Allgemeine Zeitung. Nr. 71. Augsburg, 11. März 1840.Die russische Expedition nach Chiwa. Der Tempel des russischen Janus hat wieder eines seiner vielen Thore geöffnet. Eine lange vorbereitete Expedition ist ins Feld gerückt. 20,000 Russen, Kosaken und verbündete Kirgisen haben schon seit mehreren Wochen in die Wüste zwischen Aralsee und Kaspi-Meer eingelenkt. Die Nachrichten von ihnen gehen uns spärlich zu und unserer Phantasie bleibt ein großer Spielraum, die Schlachten, welche dort jetzt den Truchmenen und Karakalpaken, den Aralern, Konratern und Usbeken geliefert werden, die Festungen, welche man cernirt, die Städte, welche man einnimmt oder verwüstet - Chiwa hat deren acht - und die Leiden der dort jetzt hadernden Menschheit uns nach Belieben auszumalen. Leicht wird dieß Stück Arbeit, welches sie unternommen haben, den Russen auf keinen Fall werden. Die Steppen, welche sie durchziehen, sind wüster als irgend welche - die Völker, deren Gebiet sie durchschreiten, und auf deren Hülfe sie rechnen, wahrlich nicht die freundschaftlichst gesinnten. Werden sie sich muthig durchschlagen? oder werden sie alle wie Cyrus und sein Heer in eben diesen Ländern der Massageten elend umkommen? Wenn man die Wüsten und Barbaren besiegt, was wird geschehen? Wird man den alten, viele hundert Jahre bestehenden Staat von Chowaresm vernichten? Und diese Vernichtung, welche Folgen wird sie haben für die Nachbarstaaten, für Bochara, Kokan, Taschkend, für das alte Samarkand und die andern den Chiwaern verbrüderten Staaten? Bis die Zukunft den Schleier von dem abzieht, wollen wir uns zunächst einmal der frühern Vorgänge auf diesem neuen Theater russischer Waffenthaten erinnern. Freilich hätte diese Angelegenheit ein geringeres Interesse, wenn wir sie aus dem Gesichtspunkt betrachten wollten, auf welchen uns die russische Kriegserklärung stellen will. Ihr zufolge bedeutete die ganze Sache nicht viel mehr, als einer jener alljährlichen Züge gegen irgend eines der barbarischen Nachbarvölker Rußlands. Es gälte nur der mit Fug und Recht angesprochenen Befreiung einiger russischer Gefangener, der Bestrafung eines räuberischen und feindseligen Nachbarn, und der Unterwerfung eines wilden barbarischen Volksstammes. Faßt man aber eine Ansicht der Sache auf, wie die Geschichte und eine Erwägung der geographischen Verhältnisse des Landes sie an die Hand geben, so zeigt sich Alles in einem andern Licht. Zunächst ist der Staat von Chiwa selbst nichts weniger als eine Kleinigkeit. Der letzte Chan von Chiwa, Mohammed Rahim, für dessen Tage noch im Jahr 1820 der russische Generalcommandeur des Kaukasus Yermolow innige Gebete zum Himmel schickte, und der in den freundlichen Briefen dieses Generals und seiner Abgesandten nicht Chef eines barbarischen Volksstammes, sondern "Hoheit," "Erlauchter Souverän" und "Großer Herr der Gegenden des Ostens" genannt wird - dieser Mohammed Rahim, sage ich, seit 1802 auf dem Thron, ein Mann von ausgezeichneten Eigenschaften, von riesenmäßiger Statur, ein Barbarossa, *)*) hat den Staat anfänglich durch außerordentliche Grausamkeiten, durch Ermordung aller seiner Verwandten und Nebenbuhler, durch völlige Vernichtung der Gewalt der vornehmen Usbekenfamilien, welche das Ansehen der Chane, seiner Vorgänger, fast auf null reducirt hatten, und nachher durch einige Feldzüge gegen Persien und Bochara so wie durch Anknüpfung von Verbindungen mit Truchmenen und Kirgisenstämmen, endlich durch eine kräftige und nicht unweise innere Verwaltung auf eine Höhe von Macht und Ansehen gebracht, wie derselbe sie wenigstens im Laufe der letzten Jahrhunderte nicht erreicht hatte. Der letzte russische Reisende, Hr. v. Murawieff, stand daher im Jahr 1820 auch nicht an, Chiwa geradezu als einen höchst beachtungswerthen Staat des mittlern Asiens zu bezeichnen. Die Bewohner des Landes, ohne Zweifel wenigstens eine halbe Million, sind zum größten Theil keineswegs Nomaden, sondern Ackerbauer und Kaufleute, und haben wenigstens durchweg, wie es scheint, dieselbe Bildung erlangt, welche wir bei den Türken, Persern und andern Mohammedanern heimisch finden. Hr. v. Murawieff berechnet die Einkünfte des Staatsoberhaupts auf 4,000,000 Franken, und wenn diese in Zukunft für das russische Gouvernement verrechnet würden, so fände dasselbe darin allein schon eine ziemlich ergiebige Quelle zur Deckung der Kosten einer solchen Expedition. Weit wichtiger aber noch als durch seine eigenen unmittelbaren Hülfsquellen erscheint der Staat von Chiwa durch seine Beziehungen zu den Nachbarstaaten. Er ist nur einer von vielen andern Staaten, die alle mit einander durch Aehnlichkeit ihrer Verhältnisse und ihrer Bevölkerung als verbrüdert, gleichsam als ein Staatenbund betrachtet werden können. Bochara, Kokan, Taschkent, Badakschan, Hissar und andere wichtige Chanate, die alle mit einander, wie Chiwa, in den Flußgebieten des Aral-Sees liegen, und zusammen das centrale Asien, das Mittelland zwischen Indien, China und Rußland, ausmachen, das ganze Turan - Turkestan, wie die Engländer sagen, die freie Tartarei oder Dschaggatai, wie wir jenes Ländergebiet nennen - sieht sich durch jene russische Expedition in einem seiner Theile angegriffen und in seiner ganzen Existenz bedroht. Es ist dieselbe also nicht eine auf Geringes zielende, einen einzelnen kleinen Fürsten bestrafende Unternehmung, sondern es ist ein Uebertritt der russischen Colonisation in ein ihr bisher noch ganz neues weitläuftiges Flußsystem, in das des Oxus und Jaxartes. Es ist ein Einschreiten in ein bisher noch unberührtes Länder- und Völkergebiet, in das der sogenannten freien Tartaren. Es ist ein Schritt, der eine Menge anderer Schritte in seinem Gefolge haben wird - ein Krieg, der uns für unser ganzes neunzehntes Jahrhundert eine Reihe von Kriegen in Aussicht stellt. Wenn die beabsichtigte Eroberung Chiwa's an sich schon des Gewichts dieses Staats wegen nicht unbedeutend ist, aber noch bedeutender erscheint, weil sie die äußerste nordwestliche Vorhut eines ganzen großen Staatenbundes antastet, so erhält ihre Wichtigkeit ihre volle Beleuchtung, wenn man die Beziehungen und Verbindungen Chiwa's mit den entfernten und ihm nicht verbrüderten Ländern Afghanistan und Indien, oder mit einem Wort die Position, die es in dem ganzen Länderkreise Asiens einnimmt, betrachtet. Der Dschihun oder Oxus, der Amu-Derja unserer Karten führt seine Gewässer, die in der Nähe des Gebiets der indischen Flüsse entspringen, 250 Meilen weit von Osten nach Westen. Sein befruchtender Lauf macht die Gegenden, welche er durchfließt, ganz bewohnbar, und es nimmt daher einer jener vielen, vom reichen Indien aus die Welt durchziehenden, und *) Die Rothbärte werden bekanntlich im Orient immer für außerordentliche Leute gehalten.
Die russische Expedition nach Chiwa. Der Tempel des russischen Janus hat wieder eines seiner vielen Thore geöffnet. Eine lange vorbereitete Expedition ist ins Feld gerückt. 20,000 Russen, Kosaken und verbündete Kirgisen haben schon seit mehreren Wochen in die Wüste zwischen Aralsee und Kaspi-Meer eingelenkt. Die Nachrichten von ihnen gehen uns spärlich zu und unserer Phantasie bleibt ein großer Spielraum, die Schlachten, welche dort jetzt den Truchmenen und Karakalpaken, den Aralern, Konratern und Usbeken geliefert werden, die Festungen, welche man cernirt, die Städte, welche man einnimmt oder verwüstet – Chiwa hat deren acht – und die Leiden der dort jetzt hadernden Menschheit uns nach Belieben auszumalen. Leicht wird dieß Stück Arbeit, welches sie unternommen haben, den Russen auf keinen Fall werden. Die Steppen, welche sie durchziehen, sind wüster als irgend welche – die Völker, deren Gebiet sie durchschreiten, und auf deren Hülfe sie rechnen, wahrlich nicht die freundschaftlichst gesinnten. Werden sie sich muthig durchschlagen? oder werden sie alle wie Cyrus und sein Heer in eben diesen Ländern der Massageten elend umkommen? Wenn man die Wüsten und Barbaren besiegt, was wird geschehen? Wird man den alten, viele hundert Jahre bestehenden Staat von Chowaresm vernichten? Und diese Vernichtung, welche Folgen wird sie haben für die Nachbarstaaten, für Bochara, Kokan, Taschkend, für das alte Samarkand und die andern den Chiwaern verbrüderten Staaten? Bis die Zukunft den Schleier von dem abzieht, wollen wir uns zunächst einmal der frühern Vorgänge auf diesem neuen Theater russischer Waffenthaten erinnern. Freilich hätte diese Angelegenheit ein geringeres Interesse, wenn wir sie aus dem Gesichtspunkt betrachten wollten, auf welchen uns die russische Kriegserklärung stellen will. Ihr zufolge bedeutete die ganze Sache nicht viel mehr, als einer jener alljährlichen Züge gegen irgend eines der barbarischen Nachbarvölker Rußlands. Es gälte nur der mit Fug und Recht angesprochenen Befreiung einiger russischer Gefangener, der Bestrafung eines räuberischen und feindseligen Nachbarn, und der Unterwerfung eines wilden barbarischen Volksstammes. Faßt man aber eine Ansicht der Sache auf, wie die Geschichte und eine Erwägung der geographischen Verhältnisse des Landes sie an die Hand geben, so zeigt sich Alles in einem andern Licht. Zunächst ist der Staat von Chiwa selbst nichts weniger als eine Kleinigkeit. Der letzte Chan von Chiwa, Mohammed Rahim, für dessen Tage noch im Jahr 1820 der russische Generalcommandeur des Kaukasus Yermolow innige Gebete zum Himmel schickte, und der in den freundlichen Briefen dieses Generals und seiner Abgesandten nicht Chef eines barbarischen Volksstammes, sondern „Hoheit,“ „Erlauchter Souverän“ und „Großer Herr der Gegenden des Ostens“ genannt wird – dieser Mohammed Rahim, sage ich, seit 1802 auf dem Thron, ein Mann von ausgezeichneten Eigenschaften, von riesenmäßiger Statur, ein Barbarossa, *)*) hat den Staat anfänglich durch außerordentliche Grausamkeiten, durch Ermordung aller seiner Verwandten und Nebenbuhler, durch völlige Vernichtung der Gewalt der vornehmen Usbekenfamilien, welche das Ansehen der Chane, seiner Vorgänger, fast auf null reducirt hatten, und nachher durch einige Feldzüge gegen Persien und Bochara so wie durch Anknüpfung von Verbindungen mit Truchmenen und Kirgisenstämmen, endlich durch eine kräftige und nicht unweise innere Verwaltung auf eine Höhe von Macht und Ansehen gebracht, wie derselbe sie wenigstens im Laufe der letzten Jahrhunderte nicht erreicht hatte. Der letzte russische Reisende, Hr. v. Murawieff, stand daher im Jahr 1820 auch nicht an, Chiwa geradezu als einen höchst beachtungswerthen Staat des mittlern Asiens zu bezeichnen. Die Bewohner des Landes, ohne Zweifel wenigstens eine halbe Million, sind zum größten Theil keineswegs Nomaden, sondern Ackerbauer und Kaufleute, und haben wenigstens durchweg, wie es scheint, dieselbe Bildung erlangt, welche wir bei den Türken, Persern und andern Mohammedanern heimisch finden. Hr. v. Murawieff berechnet die Einkünfte des Staatsoberhaupts auf 4,000,000 Franken, und wenn diese in Zukunft für das russische Gouvernement verrechnet würden, so fände dasselbe darin allein schon eine ziemlich ergiebige Quelle zur Deckung der Kosten einer solchen Expedition. Weit wichtiger aber noch als durch seine eigenen unmittelbaren Hülfsquellen erscheint der Staat von Chiwa durch seine Beziehungen zu den Nachbarstaaten. Er ist nur einer von vielen andern Staaten, die alle mit einander durch Aehnlichkeit ihrer Verhältnisse und ihrer Bevölkerung als verbrüdert, gleichsam als ein Staatenbund betrachtet werden können. Bochara, Kokan, Taschkent, Badakschan, Hissar und andere wichtige Chanate, die alle mit einander, wie Chiwa, in den Flußgebieten des Aral-Sees liegen, und zusammen das centrale Asien, das Mittelland zwischen Indien, China und Rußland, ausmachen, das ganze Turan – Turkestan, wie die Engländer sagen, die freie Tartarei oder Dschaggatai, wie wir jenes Ländergebiet nennen – sieht sich durch jene russische Expedition in einem seiner Theile angegriffen und in seiner ganzen Existenz bedroht. Es ist dieselbe also nicht eine auf Geringes zielende, einen einzelnen kleinen Fürsten bestrafende Unternehmung, sondern es ist ein Uebertritt der russischen Colonisation in ein ihr bisher noch ganz neues weitläuftiges Flußsystem, in das des Oxus und Jaxartes. Es ist ein Einschreiten in ein bisher noch unberührtes Länder- und Völkergebiet, in das der sogenannten freien Tartaren. Es ist ein Schritt, der eine Menge anderer Schritte in seinem Gefolge haben wird – ein Krieg, der uns für unser ganzes neunzehntes Jahrhundert eine Reihe von Kriegen in Aussicht stellt. Wenn die beabsichtigte Eroberung Chiwa's an sich schon des Gewichts dieses Staats wegen nicht unbedeutend ist, aber noch bedeutender erscheint, weil sie die äußerste nordwestliche Vorhut eines ganzen großen Staatenbundes antastet, so erhält ihre Wichtigkeit ihre volle Beleuchtung, wenn man die Beziehungen und Verbindungen Chiwa's mit den entfernten und ihm nicht verbrüderten Ländern Afghanistan und Indien, oder mit einem Wort die Position, die es in dem ganzen Länderkreise Asiens einnimmt, betrachtet. Der Dschihun oder Oxus, der Amu-Derja unserer Karten führt seine Gewässer, die in der Nähe des Gebiets der indischen Flüsse entspringen, 250 Meilen weit von Osten nach Westen. Sein befruchtender Lauf macht die Gegenden, welche er durchfließt, ganz bewohnbar, und es nimmt daher einer jener vielen, vom reichen Indien aus die Welt durchziehenden, und *) Die Rothbärte werden bekanntlich im Orient immer für außerordentliche Leute gehalten.
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Die Steppen, welche sie durchziehen, sind wüster als irgend welche – die Völker, deren Gebiet sie durchschreiten, und auf deren Hülfe sie rechnen, wahrlich nicht die freundschaftlichst gesinnten. Werden sie sich muthig durchschlagen? oder werden sie alle wie Cyrus und sein Heer in eben diesen Ländern der Massageten elend umkommen? Wenn man die Wüsten und Barbaren besiegt, was wird geschehen? Wird man den alten, viele hundert Jahre bestehenden Staat von Chowaresm vernichten? 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Der letzte Chan von Chiwa, Mohammed Rahim, für dessen Tage noch im Jahr 1820 der russische Generalcommandeur des Kaukasus Yermolow innige Gebete zum Himmel schickte, und der in den freundlichen Briefen dieses Generals und seiner Abgesandten nicht Chef eines barbarischen Volksstammes, sondern „Hoheit,“ „Erlauchter Souverän“ und „Großer Herr der Gegenden des Ostens“ genannt wird – dieser Mohammed Rahim, sage ich, seit 1802 auf dem Thron, ein Mann von ausgezeichneten Eigenschaften, von riesenmäßiger Statur, ein Barbarossa, <hi rendition="#sup">*)</hi><note place="foot" n="*)"> Die Rothbärte werden bekanntlich im Orient immer für außerordentliche Leute gehalten.</note> hat den Staat anfänglich durch außerordentliche Grausamkeiten, durch Ermordung aller seiner Verwandten und Nebenbuhler, durch völlige Vernichtung der Gewalt der vornehmen Usbekenfamilien, welche das Ansehen der Chane, seiner Vorgänger, fast auf null reducirt hatten, und nachher durch einige Feldzüge gegen Persien und Bochara so wie durch Anknüpfung von Verbindungen mit Truchmenen und Kirgisenstämmen, endlich durch eine kräftige und nicht unweise innere Verwaltung auf eine Höhe von Macht und Ansehen gebracht, wie derselbe sie wenigstens im Laufe der letzten Jahrhunderte nicht erreicht hatte. Der letzte russische Reisende, Hr. v. Murawieff, stand daher im Jahr 1820 auch nicht an, Chiwa geradezu als einen höchst beachtungswerthen Staat des mittlern Asiens zu bezeichnen.</p><lb/> <p>Die Bewohner des Landes, ohne Zweifel wenigstens eine halbe Million, sind zum größten Theil keineswegs Nomaden, sondern Ackerbauer und Kaufleute, und haben wenigstens durchweg, wie es scheint, dieselbe Bildung erlangt, welche wir bei den Türken, Persern und andern Mohammedanern heimisch finden. Hr. v. Murawieff berechnet die Einkünfte des Staatsoberhaupts auf 4,000,000 Franken, und wenn diese in Zukunft für das russische Gouvernement verrechnet würden, so fände dasselbe darin allein schon eine ziemlich ergiebige Quelle zur Deckung der Kosten einer solchen Expedition.</p><lb/> <p>Weit wichtiger aber noch als durch seine eigenen unmittelbaren Hülfsquellen erscheint der Staat von Chiwa durch seine Beziehungen zu den Nachbarstaaten. Er ist nur einer von vielen andern Staaten, die alle mit einander durch Aehnlichkeit ihrer Verhältnisse und ihrer Bevölkerung als verbrüdert, gleichsam als ein Staatenbund betrachtet werden können. Bochara, Kokan, Taschkent, Badakschan, Hissar und andere wichtige Chanate, die alle mit einander, wie Chiwa, in den Flußgebieten des Aral-Sees liegen, und zusammen das centrale Asien, das Mittelland zwischen Indien, China und Rußland, ausmachen, das ganze Turan – Turkestan, wie die Engländer sagen, die freie Tartarei oder Dschaggatai, wie wir jenes Ländergebiet nennen – sieht sich durch jene russische Expedition in einem seiner Theile angegriffen und in seiner ganzen Existenz bedroht. Es ist dieselbe also nicht eine auf Geringes zielende, einen einzelnen kleinen Fürsten bestrafende Unternehmung, sondern es ist ein Uebertritt der russischen Colonisation in ein ihr bisher noch ganz neues weitläuftiges Flußsystem, in das des Oxus und Jaxartes. Es ist ein Einschreiten in ein bisher noch unberührtes Länder- und Völkergebiet, in das der sogenannten freien Tartaren. 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Die russische Expedition nach Chiwa.
Der Tempel des russischen Janus hat wieder eines seiner vielen Thore geöffnet. Eine lange vorbereitete Expedition ist ins Feld gerückt. 20,000 Russen, Kosaken und verbündete Kirgisen haben schon seit mehreren Wochen in die Wüste zwischen Aralsee und Kaspi-Meer eingelenkt. Die Nachrichten von ihnen gehen uns spärlich zu und unserer Phantasie bleibt ein großer Spielraum, die Schlachten, welche dort jetzt den Truchmenen und Karakalpaken, den Aralern, Konratern und Usbeken geliefert werden, die Festungen, welche man cernirt, die Städte, welche man einnimmt oder verwüstet – Chiwa hat deren acht – und die Leiden der dort jetzt hadernden Menschheit uns nach Belieben auszumalen. Leicht wird dieß Stück Arbeit, welches sie unternommen haben, den Russen auf keinen Fall werden. Die Steppen, welche sie durchziehen, sind wüster als irgend welche – die Völker, deren Gebiet sie durchschreiten, und auf deren Hülfe sie rechnen, wahrlich nicht die freundschaftlichst gesinnten. Werden sie sich muthig durchschlagen? oder werden sie alle wie Cyrus und sein Heer in eben diesen Ländern der Massageten elend umkommen? Wenn man die Wüsten und Barbaren besiegt, was wird geschehen? Wird man den alten, viele hundert Jahre bestehenden Staat von Chowaresm vernichten? Und diese Vernichtung, welche Folgen wird sie haben für die Nachbarstaaten, für Bochara, Kokan, Taschkend, für das alte Samarkand und die andern den Chiwaern verbrüderten Staaten?
Bis die Zukunft den Schleier von dem abzieht, wollen wir uns zunächst einmal der frühern Vorgänge auf diesem neuen Theater russischer Waffenthaten erinnern.
Freilich hätte diese Angelegenheit ein geringeres Interesse, wenn wir sie aus dem Gesichtspunkt betrachten wollten, auf welchen uns die russische Kriegserklärung stellen will. Ihr zufolge bedeutete die ganze Sache nicht viel mehr, als einer jener alljährlichen Züge gegen irgend eines der barbarischen Nachbarvölker Rußlands. Es gälte nur der mit Fug und Recht angesprochenen Befreiung einiger russischer Gefangener, der Bestrafung eines räuberischen und feindseligen Nachbarn, und der Unterwerfung eines wilden barbarischen Volksstammes. Faßt man aber eine Ansicht der Sache auf, wie die Geschichte und eine Erwägung der geographischen Verhältnisse des Landes sie an die Hand geben, so zeigt sich Alles in einem andern Licht.
Zunächst ist der Staat von Chiwa selbst nichts weniger als eine Kleinigkeit. Der letzte Chan von Chiwa, Mohammed Rahim, für dessen Tage noch im Jahr 1820 der russische Generalcommandeur des Kaukasus Yermolow innige Gebete zum Himmel schickte, und der in den freundlichen Briefen dieses Generals und seiner Abgesandten nicht Chef eines barbarischen Volksstammes, sondern „Hoheit,“ „Erlauchter Souverän“ und „Großer Herr der Gegenden des Ostens“ genannt wird – dieser Mohammed Rahim, sage ich, seit 1802 auf dem Thron, ein Mann von ausgezeichneten Eigenschaften, von riesenmäßiger Statur, ein Barbarossa, *) *) hat den Staat anfänglich durch außerordentliche Grausamkeiten, durch Ermordung aller seiner Verwandten und Nebenbuhler, durch völlige Vernichtung der Gewalt der vornehmen Usbekenfamilien, welche das Ansehen der Chane, seiner Vorgänger, fast auf null reducirt hatten, und nachher durch einige Feldzüge gegen Persien und Bochara so wie durch Anknüpfung von Verbindungen mit Truchmenen und Kirgisenstämmen, endlich durch eine kräftige und nicht unweise innere Verwaltung auf eine Höhe von Macht und Ansehen gebracht, wie derselbe sie wenigstens im Laufe der letzten Jahrhunderte nicht erreicht hatte. Der letzte russische Reisende, Hr. v. Murawieff, stand daher im Jahr 1820 auch nicht an, Chiwa geradezu als einen höchst beachtungswerthen Staat des mittlern Asiens zu bezeichnen.
Die Bewohner des Landes, ohne Zweifel wenigstens eine halbe Million, sind zum größten Theil keineswegs Nomaden, sondern Ackerbauer und Kaufleute, und haben wenigstens durchweg, wie es scheint, dieselbe Bildung erlangt, welche wir bei den Türken, Persern und andern Mohammedanern heimisch finden. Hr. v. Murawieff berechnet die Einkünfte des Staatsoberhaupts auf 4,000,000 Franken, und wenn diese in Zukunft für das russische Gouvernement verrechnet würden, so fände dasselbe darin allein schon eine ziemlich ergiebige Quelle zur Deckung der Kosten einer solchen Expedition.
Weit wichtiger aber noch als durch seine eigenen unmittelbaren Hülfsquellen erscheint der Staat von Chiwa durch seine Beziehungen zu den Nachbarstaaten. Er ist nur einer von vielen andern Staaten, die alle mit einander durch Aehnlichkeit ihrer Verhältnisse und ihrer Bevölkerung als verbrüdert, gleichsam als ein Staatenbund betrachtet werden können. Bochara, Kokan, Taschkent, Badakschan, Hissar und andere wichtige Chanate, die alle mit einander, wie Chiwa, in den Flußgebieten des Aral-Sees liegen, und zusammen das centrale Asien, das Mittelland zwischen Indien, China und Rußland, ausmachen, das ganze Turan – Turkestan, wie die Engländer sagen, die freie Tartarei oder Dschaggatai, wie wir jenes Ländergebiet nennen – sieht sich durch jene russische Expedition in einem seiner Theile angegriffen und in seiner ganzen Existenz bedroht. Es ist dieselbe also nicht eine auf Geringes zielende, einen einzelnen kleinen Fürsten bestrafende Unternehmung, sondern es ist ein Uebertritt der russischen Colonisation in ein ihr bisher noch ganz neues weitläuftiges Flußsystem, in das des Oxus und Jaxartes. Es ist ein Einschreiten in ein bisher noch unberührtes Länder- und Völkergebiet, in das der sogenannten freien Tartaren. Es ist ein Schritt, der eine Menge anderer Schritte in seinem Gefolge haben wird – ein Krieg, der uns für unser ganzes neunzehntes Jahrhundert eine Reihe von Kriegen in Aussicht stellt.
Wenn die beabsichtigte Eroberung Chiwa's an sich schon des Gewichts dieses Staats wegen nicht unbedeutend ist, aber noch bedeutender erscheint, weil sie die äußerste nordwestliche Vorhut eines ganzen großen Staatenbundes antastet, so erhält ihre Wichtigkeit ihre volle Beleuchtung, wenn man die Beziehungen und Verbindungen Chiwa's mit den entfernten und ihm nicht verbrüderten Ländern Afghanistan und Indien, oder mit einem Wort die Position, die es in dem ganzen Länderkreise Asiens einnimmt, betrachtet.
Der Dschihun oder Oxus, der Amu-Derja unserer Karten führt seine Gewässer, die in der Nähe des Gebiets der indischen Flüsse entspringen, 250 Meilen weit von Osten nach Westen. Sein befruchtender Lauf macht die Gegenden, welche er durchfließt, ganz bewohnbar, und es nimmt daher einer jener vielen, vom reichen Indien aus die Welt durchziehenden, und
*) Die Rothbärte werden bekanntlich im Orient immer für außerordentliche Leute gehalten.
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