lagen, wo man so glücklich situirt ist, die Hände ganz sorglos in den Schooß legen zu können, sicher, daß die Ungeschicklichkeit, die Uebereilung, das Schwanken, oder die Apathie Anderer, die ganze gewünschte Arbeit schon von selbst verrichten werden.

Daß übrigens, man thue was man wolle, das türkische Reich, wie es noch schattenartig besteht, in nicht langer Zeit ganz zusammenfallen muß, davon bin ich fest überzeugt, aber daß dadurch (alle politischen Folgen jetzt ganz bei Seite gesetzt) wie sich kürzlich eine beredte Stimme vernehmen ließ, auch eine allmähliche Verschwindung des Islams herbeigeführt werden könnte, das halte ich für einen großen Irrthum. Der Islamismus ist eine wahre und ächte Volksreligion, zum großen Theil auf nimmer zu vertilgende Eigenschaften und Bedürfnisse der orientalischen Bevölkerungen mit genialem Geiste gegründet, und nicht bloß eine abtrünnige Secte mit negativen Tendenzen, die trotz aller Bemühungen und günstigen Umstände zu keinem organischen, wahren Leben erstarken kann. Eine so beschaffene Religion aber ist nicht so leicht über den Haufen zu werfen. Ich glaube im Gegentheil, daß das Ende der türkischen Herrschaft, die während ihrer Größe und ihres Falles am meisten dazu beigetragen hat, die Religion Mohammeds zu corrumpiren (welche unter den Khalifen und in Spanien wohl bewiesen hat, daß sie weder eine Feindin der Kunst und Wissenschaft noch wesentlich zerstörend sey) sich gerade als eins der wirksamsten Mittel zu ihrer Reinigung und Erfrischung ausweisen wird, und daß solchergestalt der sich vorbereitende Fortschritt der orientalischen Civilisation wohl durch europäische Einflüsse unterstützt werden kann, aber dennoch aus eigener Kraft, und seiner eigenthümlichen Natur getreu neu emporblühen werde. Mithin steht es keineswegs zu befürchten, daß nach den Worten des angezogenen Autors „jene Monotie und Gleichförmigkeit, die sich im Allgemeinen im christlichen Staaten-, Völker- und Gesellschaftsleben täglich fühlbarer machen, noch unerträglicher werden möchten, wenn sie sich auch über eine Welt ausbreiteten, in der sich der Geist und das Leben der Menschheit in einem eigenthümlichen Medium bricht.“ O nein, des Orients glühend Leben wird unter dem Hauch dieses kalten Nordwindes nicht erblassen, und das einst in breiten Strömen sich nothwendig dahin ergießende Europa wird auch für sich selbst seinen Theil davon zu nehmen wissen. Der türkische Koloß, der noch heute über mehr Land gebietet, als die ansehnlichsten Reiche Europa's einnehmen, und dieses nur paralysirt, wird trotz seiner so lange bewiesenen Zähigkeit sterben, aber die Macht, die Unabhängigkeit und der Welteinfluß des Orients deßhalb nicht untergehen, auch ihm ein zweiter Mehemed Ali, und ein größerer, zu seiner Zeit nicht fehlen.

Ueber Ungarns Zustände also, um auf mein erstes Thema zurückzukommen, weiß ich vor der Hand nichts Anderes zu melden, als daß ich im Allgemeinen einer großen Aufregung hier gewahr werde; ferner eine sehr active und zum Theil

*) Durch Zufall etwas verspätet Der Aufsatz sollte schon vor mehreren Wochen erscheinen.
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[0425/0009] Briefe aus Pesth. *) ♔Du verlangst über Ungarn etwas von mir zu hören – du lieber Gott! seit zwei Monaten bin ich hier, und weiß von Ungarn nicht viel mehr als der Zuschauer im Theater, ehe der Vorhang aufgezogen wird. Meine Schuld ist es nicht ganz, denn nach den ersten Tagen meiner Ankunft, die in Staubwolken gehüllt war, fing es an zu regnen, und hat seitdem nur mit kurzen Intervallen ausgesetzt, denn das Klima gehört nicht zu den Vorzügen Ungarns! Die Landstraßen sind nun fast unpassirbar, und selbst ein Spazierritt ist nur im Sumpfe möglich. Nebel verdecken den Horizont, und alle Ausflüge werden beinahe unmöglich. Auch die Gesellschaft der Hauptstadt ist out of town, weil der Landtag in Preßburg zwei Drittheile derselben fern hält. Es bliebe mir nichts übrig als politische Broschüren zu lesen, an denen es nicht fehlt, und einseitige mündliche Mittheilungen anzuhören, die freigebig geboten werden; aber wie trügt das, ohne selbst zu sehen, und du weißt schon aus meinem Brief an den Grafen Veltheim (ich schmeichle mir, du lasest ihn), daß ich weder für die pia noch impia desideria, so vortrefflich die erstern auch sind, weder für die rechten noch linken Veränderungsplane eher große Sympathie fühlen kann, bis ich mich genauer von ihrem wahren Werth überzeugt habe, hauptsächlich bis ich eingesehen, inwiefern sie an der Zeit sind, worauf eigentlich Alles allein ankommt, denn es gibt beinahe nichts, was nicht einmal unter gewissen Umständen gut wäre, und nichts ist so gut, daß es nicht später einmal schlecht werden könnte. Einen recht passenden Beleg für diese Wahrheit gibt gerade jetzt im Nachbarlande jener so viel besprochene Hattischeriff von der Fabrication eines in Frankreich confus gewordenen Ministers, die sogenannte neue Constitution, die man den jungen Sultan seinen Völkern hat octroyiren lassen, welche wirklich ganz erbaulich in der Theorie, aber bei der totalen Demoralisation der einflußreicheren Classen in der Türkei, und der Stumpfheit der niedern, leider ganz unausführbar in der Praxis ist, und mir daher nur das allerwirksamste Mittel scheint, das man zum Vortheile Mehemed Ali's und Anderer von gleichem Interesse, die man doch keineswegs begünstigen will, aussinnen konnte, eine neue Wunde, die sich der türkische Herrscher selbst applicirt, fast einer zweiten Janitscharenvernichtung im unglücklichsten Moment zu vergleichen, die alles, was mächtig im Reiche ist, zum stillen Widerstand und Haß gegen die Regierung reizen muß. Höchstens werden die Großen die Concession benutzen, um sich selbst besser als bisher gegen den Sultan zu schützen, aber nie zulassen, daß dieß auch weiter nach unten geschehe. Es ist allerdings traurig, daß dem so ist, aber es ist so, und die Zukunft wird vielleicht bald auch den Kurzsichtigsten davon überführen, wenn man das unthunliche Project mit Ernst weiter verfolgt, was jedoch kaum zu besorgen ist. Wenn also das an sich Gute zu früh oder zu spät kommt, macht es das Uebel nur ärger, indeß die Vorsehung, erhaben über der Menschen blinden Wahn, es dennoch zuletzt immer zum Fortschritt des Ganzen zu wenden weiß, und insofern ist auch Alles gut – was geschieht. Ferner bleibt selbst das Verfehlteste, doch immer für Einen oder den Andern ersprießlich, wie exempli gratia der früher so hochbelobte Handelstractat mit der Türkei – den der Smyrnaer Correspondent der Allgemeinen Zeitung mit Recht: eine der des Lords Ponsonby würdigsten Conceptionen nennt – sich wenigstens für die Russen gut ausweist, die nicht daran Theil nahmen. Viele wundern sich überhaupt, daß diese sonst so thätig eingreifende nordische Macht seit einiger Zeit eine fast passive, stets nachgebende Rolle in den Angelegenheiten des Orients zu spielen scheint. Ich wundere mich nicht im geringsten darüber. Es gibt Lagen, wo man so glücklich situirt ist, die Hände ganz sorglos in den Schooß legen zu können, sicher, daß die Ungeschicklichkeit, die Uebereilung, das Schwanken, oder die Apathie Anderer, die ganze gewünschte Arbeit schon von selbst verrichten werden. Daß übrigens, man thue was man wolle, das türkische Reich, wie es noch schattenartig besteht, in nicht langer Zeit ganz zusammenfallen muß, davon bin ich fest überzeugt, aber daß dadurch (alle politischen Folgen jetzt ganz bei Seite gesetzt) wie sich kürzlich eine beredte Stimme vernehmen ließ, auch eine allmähliche Verschwindung des Islams herbeigeführt werden könnte, das halte ich für einen großen Irrthum. Der Islamismus ist eine wahre und ächte Volksreligion, zum großen Theil auf nimmer zu vertilgende Eigenschaften und Bedürfnisse der orientalischen Bevölkerungen mit genialem Geiste gegründet, und nicht bloß eine abtrünnige Secte mit negativen Tendenzen, die trotz aller Bemühungen und günstigen Umstände zu keinem organischen, wahren Leben erstarken kann. Eine so beschaffene Religion aber ist nicht so leicht über den Haufen zu werfen. Ich glaube im Gegentheil, daß das Ende der türkischen Herrschaft, die während ihrer Größe und ihres Falles am meisten dazu beigetragen hat, die Religion Mohammeds zu corrumpiren (welche unter den Khalifen und in Spanien wohl bewiesen hat, daß sie weder eine Feindin der Kunst und Wissenschaft noch wesentlich zerstörend sey) sich gerade als eins der wirksamsten Mittel zu ihrer Reinigung und Erfrischung ausweisen wird, und daß solchergestalt der sich vorbereitende Fortschritt der orientalischen Civilisation wohl durch europäische Einflüsse unterstützt werden kann, aber dennoch aus eigener Kraft, und seiner eigenthümlichen Natur getreu neu emporblühen werde. Mithin steht es keineswegs zu befürchten, daß nach den Worten des angezogenen Autors „jene Monotie und Gleichförmigkeit, die sich im Allgemeinen im christlichen Staaten-, Völker- und Gesellschaftsleben täglich fühlbarer machen, noch unerträglicher werden möchten, wenn sie sich auch über eine Welt ausbreiteten, in der sich der Geist und das Leben der Menschheit in einem eigenthümlichen Medium bricht.“ O nein, des Orients glühend Leben wird unter dem Hauch dieses kalten Nordwindes nicht erblassen, und das einst in breiten Strömen sich nothwendig dahin ergießende Europa wird auch für sich selbst seinen Theil davon zu nehmen wissen. Der türkische Koloß, der noch heute über mehr Land gebietet, als die ansehnlichsten Reiche Europa's einnehmen, und dieses nur paralysirt, wird trotz seiner so lange bewiesenen Zähigkeit sterben, aber die Macht, die Unabhängigkeit und der Welteinfluß des Orients deßhalb nicht untergehen, auch ihm ein zweiter Mehemed Ali, und ein größerer, zu seiner Zeit nicht fehlen. Ueber Ungarns Zustände also, um auf mein erstes Thema zurückzukommen, weiß ich vor der Hand nichts Anderes zu melden, als daß ich im Allgemeinen einer großen Aufregung hier gewahr werde; ferner eine sehr active und zum Theil *) Durch Zufall etwas verspätet Der Aufsatz sollte schon vor mehreren Wochen erscheinen.

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Zitationshilfe: Allgemeine Zeitung. Nr. 54. Augsburg, 23. Februar 1840, S. 0425. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/augsburgerallgemeine_054_18400223/9>, abgerufen am 03.12.2024.