Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Avé-Lallemant, Friedrich Christian Benedikt: Das Deutsche Gaunerthum. Bd. 3. Leipzig, 1862.

Bild:
<< vorherige Seite

jahraus jahrein die eine Hälfte seiner zahlreichen Verhöre in nie-
derdeutscher und die andere Hälfte in hochdeutscher Mundart ab-
halten muß, wobei er in den beiden "Hauptmundarten" von den
verschiedensten Jndividuen recht mitten aus dem Volke die bunte-
sten Variationen sowol der hochdeutschen als auch der niederdeut-
schen Hauptmundart fast in erschöpfender Weise kennen lernt. Bei
aller Tiefe, bei allem bewundernswürdigen Fleiße leidet doch wol
die herrliche deutsche Gelehrsamkeit überhaupt an dem Fehler, daß
sie bei weitem mehr liest und schreibt als hört und spricht.
Die Wahrheit, daß alle Grammatik aus dem Volksmunde tönt,
würde sonst zu lebendigerm, fruchtbarerm Bewußtsein gediehen und
von größerm Einfluß auf die grammatische Forschung geworden
sein. Wie die stille, lauschende Beobachtung des Volksgeistes und
der Stamm-, Geschlechts-, Familien-, ja sogar der Jndividualitäts-
verschiedenheit die magische Situation ist, in welcher der mit dem
Volksgeiste innig verbrüderte Geist der Geschichte in seinen tiefsten
Offenbarungen dem Forscher erscheint: so ist das stille Lauschen
auf den tönenden Volksmund eine wundervolle Offenbarung des
Sprachgeistes, welcher als die leibliche Erscheinung des Volks-
geistes hervortritt und im wunderbar verschiedenen Lautreichthum
die ganze Fülle dieses Geistes als eines Volksgeistes darlegt.
Wie das concrete Jndividuum durch seine Existenz das Recht auf
die Jntegrität seiner Jndividualität hat, so erkennt es auch das
gleiche Recht der mit und neben ihm geschaffenen Jndividualitäten
an, um mit ihnen und ihrer Gleichberechtigung fort zu existiren,
ohne die eigene concrete Jndividualität selbst aufzugeben oder jenen
zu nehmen. So hat in gleicher Progression Familie, Geschlecht
und Stamm die gleiche Eigenthümlichkeit und Berechtigung dazu,
als mehr oder minder zahlreiche berechtigte Gruppe des einen
Volkes zu existiren und sich wiederum als größeres Einzelnes zum

der Rubrik: Versuch einer Dialectologia Hamburgensis, gegeben. Sie ver-
dient unbedingt die vollste Beachtung und ist ein Zeugniß der genauesten
Kenntniß, welche der unvergeßliche Richey von der niederdeutschen Sprache ge-
habt hat.

jahraus jahrein die eine Hälfte ſeiner zahlreichen Verhöre in nie-
derdeutſcher und die andere Hälfte in hochdeutſcher Mundart ab-
halten muß, wobei er in den beiden „Hauptmundarten“ von den
verſchiedenſten Jndividuen recht mitten aus dem Volke die bunte-
ſten Variationen ſowol der hochdeutſchen als auch der niederdeut-
ſchen Hauptmundart faſt in erſchöpfender Weiſe kennen lernt. Bei
aller Tiefe, bei allem bewundernswürdigen Fleiße leidet doch wol
die herrliche deutſche Gelehrſamkeit überhaupt an dem Fehler, daß
ſie bei weitem mehr lieſt und ſchreibt als hört und ſpricht.
Die Wahrheit, daß alle Grammatik aus dem Volksmunde tönt,
würde ſonſt zu lebendigerm, fruchtbarerm Bewußtſein gediehen und
von größerm Einfluß auf die grammatiſche Forſchung geworden
ſein. Wie die ſtille, lauſchende Beobachtung des Volksgeiſtes und
der Stamm-, Geſchlechts-, Familien-, ja ſogar der Jndividualitäts-
verſchiedenheit die magiſche Situation iſt, in welcher der mit dem
Volksgeiſte innig verbrüderte Geiſt der Geſchichte in ſeinen tiefſten
Offenbarungen dem Forſcher erſcheint: ſo iſt das ſtille Lauſchen
auf den tönenden Volksmund eine wundervolle Offenbarung des
Sprachgeiſtes, welcher als die leibliche Erſcheinung des Volks-
geiſtes hervortritt und im wunderbar verſchiedenen Lautreichthum
die ganze Fülle dieſes Geiſtes als eines Volksgeiſtes darlegt.
Wie das concrete Jndividuum durch ſeine Exiſtenz das Recht auf
die Jntegrität ſeiner Jndividualität hat, ſo erkennt es auch das
gleiche Recht der mit und neben ihm geſchaffenen Jndividualitäten
an, um mit ihnen und ihrer Gleichberechtigung fort zu exiſtiren,
ohne die eigene concrete Jndividualität ſelbſt aufzugeben oder jenen
zu nehmen. So hat in gleicher Progreſſion Familie, Geſchlecht
und Stamm die gleiche Eigenthümlichkeit und Berechtigung dazu,
als mehr oder minder zahlreiche berechtigte Gruppe des einen
Volkes zu exiſtiren und ſich wiederum als größeres Einzelnes zum

der Rubrik: Verſuch einer Dialectologia Hamburgensis, gegeben. Sie ver-
dient unbedingt die vollſte Beachtung und iſt ein Zeugniß der genaueſten
Kenntniß, welche der unvergeßliche Richey von der niederdeutſchen Sprache ge-
habt hat.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0042" n="8"/>
jahraus jahrein die eine Hälfte &#x017F;einer zahlreichen Verhöre in nie-<lb/>
derdeut&#x017F;cher und die andere Hälfte in hochdeut&#x017F;cher Mundart ab-<lb/>
halten muß, wobei er in den beiden &#x201E;Hauptmundarten&#x201C; von den<lb/>
ver&#x017F;chieden&#x017F;ten Jndividuen recht mitten aus dem Volke die bunte-<lb/>
&#x017F;ten Variationen &#x017F;owol der hochdeut&#x017F;chen als auch der niederdeut-<lb/>
&#x017F;chen Hauptmundart fa&#x017F;t in er&#x017F;chöpfender Wei&#x017F;e kennen lernt. Bei<lb/>
aller Tiefe, bei allem bewundernswürdigen Fleiße leidet doch wol<lb/>
die herrliche deut&#x017F;che Gelehr&#x017F;amkeit überhaupt an dem Fehler, daß<lb/>
&#x017F;ie bei weitem mehr <hi rendition="#g">lie&#x017F;t</hi> und <hi rendition="#g">&#x017F;chreibt</hi> als <hi rendition="#g">hört</hi> und <hi rendition="#g">&#x017F;pricht.</hi><lb/>
Die Wahrheit, daß alle Grammatik aus dem <hi rendition="#g">Volksmunde</hi> tönt,<lb/>
würde &#x017F;on&#x017F;t zu lebendigerm, fruchtbarerm Bewußt&#x017F;ein gediehen und<lb/>
von größerm Einfluß auf die grammati&#x017F;che For&#x017F;chung geworden<lb/>
&#x017F;ein. Wie die &#x017F;tille, lau&#x017F;chende Beobachtung des Volksgei&#x017F;tes und<lb/>
der Stamm-, Ge&#x017F;chlechts-, Familien-, ja &#x017F;ogar der Jndividualitäts-<lb/>
ver&#x017F;chiedenheit die magi&#x017F;che Situation i&#x017F;t, in welcher der mit dem<lb/>
Volksgei&#x017F;te innig verbrüderte Gei&#x017F;t der Ge&#x017F;chichte in &#x017F;einen tief&#x017F;ten<lb/>
Offenbarungen dem For&#x017F;cher er&#x017F;cheint: &#x017F;o i&#x017F;t das &#x017F;tille Lau&#x017F;chen<lb/>
auf den tönenden Volksmund eine wundervolle Offenbarung des<lb/>
Sprachgei&#x017F;tes, welcher als die leibliche Er&#x017F;cheinung des Volks-<lb/>
gei&#x017F;tes hervortritt und im wunderbar ver&#x017F;chiedenen Lautreichthum<lb/>
die ganze Fülle die&#x017F;es Gei&#x017F;tes als <hi rendition="#g">eines</hi> Volksgei&#x017F;tes darlegt.<lb/>
Wie das concrete Jndividuum durch &#x017F;eine Exi&#x017F;tenz das Recht auf<lb/>
die Jntegrität &#x017F;einer Jndividualität hat, &#x017F;o erkennt es auch das<lb/>
gleiche Recht der mit und neben ihm ge&#x017F;chaffenen Jndividualitäten<lb/>
an, um mit ihnen und ihrer Gleichberechtigung fort zu exi&#x017F;tiren,<lb/>
ohne die eigene concrete Jndividualität &#x017F;elb&#x017F;t aufzugeben oder jenen<lb/>
zu nehmen. So hat in gleicher Progre&#x017F;&#x017F;ion Familie, Ge&#x017F;chlecht<lb/>
und Stamm die gleiche Eigenthümlichkeit und Berechtigung dazu,<lb/>
als mehr oder minder zahlreiche berechtigte Gruppe des einen<lb/>
Volkes zu exi&#x017F;tiren und &#x017F;ich wiederum als größeres Einzelnes zum<lb/><note xml:id="seg2pn_1_2" prev="#seg2pn_1_1" place="foot" n="2)">der Rubrik: Ver&#x017F;uch einer <hi rendition="#aq">Dialectologia Hamburgensis,</hi> gegeben. Sie ver-<lb/>
dient unbedingt die voll&#x017F;te Beachtung und i&#x017F;t ein Zeugniß der genaue&#x017F;ten<lb/>
Kenntniß, welche der unvergeßliche Richey von der niederdeut&#x017F;chen Sprache ge-<lb/>
habt hat.</note><lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[8/0042] jahraus jahrein die eine Hälfte ſeiner zahlreichen Verhöre in nie- derdeutſcher und die andere Hälfte in hochdeutſcher Mundart ab- halten muß, wobei er in den beiden „Hauptmundarten“ von den verſchiedenſten Jndividuen recht mitten aus dem Volke die bunte- ſten Variationen ſowol der hochdeutſchen als auch der niederdeut- ſchen Hauptmundart faſt in erſchöpfender Weiſe kennen lernt. Bei aller Tiefe, bei allem bewundernswürdigen Fleiße leidet doch wol die herrliche deutſche Gelehrſamkeit überhaupt an dem Fehler, daß ſie bei weitem mehr lieſt und ſchreibt als hört und ſpricht. Die Wahrheit, daß alle Grammatik aus dem Volksmunde tönt, würde ſonſt zu lebendigerm, fruchtbarerm Bewußtſein gediehen und von größerm Einfluß auf die grammatiſche Forſchung geworden ſein. Wie die ſtille, lauſchende Beobachtung des Volksgeiſtes und der Stamm-, Geſchlechts-, Familien-, ja ſogar der Jndividualitäts- verſchiedenheit die magiſche Situation iſt, in welcher der mit dem Volksgeiſte innig verbrüderte Geiſt der Geſchichte in ſeinen tiefſten Offenbarungen dem Forſcher erſcheint: ſo iſt das ſtille Lauſchen auf den tönenden Volksmund eine wundervolle Offenbarung des Sprachgeiſtes, welcher als die leibliche Erſcheinung des Volks- geiſtes hervortritt und im wunderbar verſchiedenen Lautreichthum die ganze Fülle dieſes Geiſtes als eines Volksgeiſtes darlegt. Wie das concrete Jndividuum durch ſeine Exiſtenz das Recht auf die Jntegrität ſeiner Jndividualität hat, ſo erkennt es auch das gleiche Recht der mit und neben ihm geſchaffenen Jndividualitäten an, um mit ihnen und ihrer Gleichberechtigung fort zu exiſtiren, ohne die eigene concrete Jndividualität ſelbſt aufzugeben oder jenen zu nehmen. So hat in gleicher Progreſſion Familie, Geſchlecht und Stamm die gleiche Eigenthümlichkeit und Berechtigung dazu, als mehr oder minder zahlreiche berechtigte Gruppe des einen Volkes zu exiſtiren und ſich wiederum als größeres Einzelnes zum 2) 2) der Rubrik: Verſuch einer Dialectologia Hamburgensis, gegeben. Sie ver- dient unbedingt die vollſte Beachtung und iſt ein Zeugniß der genaueſten Kenntniß, welche der unvergeßliche Richey von der niederdeutſchen Sprache ge- habt hat.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/avelallemant_gaunerthum03_1862
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/avelallemant_gaunerthum03_1862/42
Zitationshilfe: Avé-Lallemant, Friedrich Christian Benedikt: Das Deutsche Gaunerthum. Bd. 3. Leipzig, 1862, S. 8. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/avelallemant_gaunerthum03_1862/42>, abgerufen am 21.11.2024.