Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Avé-Lallemant, Friedrich Christian Benedikt: Das Deutsche Gaunerthum. Bd. 1. Leipzig, 1858.

Bild:
<< vorherige Seite

geschwunden sind, desto mehr ist doch aber auch unser gesammtes
social-politisches Leben wiederum einer complicirten Künstlichkeit
verfallen, die sich am bedenklichsten darin manifestirt, daß wir
uns der Einrichtung und des Bestandes einer Menge von An-
stalten rühmen, welche das Siechthum unserer Zustände im Grunde
mehr verhehlen als gründlich heilen. Das deutsche Bürgerthum
ist eine sittliche Kraft, die nicht speculirt, sondern einfach die Jn-
tegrität und den Schutz seiner Existenz fordert, und daher dem
massiven Systeme der heutigen Polizei um so mehr abgeneigt ist,
je weniger es dieses System auf die deutsche Eigenthümlichkeit
berechnet findet. Eine Ausgleichung wird nur dann erreicht werden,
wenn das Bürgerthum gründlich davon überzeugt wird, daß die
Polizei dies sein Wesen und Verlangen erkannt hat und würdigt.
Das wird der Polizei aber nur dann gelingen können, wenn sie
einen ernsten Blick auf die Geschichte zurückwirft. Dies Zurück-
gehen ist jetzt eine unabweisliche Nothwendigkeit geworden, nament-
lich seitdem der geniale Riehl in seiner "Naturgeschichte des
Volkes" mit feiner Objectivität dem deutschen Volke seinen Be-
stand gezeigt hat, ohne bei dieser analytischen Operation die nächsten
Mittel und Wege zu jenem Ziele nachgewiesen zu haben, das er
in der Vision am Schlusse seines trefflichen Werkes vor Augen
stellt.

Mit der Begründung der Städte und ihren gemeinheitlichen
Verfassungen hatte die deutsche Polizei einen herrlichen Anlauf
genommen. Das gedrängte Zusammenleben und die mannich-
faltigen Berührungspunkte in den Städten forderten ein Ver-
ständniß und eine Ausgleichung der lebendig neben- und durch-
einander sich regenden Elemente. Sie forderten und schufen die
deutsche Polizei in den Städten, als die vom deutschen Bürgerthum
selbst zu seinem Schutze gewollte Ordnung. Man erstaunt nicht
nur über die Natürlichkeit und den ethischen Gehalt jener alten
städtischen Polizeieinrichtungen, sondern auch vorzüglich über die
Klarheit, mit welcher in den deutschen Städten die Gemeinde-
einrichtungen der italienischen Städte aufgefaßt wurden, und über
die Objectivität, mit welcher das Fremdartige dabei ausgeschieden

geſchwunden ſind, deſto mehr iſt doch aber auch unſer geſammtes
ſocial-politiſches Leben wiederum einer complicirten Künſtlichkeit
verfallen, die ſich am bedenklichſten darin manifeſtirt, daß wir
uns der Einrichtung und des Beſtandes einer Menge von An-
ſtalten rühmen, welche das Siechthum unſerer Zuſtände im Grunde
mehr verhehlen als gründlich heilen. Das deutſche Bürgerthum
iſt eine ſittliche Kraft, die nicht ſpeculirt, ſondern einfach die Jn-
tegrität und den Schutz ſeiner Exiſtenz fordert, und daher dem
maſſiven Syſteme der heutigen Polizei um ſo mehr abgeneigt iſt,
je weniger es dieſes Syſtem auf die deutſche Eigenthümlichkeit
berechnet findet. Eine Ausgleichung wird nur dann erreicht werden,
wenn das Bürgerthum gründlich davon überzeugt wird, daß die
Polizei dies ſein Weſen und Verlangen erkannt hat und würdigt.
Das wird der Polizei aber nur dann gelingen können, wenn ſie
einen ernſten Blick auf die Geſchichte zurückwirft. Dies Zurück-
gehen iſt jetzt eine unabweisliche Nothwendigkeit geworden, nament-
lich ſeitdem der geniale Riehl in ſeiner „Naturgeſchichte des
Volkes“ mit feiner Objectivität dem deutſchen Volke ſeinen Be-
ſtand gezeigt hat, ohne bei dieſer analytiſchen Operation die nächſten
Mittel und Wege zu jenem Ziele nachgewieſen zu haben, das er
in der Viſion am Schluſſe ſeines trefflichen Werkes vor Augen
ſtellt.

Mit der Begründung der Städte und ihren gemeinheitlichen
Verfaſſungen hatte die deutſche Polizei einen herrlichen Anlauf
genommen. Das gedrängte Zuſammenleben und die mannich-
faltigen Berührungspunkte in den Städten forderten ein Ver-
ſtändniß und eine Ausgleichung der lebendig neben- und durch-
einander ſich regenden Elemente. Sie forderten und ſchufen die
deutſche Polizei in den Städten, als die vom deutſchen Bürgerthum
ſelbſt zu ſeinem Schutze gewollte Ordnung. Man erſtaunt nicht
nur über die Natürlichkeit und den ethiſchen Gehalt jener alten
ſtädtiſchen Polizeieinrichtungen, ſondern auch vorzüglich über die
Klarheit, mit welcher in den deutſchen Städten die Gemeinde-
einrichtungen der italieniſchen Städte aufgefaßt wurden, und über
die Objectivität, mit welcher das Fremdartige dabei ausgeſchieden

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0018" n="2"/>
ge&#x017F;chwunden &#x017F;ind, de&#x017F;to mehr i&#x017F;t doch aber auch un&#x017F;er ge&#x017F;ammtes<lb/>
&#x017F;ocial-politi&#x017F;ches Leben wiederum einer complicirten Kün&#x017F;tlichkeit<lb/>
verfallen, die &#x017F;ich am bedenklich&#x017F;ten darin manife&#x017F;tirt, daß wir<lb/>
uns der Einrichtung und des Be&#x017F;tandes einer Menge von An-<lb/>
&#x017F;talten rühmen, welche das Siechthum un&#x017F;erer Zu&#x017F;tände im Grunde<lb/>
mehr verhehlen als gründlich heilen. Das deut&#x017F;che Bürgerthum<lb/>
i&#x017F;t eine &#x017F;ittliche Kraft, die nicht &#x017F;peculirt, &#x017F;ondern einfach die Jn-<lb/>
tegrität und den Schutz &#x017F;einer Exi&#x017F;tenz fordert, und daher dem<lb/>
ma&#x017F;&#x017F;iven Sy&#x017F;teme der heutigen Polizei um &#x017F;o mehr abgeneigt i&#x017F;t,<lb/>
je weniger es die&#x017F;es Sy&#x017F;tem auf die deut&#x017F;che Eigenthümlichkeit<lb/>
berechnet findet. Eine Ausgleichung wird nur dann erreicht werden,<lb/>
wenn das Bürgerthum gründlich davon überzeugt wird, daß die<lb/>
Polizei dies &#x017F;ein We&#x017F;en und Verlangen erkannt hat und würdigt.<lb/>
Das wird der Polizei aber nur dann gelingen können, wenn &#x017F;ie<lb/>
einen ern&#x017F;ten Blick auf die Ge&#x017F;chichte zurückwirft. Dies Zurück-<lb/>
gehen i&#x017F;t jetzt eine unabweisliche Nothwendigkeit geworden, nament-<lb/>
lich &#x017F;eitdem der geniale <hi rendition="#g">Riehl</hi> in &#x017F;einer &#x201E;Naturge&#x017F;chichte des<lb/>
Volkes&#x201C; mit feiner Objectivität dem deut&#x017F;chen Volke &#x017F;einen Be-<lb/>
&#x017F;tand gezeigt hat, ohne bei die&#x017F;er analyti&#x017F;chen Operation die näch&#x017F;ten<lb/>
Mittel und Wege zu jenem Ziele nachgewie&#x017F;en zu haben, das er<lb/>
in der Vi&#x017F;ion am Schlu&#x017F;&#x017F;e &#x017F;eines trefflichen Werkes vor Augen<lb/>
&#x017F;tellt.</p><lb/>
          <p>Mit der Begründung der Städte und ihren gemeinheitlichen<lb/>
Verfa&#x017F;&#x017F;ungen hatte die deut&#x017F;che Polizei einen herrlichen Anlauf<lb/>
genommen. Das gedrängte Zu&#x017F;ammenleben und die mannich-<lb/>
faltigen Berührungspunkte in den Städten forderten ein Ver-<lb/>
&#x017F;tändniß und eine Ausgleichung der lebendig neben- und durch-<lb/>
einander &#x017F;ich regenden Elemente. Sie forderten und &#x017F;chufen die<lb/>
deut&#x017F;che Polizei in den Städten, als die vom deut&#x017F;chen Bürgerthum<lb/>
&#x017F;elb&#x017F;t zu &#x017F;einem Schutze gewollte Ordnung. Man er&#x017F;taunt nicht<lb/>
nur über die Natürlichkeit und den ethi&#x017F;chen Gehalt jener alten<lb/>
&#x017F;tädti&#x017F;chen Polizeieinrichtungen, &#x017F;ondern auch vorzüglich über die<lb/>
Klarheit, mit welcher in den deut&#x017F;chen Städten die Gemeinde-<lb/>
einrichtungen der italieni&#x017F;chen Städte aufgefaßt wurden, und über<lb/>
die Objectivität, mit welcher das Fremdartige dabei ausge&#x017F;chieden<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[2/0018] geſchwunden ſind, deſto mehr iſt doch aber auch unſer geſammtes ſocial-politiſches Leben wiederum einer complicirten Künſtlichkeit verfallen, die ſich am bedenklichſten darin manifeſtirt, daß wir uns der Einrichtung und des Beſtandes einer Menge von An- ſtalten rühmen, welche das Siechthum unſerer Zuſtände im Grunde mehr verhehlen als gründlich heilen. Das deutſche Bürgerthum iſt eine ſittliche Kraft, die nicht ſpeculirt, ſondern einfach die Jn- tegrität und den Schutz ſeiner Exiſtenz fordert, und daher dem maſſiven Syſteme der heutigen Polizei um ſo mehr abgeneigt iſt, je weniger es dieſes Syſtem auf die deutſche Eigenthümlichkeit berechnet findet. Eine Ausgleichung wird nur dann erreicht werden, wenn das Bürgerthum gründlich davon überzeugt wird, daß die Polizei dies ſein Weſen und Verlangen erkannt hat und würdigt. Das wird der Polizei aber nur dann gelingen können, wenn ſie einen ernſten Blick auf die Geſchichte zurückwirft. Dies Zurück- gehen iſt jetzt eine unabweisliche Nothwendigkeit geworden, nament- lich ſeitdem der geniale Riehl in ſeiner „Naturgeſchichte des Volkes“ mit feiner Objectivität dem deutſchen Volke ſeinen Be- ſtand gezeigt hat, ohne bei dieſer analytiſchen Operation die nächſten Mittel und Wege zu jenem Ziele nachgewieſen zu haben, das er in der Viſion am Schluſſe ſeines trefflichen Werkes vor Augen ſtellt. Mit der Begründung der Städte und ihren gemeinheitlichen Verfaſſungen hatte die deutſche Polizei einen herrlichen Anlauf genommen. Das gedrängte Zuſammenleben und die mannich- faltigen Berührungspunkte in den Städten forderten ein Ver- ſtändniß und eine Ausgleichung der lebendig neben- und durch- einander ſich regenden Elemente. Sie forderten und ſchufen die deutſche Polizei in den Städten, als die vom deutſchen Bürgerthum ſelbſt zu ſeinem Schutze gewollte Ordnung. Man erſtaunt nicht nur über die Natürlichkeit und den ethiſchen Gehalt jener alten ſtädtiſchen Polizeieinrichtungen, ſondern auch vorzüglich über die Klarheit, mit welcher in den deutſchen Städten die Gemeinde- einrichtungen der italieniſchen Städte aufgefaßt wurden, und über die Objectivität, mit welcher das Fremdartige dabei ausgeſchieden

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/avelallemant_gaunerthum01_1858
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/avelallemant_gaunerthum01_1858/18
Zitationshilfe: Avé-Lallemant, Friedrich Christian Benedikt: Das Deutsche Gaunerthum. Bd. 1. Leipzig, 1858, S. 2. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/avelallemant_gaunerthum01_1858/18>, abgerufen am 21.11.2024.