Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Allgemeine Zeitung. Nr. 119. Augsburg, 28. April 1840.

Bild:
<< vorherige Seite
Die Zukunft.

Wenn man dem Streben zuschaut, welches jetzt überall Denkmale setzt, Jubiläen vorbereitet, und alte Burgen wiederherstellt, so sollte man beinahe glauben, der alte Janus habe sein vorwärts blickendes Antlitz eingebüßt, und vermöge nur im Rückblicke auf vergangene Zeiten sich zu überzeugen, daß er noch existire. Bei näherer Betrachtung aber findet man vielleicht, daß jenen Dingen allen gerade die Idee zu Grunde liege, eine gesicherte Zukunft durch Anknüpfen derselben an die Vergangenheit zu gründen, und das zur Linie zu verbinden, was seither sich nur in einzelnen Punkten darstellen wollte.

In der organischen Welt, ja in den Einzelnwesen kann man gewisse Zeiträume beobachten, wo alle guten und schlechten Säfte in Bewegung kommen, zu neuen Bildungen oder zu Abscessen sich sammeln, und durch ihr Aufgähren eine ungewöhnliche Unruhe erzeugen. Solch eine Epoche scheint die gegenwärtige in der politischen Welt zu seyn. Nicht als ob auch nur Eine Regierung einen Kampf herbeizuführen wünschte, oder die Nachbarn mit bedrohlichen Planen aufschreckte; im Gegentheil ist die Ueberzeugung nie lebendiger gewesen, daß vor Allem Friede und ruhige Entwicklung Allen eine Lebensbedingung sey. Ja, der Vorwurf, der Ehre und Würde des Volks oder der Krone zu viel zu vergeben, wird hie und da vernommen, das Gegentheil nie.

Der Grund dieser Bewegung muß demnach in den Massen, in der Gestaltung der socialen Verhältnisse liegen.

Daß in England der Fabricant wohlfeileren Taglohn wünscht, der Arbeiter in den Fabriken sein Brod nicht übertheuer bezahlen will, ist begreiflich; weniger begreiflich aber ist es, daß die Grundbesitzer den ganz einfachen Satz nicht verstehen wollen, daß wenn Alles in Folge freier Mitbewerbung wohlfeiler seyn wird, das geringere Pachtgeld, welches sie beziehen werden, denselben Werth wie früher das größere darstellen, und das gesammelte Capital mehr bedeuten wird, als seither. Es erscheint also hier ein Streit der hergebrachten Form mit den wahren Interessen, und die Entscheidung wird segensreich für Alle ausfallen, wenn Vernunft und Gerechtigkeit siegen werden, schrecklich für Alle, wenn die Verzweiflung das Vorenthaltene gewaltsam an sich reißen muß - die Normannen werden die Sachsen nicht zum zweitenmale besiegen.

Und Frankreich, jener Vorfechter der Ideen der Neuzeit, ist es nicht mit seinem Sperrsysteme, seinem Algerien, seinen stets wiederkehrenden Ministerwechseln in demselben unbehaglichen, ja in einem für Ruhe, Privatvermögen, politische Stellung ungesicherten Zustande, wenn wir bedenken, daß dieses Alles in Frage gestellt werden kann, so wie Ein Mann die Schuld der Natur bezahlen muß?

Wenn unter den Völkern deutscher Zunge sich die kirchlichen, constitutionellen und gewerblichen Fragen noch nicht zu socialen gesteigert haben, so ist dieses nur theilweise dem ruhigeren zuwartenden Charakter des Volks und dem Allen sich aufdringenden Bedürfnisse eines besonnenen Vorschreitens zuzuschreiben. Aber ein Anstoß von außen, wie der der Juliuswoche war, dürfte zwar auf ganz andere Weise als vor zehn Jahren, aber er dürfte dennoch Bewegungen herbeiführen, deren Tragweite kein menschlicher Verstand zu berechnen vermag. Holland, welches endlich über seine Finanzen ins Klare gelangen, Belgien, wo der natürliche Zug der Volksthümlichkeit und des Handelsinteresses gegen Deutschland endlich obsiegen muß; Dänemark mit den endlosen Verwicklungen einer trostlosen Schuldenmasse, eines Mißverhältnisses der Ansprüche an äußere Geltung mit den Kräften, der Bedürfnisse des Volks mit dem Formen der Regierung, des deutschen und des scandinavischen Princips in seinen Völkern; Schweden, welches mit Einem Schlage eingewurzelte Mißbräuche abschaffen und die gegen außen vorläufig nicht erforderte Kraft gegen innen kehren möchte - sie alle geben Zeugniß von der steigenden Macht der Massen, des Gesellschaftsgeistes, der materiellen Interessen, welche gar viele geistige erfordern und einhüllen. Sogar der Normalstaat der autokratischen Form sieht - eben wegen dieser - sehr Vieles lediglich durch die Persönlichkeit seines Herrschers bedingt, und die hohe Pforte, deren Daseyn nun eben so zärtlich erhalten wird, als es vor Jahrhunderten von allen Abendländern bekämpft werden mußte, - die hohe Pforte sogar sucht der unvermeidlichen Altersschwäche durch Institutionen zu Hülfe zu kommen, welche die Welt in ihre Hand gegeben haben würden, wenn sie sie in den Zeiten ihrer Jugendkraft den gegenüberstehenden Völkern hätte anbieten mögen.

Eben darin nun, daß die Persönlichkeit der Gewalthaber sich den dinglichen Interessen unterordnen, oder wenigstens nach denselben modificiren muß, in dem Massenhaften der Strebungen liegt das Bedeutende der oben angedeuteten Bewegungen. Der Drang, mit vereinten Kräften zu wirken, steigt im Verhältniß der täglich zunehmenden atomistischen, zersetzenden Tendenzen, und die Anwendung des Grundsatzes der Associationen auf ganze Gruppen von Staaten scheint nur der erste Anfang einer neuen Aera im öffentlichen Leben zu seyn, und bei fortdauerndem Frieden eine Fähigkeit zu unendlicher Fortbildung in sich zu tragen.

Der Ungeduld einer überzähligen, auf die Thaten der Väter neidischen Jugend stehen Anstalten und Anwendungen von Capitalien gegenüber, welche, indem sie auf langen Frieden rechnen, diesen zu bedingen scheinen, und die Masse von Nichtbesitzenden, welche bei jeder politischen Bewegung wie ein Gespenst aus dem Dunkel hervorzutreten pflegt, wird eben durch Vereine in organisirten Auswanderungen dem kranken Staatskörper nicht nur die bösen Säfte entziehen, sondern durch vermehrte Nachfrage nach Fabricaten neues Leben geben. Zu Gründung von Colonien aber ist der germanische Stamm vorzugsweise vor dem romanischen geeignet, und während deutsche Cultur von Leipzig bis an die Thore St. Petersburgs erobert, und Orenburg und Peter-Paulshafen deutsche Namen gegeben hat, wird sich in Australien schneller als früher in Nordamerika ein neues Volk germanischen Ursprungs und Wesens bilden. In dieser Weise wird eine zweite Völkerwanderung die alternden Völker verjüngen. Und wenn durch Verblendung und Halsstarrigkeit eine Lebensfrage in Europa auftauchen, und die so sehr gefürchtete, so ängstlich gemiedene Entscheidung herbeiführen wird, so wird Europa den übrigen Welttheilen dieselbe neue Lebenskraft zuführen, welche durch die Religionsverfolgungen Englands die Niederlande und Preußen einst blühend und mächtig gemacht haben. Das ist das Merkwürdige in unserer Zeit, daß die allgemeine Verkettung der Interessen und die allgemeine Verbreitung derselben Lebensweise die Uebersiedlung so sehr erleichtern, daß keine Regierung eine scharf gezeichnete Linie der Mäßigung zu überschreiten wagen darf, ohne der Gefahr sich auszusetzen, sich den größten, unwiederbringlichsten Schaden zuzufügen.

Die Bewegungen, welche wir überall bemerken, die Unruhe

Die Zukunft.

Wenn man dem Streben zuschaut, welches jetzt überall Denkmale setzt, Jubiläen vorbereitet, und alte Burgen wiederherstellt, so sollte man beinahe glauben, der alte Janus habe sein vorwärts blickendes Antlitz eingebüßt, und vermöge nur im Rückblicke auf vergangene Zeiten sich zu überzeugen, daß er noch existire. Bei näherer Betrachtung aber findet man vielleicht, daß jenen Dingen allen gerade die Idee zu Grunde liege, eine gesicherte Zukunft durch Anknüpfen derselben an die Vergangenheit zu gründen, und das zur Linie zu verbinden, was seither sich nur in einzelnen Punkten darstellen wollte.

In der organischen Welt, ja in den Einzelnwesen kann man gewisse Zeiträume beobachten, wo alle guten und schlechten Säfte in Bewegung kommen, zu neuen Bildungen oder zu Abscessen sich sammeln, und durch ihr Aufgähren eine ungewöhnliche Unruhe erzeugen. Solch eine Epoche scheint die gegenwärtige in der politischen Welt zu seyn. Nicht als ob auch nur Eine Regierung einen Kampf herbeizuführen wünschte, oder die Nachbarn mit bedrohlichen Planen aufschreckte; im Gegentheil ist die Ueberzeugung nie lebendiger gewesen, daß vor Allem Friede und ruhige Entwicklung Allen eine Lebensbedingung sey. Ja, der Vorwurf, der Ehre und Würde des Volks oder der Krone zu viel zu vergeben, wird hie und da vernommen, das Gegentheil nie.

Der Grund dieser Bewegung muß demnach in den Massen, in der Gestaltung der socialen Verhältnisse liegen.

Daß in England der Fabricant wohlfeileren Taglohn wünscht, der Arbeiter in den Fabriken sein Brod nicht übertheuer bezahlen will, ist begreiflich; weniger begreiflich aber ist es, daß die Grundbesitzer den ganz einfachen Satz nicht verstehen wollen, daß wenn Alles in Folge freier Mitbewerbung wohlfeiler seyn wird, das geringere Pachtgeld, welches sie beziehen werden, denselben Werth wie früher das größere darstellen, und das gesammelte Capital mehr bedeuten wird, als seither. Es erscheint also hier ein Streit der hergebrachten Form mit den wahren Interessen, und die Entscheidung wird segensreich für Alle ausfallen, wenn Vernunft und Gerechtigkeit siegen werden, schrecklich für Alle, wenn die Verzweiflung das Vorenthaltene gewaltsam an sich reißen muß – die Normannen werden die Sachsen nicht zum zweitenmale besiegen.

Und Frankreich, jener Vorfechter der Ideen der Neuzeit, ist es nicht mit seinem Sperrsysteme, seinem Algerien, seinen stets wiederkehrenden Ministerwechseln in demselben unbehaglichen, ja in einem für Ruhe, Privatvermögen, politische Stellung ungesicherten Zustande, wenn wir bedenken, daß dieses Alles in Frage gestellt werden kann, so wie Ein Mann die Schuld der Natur bezahlen muß?

Wenn unter den Völkern deutscher Zunge sich die kirchlichen, constitutionellen und gewerblichen Fragen noch nicht zu socialen gesteigert haben, so ist dieses nur theilweise dem ruhigeren zuwartenden Charakter des Volks und dem Allen sich aufdringenden Bedürfnisse eines besonnenen Vorschreitens zuzuschreiben. Aber ein Anstoß von außen, wie der der Juliuswoche war, dürfte zwar auf ganz andere Weise als vor zehn Jahren, aber er dürfte dennoch Bewegungen herbeiführen, deren Tragweite kein menschlicher Verstand zu berechnen vermag. Holland, welches endlich über seine Finanzen ins Klare gelangen, Belgien, wo der natürliche Zug der Volksthümlichkeit und des Handelsinteresses gegen Deutschland endlich obsiegen muß; Dänemark mit den endlosen Verwicklungen einer trostlosen Schuldenmasse, eines Mißverhältnisses der Ansprüche an äußere Geltung mit den Kräften, der Bedürfnisse des Volks mit dem Formen der Regierung, des deutschen und des scandinavischen Princips in seinen Völkern; Schweden, welches mit Einem Schlage eingewurzelte Mißbräuche abschaffen und die gegen außen vorläufig nicht erforderte Kraft gegen innen kehren möchte – sie alle geben Zeugniß von der steigenden Macht der Massen, des Gesellschaftsgeistes, der materiellen Interessen, welche gar viele geistige erfordern und einhüllen. Sogar der Normalstaat der autokratischen Form sieht – eben wegen dieser – sehr Vieles lediglich durch die Persönlichkeit seines Herrschers bedingt, und die hohe Pforte, deren Daseyn nun eben so zärtlich erhalten wird, als es vor Jahrhunderten von allen Abendländern bekämpft werden mußte, – die hohe Pforte sogar sucht der unvermeidlichen Altersschwäche durch Institutionen zu Hülfe zu kommen, welche die Welt in ihre Hand gegeben haben würden, wenn sie sie in den Zeiten ihrer Jugendkraft den gegenüberstehenden Völkern hätte anbieten mögen.

Eben darin nun, daß die Persönlichkeit der Gewalthaber sich den dinglichen Interessen unterordnen, oder wenigstens nach denselben modificiren muß, in dem Massenhaften der Strebungen liegt das Bedeutende der oben angedeuteten Bewegungen. Der Drang, mit vereinten Kräften zu wirken, steigt im Verhältniß der täglich zunehmenden atomistischen, zersetzenden Tendenzen, und die Anwendung des Grundsatzes der Associationen auf ganze Gruppen von Staaten scheint nur der erste Anfang einer neuen Aera im öffentlichen Leben zu seyn, und bei fortdauerndem Frieden eine Fähigkeit zu unendlicher Fortbildung in sich zu tragen.

Der Ungeduld einer überzähligen, auf die Thaten der Väter neidischen Jugend stehen Anstalten und Anwendungen von Capitalien gegenüber, welche, indem sie auf langen Frieden rechnen, diesen zu bedingen scheinen, und die Masse von Nichtbesitzenden, welche bei jeder politischen Bewegung wie ein Gespenst aus dem Dunkel hervorzutreten pflegt, wird eben durch Vereine in organisirten Auswanderungen dem kranken Staatskörper nicht nur die bösen Säfte entziehen, sondern durch vermehrte Nachfrage nach Fabricaten neues Leben geben. Zu Gründung von Colonien aber ist der germanische Stamm vorzugsweise vor dem romanischen geeignet, und während deutsche Cultur von Leipzig bis an die Thore St. Petersburgs erobert, und Orenburg und Peter-Paulshafen deutsche Namen gegeben hat, wird sich in Australien schneller als früher in Nordamerika ein neues Volk germanischen Ursprungs und Wesens bilden. In dieser Weise wird eine zweite Völkerwanderung die alternden Völker verjüngen. Und wenn durch Verblendung und Halsstarrigkeit eine Lebensfrage in Europa auftauchen, und die so sehr gefürchtete, so ängstlich gemiedene Entscheidung herbeiführen wird, so wird Europa den übrigen Welttheilen dieselbe neue Lebenskraft zuführen, welche durch die Religionsverfolgungen Englands die Niederlande und Preußen einst blühend und mächtig gemacht haben. Das ist das Merkwürdige in unserer Zeit, daß die allgemeine Verkettung der Interessen und die allgemeine Verbreitung derselben Lebensweise die Uebersiedlung so sehr erleichtern, daß keine Regierung eine scharf gezeichnete Linie der Mäßigung zu überschreiten wagen darf, ohne der Gefahr sich auszusetzen, sich den größten, unwiederbringlichsten Schaden zuzufügen.

Die Bewegungen, welche wir überall bemerken, die Unruhe

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div type="jArticle" n="2">
          <pb facs="#f0009" n="0945"/>
        </div>
      </div>
      <div n="1">
        <head> <hi rendition="#b"><hi rendition="#g">Die Zukunft</hi>.</hi> </head><lb/>
        <p>Wenn man dem Streben zuschaut, welches jetzt überall Denkmale setzt, Jubiläen vorbereitet, und alte Burgen wiederherstellt, so sollte man beinahe glauben, der alte Janus habe sein vorwärts blickendes Antlitz eingebüßt, und vermöge nur im Rückblicke auf vergangene Zeiten sich zu überzeugen, daß er noch existire. Bei näherer Betrachtung aber findet man vielleicht, daß jenen Dingen allen gerade die Idee zu Grunde liege, eine gesicherte Zukunft durch Anknüpfen derselben an die Vergangenheit zu gründen, und das <hi rendition="#g">zur Linie</hi> zu verbinden, was seither sich nur in einzelnen <hi rendition="#g">Punkten</hi> darstellen wollte.</p><lb/>
        <p>In der organischen Welt, ja in den Einzelnwesen kann man gewisse Zeiträume beobachten, wo alle guten und schlechten Säfte in Bewegung kommen, zu neuen Bildungen oder zu Abscessen sich sammeln, und durch ihr Aufgähren eine ungewöhnliche Unruhe erzeugen. Solch eine Epoche scheint die gegenwärtige in der politischen Welt zu seyn. Nicht als ob auch nur Eine Regierung einen Kampf herbeizuführen wünschte, oder die Nachbarn mit bedrohlichen Planen aufschreckte; im Gegentheil ist die Ueberzeugung nie lebendiger gewesen, daß vor Allem Friede und ruhige Entwicklung Allen eine Lebensbedingung sey. Ja, der Vorwurf, der Ehre und Würde des Volks oder der Krone zu viel zu vergeben, wird hie und da vernommen, das Gegentheil nie.</p><lb/>
        <p>Der Grund dieser Bewegung muß demnach in den Massen, in der Gestaltung der socialen Verhältnisse liegen.</p><lb/>
        <p>Daß in England der Fabricant wohlfeileren Taglohn wünscht, der Arbeiter in den Fabriken sein Brod nicht übertheuer bezahlen will, ist begreiflich; weniger begreiflich aber ist es, daß die Grundbesitzer den ganz einfachen Satz nicht verstehen wollen, daß wenn Alles in Folge freier Mitbewerbung wohlfeiler seyn wird, das geringere Pachtgeld, welches sie beziehen werden, denselben Werth wie früher das größere darstellen, und das gesammelte Capital mehr bedeuten wird, als seither. Es erscheint also hier ein Streit der hergebrachten Form mit den wahren Interessen, und die Entscheidung wird segensreich für Alle ausfallen, wenn Vernunft und Gerechtigkeit siegen werden, schrecklich für Alle, wenn die Verzweiflung das Vorenthaltene gewaltsam an sich reißen muß &#x2013; die Normannen werden die Sachsen nicht zum zweitenmale besiegen.</p><lb/>
        <p>Und Frankreich, jener Vorfechter der Ideen der Neuzeit, ist es nicht mit seinem Sperrsysteme, seinem Algerien, seinen stets wiederkehrenden Ministerwechseln in demselben unbehaglichen, ja in einem für Ruhe, Privatvermögen, politische Stellung ungesicherten Zustande, wenn wir bedenken, daß dieses Alles in Frage gestellt werden kann, so wie Ein Mann die Schuld der Natur bezahlen muß?</p><lb/>
        <p>Wenn unter den Völkern deutscher Zunge sich die kirchlichen, constitutionellen und gewerblichen Fragen noch nicht zu socialen gesteigert haben, so ist dieses nur theilweise dem ruhigeren zuwartenden Charakter des Volks und dem Allen sich aufdringenden Bedürfnisse eines besonnenen Vorschreitens zuzuschreiben. Aber ein Anstoß von außen, wie der der Juliuswoche war, dürfte zwar auf ganz andere Weise als vor zehn Jahren, aber er dürfte dennoch Bewegungen herbeiführen, deren Tragweite kein menschlicher Verstand zu berechnen vermag. Holland, welches endlich über seine Finanzen ins Klare gelangen, Belgien, wo der natürliche Zug der Volksthümlichkeit und des Handelsinteresses gegen Deutschland endlich obsiegen muß; Dänemark mit den endlosen Verwicklungen einer trostlosen Schuldenmasse, eines Mißverhältnisses der Ansprüche an äußere Geltung mit den Kräften, der Bedürfnisse des Volks mit dem Formen der Regierung, des deutschen und des scandinavischen Princips in seinen Völkern; Schweden, welches mit Einem Schlage eingewurzelte Mißbräuche abschaffen und die gegen außen vorläufig nicht erforderte Kraft gegen innen kehren möchte &#x2013; sie alle geben Zeugniß von der steigenden Macht der Massen, des Gesellschaftsgeistes, der materiellen Interessen, welche gar viele geistige erfordern und einhüllen. Sogar der Normalstaat der autokratischen Form sieht &#x2013; eben wegen dieser &#x2013; sehr Vieles lediglich durch die Persönlichkeit seines Herrschers bedingt, und die hohe Pforte, deren Daseyn nun eben so zärtlich erhalten wird, als es vor Jahrhunderten von allen Abendländern bekämpft werden mußte, &#x2013; die hohe Pforte sogar sucht der unvermeidlichen Altersschwäche durch Institutionen zu Hülfe zu kommen, welche die Welt in ihre Hand gegeben haben würden, wenn sie sie in den Zeiten ihrer Jugendkraft den gegenüberstehenden Völkern hätte anbieten mögen.</p><lb/>
        <p>Eben darin nun, daß die Persönlichkeit der Gewalthaber sich den dinglichen Interessen unterordnen, oder wenigstens nach denselben modificiren muß, in dem Massenhaften der Strebungen liegt das Bedeutende der oben angedeuteten Bewegungen. Der Drang, mit vereinten Kräften zu wirken, steigt im Verhältniß der täglich zunehmenden atomistischen, zersetzenden Tendenzen, und die Anwendung des Grundsatzes der Associationen auf ganze Gruppen von Staaten scheint nur der erste Anfang einer neuen Aera im öffentlichen Leben zu seyn, und bei fortdauerndem Frieden eine Fähigkeit zu unendlicher Fortbildung in sich zu tragen.</p><lb/>
        <p>Der Ungeduld einer überzähligen, auf die Thaten der Väter neidischen Jugend stehen Anstalten und Anwendungen von Capitalien gegenüber, welche, indem sie auf langen Frieden rechnen, diesen zu bedingen scheinen, und die Masse von Nichtbesitzenden, welche bei jeder politischen Bewegung wie ein Gespenst aus dem Dunkel hervorzutreten pflegt, wird eben durch Vereine in organisirten Auswanderungen dem kranken Staatskörper nicht nur die bösen Säfte entziehen, sondern durch vermehrte Nachfrage nach Fabricaten neues Leben geben. Zu Gründung von Colonien aber ist der germanische Stamm vorzugsweise vor dem romanischen geeignet, und während deutsche Cultur von Leipzig bis an die Thore St. Petersburgs erobert, und <hi rendition="#g">Orenburg</hi> und <hi rendition="#g">Peter</hi>-<hi rendition="#g">Paulshafen</hi> deutsche Namen gegeben hat, wird sich in Australien schneller als früher in Nordamerika ein neues Volk germanischen Ursprungs und Wesens bilden. In dieser Weise wird eine zweite Völkerwanderung die alternden Völker verjüngen. Und wenn durch Verblendung und Halsstarrigkeit eine Lebensfrage in Europa auftauchen, und die so sehr gefürchtete, so ängstlich gemiedene Entscheidung herbeiführen wird, so wird Europa den übrigen Welttheilen dieselbe neue Lebenskraft zuführen, welche durch die Religionsverfolgungen Englands die Niederlande und Preußen einst blühend und mächtig gemacht haben. Das ist das Merkwürdige in unserer Zeit, daß die allgemeine Verkettung der Interessen und die allgemeine Verbreitung derselben Lebensweise die Uebersiedlung so sehr erleichtern, daß keine Regierung eine scharf gezeichnete Linie der Mäßigung zu überschreiten wagen darf, ohne der Gefahr sich auszusetzen, sich den größten, unwiederbringlichsten Schaden zuzufügen.</p><lb/>
        <p>Die Bewegungen, welche wir überall bemerken, die Unruhe<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0945/0009] Die Zukunft. Wenn man dem Streben zuschaut, welches jetzt überall Denkmale setzt, Jubiläen vorbereitet, und alte Burgen wiederherstellt, so sollte man beinahe glauben, der alte Janus habe sein vorwärts blickendes Antlitz eingebüßt, und vermöge nur im Rückblicke auf vergangene Zeiten sich zu überzeugen, daß er noch existire. Bei näherer Betrachtung aber findet man vielleicht, daß jenen Dingen allen gerade die Idee zu Grunde liege, eine gesicherte Zukunft durch Anknüpfen derselben an die Vergangenheit zu gründen, und das zur Linie zu verbinden, was seither sich nur in einzelnen Punkten darstellen wollte. In der organischen Welt, ja in den Einzelnwesen kann man gewisse Zeiträume beobachten, wo alle guten und schlechten Säfte in Bewegung kommen, zu neuen Bildungen oder zu Abscessen sich sammeln, und durch ihr Aufgähren eine ungewöhnliche Unruhe erzeugen. Solch eine Epoche scheint die gegenwärtige in der politischen Welt zu seyn. Nicht als ob auch nur Eine Regierung einen Kampf herbeizuführen wünschte, oder die Nachbarn mit bedrohlichen Planen aufschreckte; im Gegentheil ist die Ueberzeugung nie lebendiger gewesen, daß vor Allem Friede und ruhige Entwicklung Allen eine Lebensbedingung sey. Ja, der Vorwurf, der Ehre und Würde des Volks oder der Krone zu viel zu vergeben, wird hie und da vernommen, das Gegentheil nie. Der Grund dieser Bewegung muß demnach in den Massen, in der Gestaltung der socialen Verhältnisse liegen. Daß in England der Fabricant wohlfeileren Taglohn wünscht, der Arbeiter in den Fabriken sein Brod nicht übertheuer bezahlen will, ist begreiflich; weniger begreiflich aber ist es, daß die Grundbesitzer den ganz einfachen Satz nicht verstehen wollen, daß wenn Alles in Folge freier Mitbewerbung wohlfeiler seyn wird, das geringere Pachtgeld, welches sie beziehen werden, denselben Werth wie früher das größere darstellen, und das gesammelte Capital mehr bedeuten wird, als seither. Es erscheint also hier ein Streit der hergebrachten Form mit den wahren Interessen, und die Entscheidung wird segensreich für Alle ausfallen, wenn Vernunft und Gerechtigkeit siegen werden, schrecklich für Alle, wenn die Verzweiflung das Vorenthaltene gewaltsam an sich reißen muß – die Normannen werden die Sachsen nicht zum zweitenmale besiegen. Und Frankreich, jener Vorfechter der Ideen der Neuzeit, ist es nicht mit seinem Sperrsysteme, seinem Algerien, seinen stets wiederkehrenden Ministerwechseln in demselben unbehaglichen, ja in einem für Ruhe, Privatvermögen, politische Stellung ungesicherten Zustande, wenn wir bedenken, daß dieses Alles in Frage gestellt werden kann, so wie Ein Mann die Schuld der Natur bezahlen muß? Wenn unter den Völkern deutscher Zunge sich die kirchlichen, constitutionellen und gewerblichen Fragen noch nicht zu socialen gesteigert haben, so ist dieses nur theilweise dem ruhigeren zuwartenden Charakter des Volks und dem Allen sich aufdringenden Bedürfnisse eines besonnenen Vorschreitens zuzuschreiben. Aber ein Anstoß von außen, wie der der Juliuswoche war, dürfte zwar auf ganz andere Weise als vor zehn Jahren, aber er dürfte dennoch Bewegungen herbeiführen, deren Tragweite kein menschlicher Verstand zu berechnen vermag. Holland, welches endlich über seine Finanzen ins Klare gelangen, Belgien, wo der natürliche Zug der Volksthümlichkeit und des Handelsinteresses gegen Deutschland endlich obsiegen muß; Dänemark mit den endlosen Verwicklungen einer trostlosen Schuldenmasse, eines Mißverhältnisses der Ansprüche an äußere Geltung mit den Kräften, der Bedürfnisse des Volks mit dem Formen der Regierung, des deutschen und des scandinavischen Princips in seinen Völkern; Schweden, welches mit Einem Schlage eingewurzelte Mißbräuche abschaffen und die gegen außen vorläufig nicht erforderte Kraft gegen innen kehren möchte – sie alle geben Zeugniß von der steigenden Macht der Massen, des Gesellschaftsgeistes, der materiellen Interessen, welche gar viele geistige erfordern und einhüllen. Sogar der Normalstaat der autokratischen Form sieht – eben wegen dieser – sehr Vieles lediglich durch die Persönlichkeit seines Herrschers bedingt, und die hohe Pforte, deren Daseyn nun eben so zärtlich erhalten wird, als es vor Jahrhunderten von allen Abendländern bekämpft werden mußte, – die hohe Pforte sogar sucht der unvermeidlichen Altersschwäche durch Institutionen zu Hülfe zu kommen, welche die Welt in ihre Hand gegeben haben würden, wenn sie sie in den Zeiten ihrer Jugendkraft den gegenüberstehenden Völkern hätte anbieten mögen. Eben darin nun, daß die Persönlichkeit der Gewalthaber sich den dinglichen Interessen unterordnen, oder wenigstens nach denselben modificiren muß, in dem Massenhaften der Strebungen liegt das Bedeutende der oben angedeuteten Bewegungen. Der Drang, mit vereinten Kräften zu wirken, steigt im Verhältniß der täglich zunehmenden atomistischen, zersetzenden Tendenzen, und die Anwendung des Grundsatzes der Associationen auf ganze Gruppen von Staaten scheint nur der erste Anfang einer neuen Aera im öffentlichen Leben zu seyn, und bei fortdauerndem Frieden eine Fähigkeit zu unendlicher Fortbildung in sich zu tragen. Der Ungeduld einer überzähligen, auf die Thaten der Väter neidischen Jugend stehen Anstalten und Anwendungen von Capitalien gegenüber, welche, indem sie auf langen Frieden rechnen, diesen zu bedingen scheinen, und die Masse von Nichtbesitzenden, welche bei jeder politischen Bewegung wie ein Gespenst aus dem Dunkel hervorzutreten pflegt, wird eben durch Vereine in organisirten Auswanderungen dem kranken Staatskörper nicht nur die bösen Säfte entziehen, sondern durch vermehrte Nachfrage nach Fabricaten neues Leben geben. Zu Gründung von Colonien aber ist der germanische Stamm vorzugsweise vor dem romanischen geeignet, und während deutsche Cultur von Leipzig bis an die Thore St. Petersburgs erobert, und Orenburg und Peter-Paulshafen deutsche Namen gegeben hat, wird sich in Australien schneller als früher in Nordamerika ein neues Volk germanischen Ursprungs und Wesens bilden. In dieser Weise wird eine zweite Völkerwanderung die alternden Völker verjüngen. Und wenn durch Verblendung und Halsstarrigkeit eine Lebensfrage in Europa auftauchen, und die so sehr gefürchtete, so ängstlich gemiedene Entscheidung herbeiführen wird, so wird Europa den übrigen Welttheilen dieselbe neue Lebenskraft zuführen, welche durch die Religionsverfolgungen Englands die Niederlande und Preußen einst blühend und mächtig gemacht haben. Das ist das Merkwürdige in unserer Zeit, daß die allgemeine Verkettung der Interessen und die allgemeine Verbreitung derselben Lebensweise die Uebersiedlung so sehr erleichtern, daß keine Regierung eine scharf gezeichnete Linie der Mäßigung zu überschreiten wagen darf, ohne der Gefahr sich auszusetzen, sich den größten, unwiederbringlichsten Schaden zuzufügen. Die Bewegungen, welche wir überall bemerken, die Unruhe

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Deutsches Textarchiv: Bereitstellung der Texttranskription. (2016-06-28T11:37:15Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Matthias Boenig: Bearbeitung der digitalen Edition. (2016-06-28T11:37:15Z)

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: gekennzeichnet; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: keine Angabe; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: Lautwert transkribiert; I/J in Fraktur: Lautwert transkribiert; Kolumnentitel: gekennzeichnet; Kustoden: gekennzeichnet; langes s (ſ): als s transkribiert; Normalisierungen: keine Angabe; rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: aufgelöst; u/v bzw. U/V: Lautwert transkribiert; Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert; Vollständigkeit: teilweise erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: nein;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/augsburgerallgemeine_119_18400428
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/augsburgerallgemeine_119_18400428/9
Zitationshilfe: Allgemeine Zeitung. Nr. 119. Augsburg, 28. April 1840, S. 0945. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/augsburgerallgemeine_119_18400428/9>, abgerufen am 27.04.2024.