Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Avé-Lallemant, Friedrich Christian Benedikt: Das Deutsche Gaunerthum. Bd. 3. Leipzig, 1862.

Bild:
<< vorherige Seite

ein neues, kräftig erblühendes Leben an, in welchem später durch
J. Mascow (+ 1761) und Graf H. von Bünau (+ 1762) der
schöne deutsche historische Stil sich heranbildete.

Man muß den Blick fest auf diese letztere tröstliche Wieder-
belebung des deutschen Gelehrtenstandes heften, wenn man den
Faden aus der wüsten, dichten und trüben Wirrniß des deutschen
Gelehrtenthums im 16. und 17. Jahrhundert verfolgen, heraus-
lösen und die Verzerrung der deutschen Sprache zu der unheim-
lichen Erscheinung begreifen will, wie sie besonders im 17. Jahr-
hundert so sinnverwirrend dem Blicke des Forschers entgegentritt.
Trotzdem daß die classische Literatur ein ganz neues Leben in das Volk
gebracht hatte, trotzdem daß das Volksleben in der Volkspoesie zur
schönsten Blüte ausgeschlagen war, trotzdem daß Luther mit seiner
klaren, schlichten, populären deutschen Sprache der deutschen Wissen-
schaft alle Wege und Stege angebahnt hatte, mit voller Frucht-
barkeit den schönsten Segen in das Volk hineinzubringen: trotz
dieser herrlichen Schöpfungen und Verheißungen deutschen Geistes
und deutscher Sprache übersahen die Gelehrten des 16. und 17.
Jahrhunderts die Sprache des Volkes und konnten damit auch
die Seele und das Herz des Volkes nicht wiederfinden. Jn den
Gelehrtenstuben, in welchen die Gelehrten des 16. und 17. Jahr-
hunderts zu einem freiwilligen oder unfreiwilligen Exil sich ver-
schlossen hielten, wurde mit unsaglichem Fleiß alles Mögliche, nur
nicht Deutsches und deutsches Leben studirt und gefördert. Das
classische Alterthum mit seiner heidnischen Moral und Philosophie
brachte auf der einen Seite ebenso viel Frivolität in den Gelehr-
tenstuben zu Wege, wie auf der andern Seite der christliche Aber-
glaube Scholien zum "Hexenhammer" schrieb und die fürchterliche
zaubermystische Literatur mächtig förderte, welche aller Wissenschaft
und christlichen Zucht, Sitte und Liebe Hohn sprach. Wird man
vom sittlichen Standpunkte aus, welchen der Gelehrte überall ein-
halten soll, von Erstaunen und bis zum Zorn gesteigertem Un-
willen ergriffen, wenn man schon 1585 in den "Bigarrures et
touches
" des dijoner Parlamentsadvocaten Tabourot eine ganze
Chrestomathie ebenso schmuziger wie scharfsinniger Wortmischungen,

ein neues, kräftig erblühendes Leben an, in welchem ſpäter durch
J. Maſcow († 1761) und Graf H. von Bünau († 1762) der
ſchöne deutſche hiſtoriſche Stil ſich heranbildete.

Man muß den Blick feſt auf dieſe letztere tröſtliche Wieder-
belebung des deutſchen Gelehrtenſtandes heften, wenn man den
Faden aus der wüſten, dichten und trüben Wirrniß des deutſchen
Gelehrtenthums im 16. und 17. Jahrhundert verfolgen, heraus-
löſen und die Verzerrung der deutſchen Sprache zu der unheim-
lichen Erſcheinung begreifen will, wie ſie beſonders im 17. Jahr-
hundert ſo ſinnverwirrend dem Blicke des Forſchers entgegentritt.
Trotzdem daß die claſſiſche Literatur ein ganz neues Leben in das Volk
gebracht hatte, trotzdem daß das Volksleben in der Volkspoeſie zur
ſchönſten Blüte ausgeſchlagen war, trotzdem daß Luther mit ſeiner
klaren, ſchlichten, populären deutſchen Sprache der deutſchen Wiſſen-
ſchaft alle Wege und Stege angebahnt hatte, mit voller Frucht-
barkeit den ſchönſten Segen in das Volk hineinzubringen: trotz
dieſer herrlichen Schöpfungen und Verheißungen deutſchen Geiſtes
und deutſcher Sprache überſahen die Gelehrten des 16. und 17.
Jahrhunderts die Sprache des Volkes und konnten damit auch
die Seele und das Herz des Volkes nicht wiederfinden. Jn den
Gelehrtenſtuben, in welchen die Gelehrten des 16. und 17. Jahr-
hunderts zu einem freiwilligen oder unfreiwilligen Exil ſich ver-
ſchloſſen hielten, wurde mit unſaglichem Fleiß alles Mögliche, nur
nicht Deutſches und deutſches Leben ſtudirt und gefördert. Das
claſſiſche Alterthum mit ſeiner heidniſchen Moral und Philoſophie
brachte auf der einen Seite ebenſo viel Frivolität in den Gelehr-
tenſtuben zu Wege, wie auf der andern Seite der chriſtliche Aber-
glaube Scholien zum „Hexenhammer“ ſchrieb und die fürchterliche
zaubermyſtiſche Literatur mächtig förderte, welche aller Wiſſenſchaft
und chriſtlichen Zucht, Sitte und Liebe Hohn ſprach. Wird man
vom ſittlichen Standpunkte aus, welchen der Gelehrte überall ein-
halten ſoll, von Erſtaunen und bis zum Zorn geſteigertem Un-
willen ergriffen, wenn man ſchon 1585 in den „Bigarrures et
touches
“ des dijoner Parlamentsadvocaten Tabourot eine ganze
Chreſtomathie ebenſo ſchmuziger wie ſcharfſinniger Wortmiſchungen,

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0210" n="176"/>
ein neues, kräftig erblühendes Leben an, in welchem &#x017F;päter durch<lb/>
J. Ma&#x017F;cow (&#x2020; 1761) und Graf H. von Bünau (&#x2020; 1762) der<lb/>
&#x017F;chöne deut&#x017F;che hi&#x017F;tori&#x017F;che Stil &#x017F;ich heranbildete.</p><lb/>
            <p>Man muß den Blick fe&#x017F;t auf die&#x017F;e letztere trö&#x017F;tliche Wieder-<lb/>
belebung des deut&#x017F;chen Gelehrten&#x017F;tandes heften, wenn man den<lb/>
Faden aus der wü&#x017F;ten, dichten und trüben Wirrniß des deut&#x017F;chen<lb/>
Gelehrtenthums im 16. und 17. Jahrhundert verfolgen, heraus-<lb/>&#x017F;en und die Verzerrung der deut&#x017F;chen Sprache zu der unheim-<lb/>
lichen Er&#x017F;cheinung begreifen will, wie &#x017F;ie be&#x017F;onders im 17. Jahr-<lb/>
hundert &#x017F;o &#x017F;innverwirrend dem Blicke des For&#x017F;chers entgegentritt.<lb/>
Trotzdem daß die cla&#x017F;&#x017F;i&#x017F;che Literatur ein ganz neues Leben in das Volk<lb/>
gebracht hatte, trotzdem daß das Volksleben in der Volkspoe&#x017F;ie zur<lb/>
&#x017F;chön&#x017F;ten Blüte ausge&#x017F;chlagen war, trotzdem daß Luther mit &#x017F;einer<lb/>
klaren, &#x017F;chlichten, populären deut&#x017F;chen Sprache der deut&#x017F;chen Wi&#x017F;&#x017F;en-<lb/>
&#x017F;chaft alle Wege und Stege angebahnt hatte, mit voller Frucht-<lb/>
barkeit den &#x017F;chön&#x017F;ten Segen in das Volk hineinzubringen: trotz<lb/>
die&#x017F;er herrlichen Schöpfungen und Verheißungen deut&#x017F;chen Gei&#x017F;tes<lb/>
und deut&#x017F;cher Sprache über&#x017F;ahen die Gelehrten des 16. und 17.<lb/>
Jahrhunderts die Sprache des Volkes und konnten damit auch<lb/>
die Seele und das Herz des Volkes nicht wiederfinden. Jn den<lb/>
Gelehrten&#x017F;tuben, in welchen die Gelehrten des 16. und 17. Jahr-<lb/>
hunderts zu einem freiwilligen oder unfreiwilligen Exil &#x017F;ich ver-<lb/>
&#x017F;chlo&#x017F;&#x017F;en hielten, wurde mit un&#x017F;aglichem Fleiß alles Mögliche, nur<lb/>
nicht Deut&#x017F;ches und deut&#x017F;ches Leben &#x017F;tudirt und gefördert. Das<lb/>
cla&#x017F;&#x017F;i&#x017F;che Alterthum mit &#x017F;einer heidni&#x017F;chen Moral und Philo&#x017F;ophie<lb/>
brachte auf der einen Seite eben&#x017F;o viel Frivolität in den Gelehr-<lb/>
ten&#x017F;tuben zu Wege, wie auf der andern Seite der chri&#x017F;tliche Aber-<lb/>
glaube Scholien zum &#x201E;Hexenhammer&#x201C; &#x017F;chrieb und die fürchterliche<lb/>
zaubermy&#x017F;ti&#x017F;che Literatur mächtig förderte, welche aller Wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaft<lb/>
und chri&#x017F;tlichen Zucht, Sitte und Liebe Hohn &#x017F;prach. Wird man<lb/>
vom &#x017F;ittlichen Standpunkte aus, welchen der Gelehrte überall ein-<lb/>
halten &#x017F;oll, von Er&#x017F;taunen und bis zum Zorn ge&#x017F;teigertem Un-<lb/>
willen ergriffen, wenn man &#x017F;chon 1585 in den &#x201E;<hi rendition="#aq">Bigarrures et<lb/>
touches</hi>&#x201C; des dijoner Parlamentsadvocaten Tabourot eine ganze<lb/>
Chre&#x017F;tomathie eben&#x017F;o &#x017F;chmuziger wie &#x017F;charf&#x017F;inniger Wortmi&#x017F;chungen,<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[176/0210] ein neues, kräftig erblühendes Leben an, in welchem ſpäter durch J. Maſcow († 1761) und Graf H. von Bünau († 1762) der ſchöne deutſche hiſtoriſche Stil ſich heranbildete. Man muß den Blick feſt auf dieſe letztere tröſtliche Wieder- belebung des deutſchen Gelehrtenſtandes heften, wenn man den Faden aus der wüſten, dichten und trüben Wirrniß des deutſchen Gelehrtenthums im 16. und 17. Jahrhundert verfolgen, heraus- löſen und die Verzerrung der deutſchen Sprache zu der unheim- lichen Erſcheinung begreifen will, wie ſie beſonders im 17. Jahr- hundert ſo ſinnverwirrend dem Blicke des Forſchers entgegentritt. Trotzdem daß die claſſiſche Literatur ein ganz neues Leben in das Volk gebracht hatte, trotzdem daß das Volksleben in der Volkspoeſie zur ſchönſten Blüte ausgeſchlagen war, trotzdem daß Luther mit ſeiner klaren, ſchlichten, populären deutſchen Sprache der deutſchen Wiſſen- ſchaft alle Wege und Stege angebahnt hatte, mit voller Frucht- barkeit den ſchönſten Segen in das Volk hineinzubringen: trotz dieſer herrlichen Schöpfungen und Verheißungen deutſchen Geiſtes und deutſcher Sprache überſahen die Gelehrten des 16. und 17. Jahrhunderts die Sprache des Volkes und konnten damit auch die Seele und das Herz des Volkes nicht wiederfinden. Jn den Gelehrtenſtuben, in welchen die Gelehrten des 16. und 17. Jahr- hunderts zu einem freiwilligen oder unfreiwilligen Exil ſich ver- ſchloſſen hielten, wurde mit unſaglichem Fleiß alles Mögliche, nur nicht Deutſches und deutſches Leben ſtudirt und gefördert. Das claſſiſche Alterthum mit ſeiner heidniſchen Moral und Philoſophie brachte auf der einen Seite ebenſo viel Frivolität in den Gelehr- tenſtuben zu Wege, wie auf der andern Seite der chriſtliche Aber- glaube Scholien zum „Hexenhammer“ ſchrieb und die fürchterliche zaubermyſtiſche Literatur mächtig förderte, welche aller Wiſſenſchaft und chriſtlichen Zucht, Sitte und Liebe Hohn ſprach. Wird man vom ſittlichen Standpunkte aus, welchen der Gelehrte überall ein- halten ſoll, von Erſtaunen und bis zum Zorn geſteigertem Un- willen ergriffen, wenn man ſchon 1585 in den „Bigarrures et touches“ des dijoner Parlamentsadvocaten Tabourot eine ganze Chreſtomathie ebenſo ſchmuziger wie ſcharfſinniger Wortmiſchungen,

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/avelallemant_gaunerthum03_1862
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/avelallemant_gaunerthum03_1862/210
Zitationshilfe: Avé-Lallemant, Friedrich Christian Benedikt: Das Deutsche Gaunerthum. Bd. 3. Leipzig, 1862, S. 176. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/avelallemant_gaunerthum03_1862/210>, abgerufen am 21.11.2024.