Einundzwanzigstes Kapitel. 2) Die deutsche Sprache.
Mit gutem Recht bemerkt Genthe S. 12, ehe er den großen Sprung von Cicero auf Williram macht, daß im mittelalterlichen Deutschland das Lateinische als Sprache der Geistlichkeit seine Herrschaft ebenso weit verbreitet hatte wie ehedem das römische Volk seine politische Herrschaft, und daß die Landessprache gleich- sam in einem Kampfe sich hervorringen mußte. Wenn Genthe nun auch das Ringen der deutschen Sprache nach freier Selbstän- digkeit anerkennt und die Spuren des Lateinischen in ganzen Wör- tern und Phrasen bei Williram (älterer, bei Genthe ganz über- gangener Urkunden nicht zu gedenken) findet, so durfte er nicht unmittelbar darauf die Ansicht Bouterwek's, welche schon oben an- geführt ist, adoptiren, daß schon in der zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts diese Sprachmengerei sich angekündigt habe. Die deutsche Sprache suchte gerade in jener Zeit mit dem eifrigsten Streben sich vor der lateinischen geltend zu machen und aus dem Volke in die Schriftsprache hinaufzudringen. Sie hatte aber noch nicht die Gewalt und Gewandtheit zur raschen und vollständigen Emancipation. Sie wurde eben noch durch die herrschende Gewalt des römischen Cultus und seiner Sprache zurückgehalten. Hatte sie aber noch an den Spuren dieser Sprache zu tragen, so schleppte sie die lateinische Sprache insoweit kaum noch als Sprache, son- dern schon als zerbröckelte, von ihrem Sprachgeiste schon längst verschmähte fremde Sprachmasse nur in den Rudimenten einzelner Wörter und Sätze mit sich hindurch, ohne sich selbst jemals mit der lateinischen Sprache zu versetzen, bis sie endlich die ganze Last abwerfen konnte. Von einer wirklichen Sprachvermischung ist nicht die Rede, wenn es z. B. in Williram's Erklärung des Hohen Liedes 3, 11, heißt:
Ir gauoten sela, ir der heie birt positae in specula fidei, unte ir gedinge hat daz ir cumet in atria coelestis Hierusa- lem, tauot iu selbon einan raum, daz iuvich nechein uuerlich
Einundzwanzigſtes Kapitel. 2) Die deutſche Sprache.
Mit gutem Recht bemerkt Genthe S. 12, ehe er den großen Sprung von Cicero auf Williram macht, daß im mittelalterlichen Deutſchland das Lateiniſche als Sprache der Geiſtlichkeit ſeine Herrſchaft ebenſo weit verbreitet hatte wie ehedem das römiſche Volk ſeine politiſche Herrſchaft, und daß die Landesſprache gleich- ſam in einem Kampfe ſich hervorringen mußte. Wenn Genthe nun auch das Ringen der deutſchen Sprache nach freier Selbſtän- digkeit anerkennt und die Spuren des Lateiniſchen in ganzen Wör- tern und Phraſen bei Williram (älterer, bei Genthe ganz über- gangener Urkunden nicht zu gedenken) findet, ſo durfte er nicht unmittelbar darauf die Anſicht Bouterwek’s, welche ſchon oben an- geführt iſt, adoptiren, daß ſchon in der zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts dieſe Sprachmengerei ſich angekündigt habe. Die deutſche Sprache ſuchte gerade in jener Zeit mit dem eifrigſten Streben ſich vor der lateiniſchen geltend zu machen und aus dem Volke in die Schriftſprache hinaufzudringen. Sie hatte aber noch nicht die Gewalt und Gewandtheit zur raſchen und vollſtändigen Emancipation. Sie wurde eben noch durch die herrſchende Gewalt des römiſchen Cultus und ſeiner Sprache zurückgehalten. Hatte ſie aber noch an den Spuren dieſer Sprache zu tragen, ſo ſchleppte ſie die lateiniſche Sprache inſoweit kaum noch als Sprache, ſon- dern ſchon als zerbröckelte, von ihrem Sprachgeiſte ſchon längſt verſchmähte fremde Sprachmaſſe nur in den Rudimenten einzelner Wörter und Sätze mit ſich hindurch, ohne ſich ſelbſt jemals mit der lateiniſchen Sprache zu verſetzen, bis ſie endlich die ganze Laſt abwerfen konnte. Von einer wirklichen Sprachvermiſchung iſt nicht die Rede, wenn es z. B. in Williram’s Erklärung des Hohen Liedes 3, 11, heißt:
Ir gûoten ſêla, ir der hîe birt positae in specula fidei, unte ir gedinge hât daz ir cúmet in atria coelestis Hierusa- lem, tûot iu sélbon êinan rûm, daz iuvich nechêin uuérlich
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Einundzwanzigſtes Kapitel.
2) Die deutſche Sprache.
Mit gutem Recht bemerkt Genthe S. 12, ehe er den großen
Sprung von Cicero auf Williram macht, daß im mittelalterlichen
Deutſchland das Lateiniſche als Sprache der Geiſtlichkeit ſeine
Herrſchaft ebenſo weit verbreitet hatte wie ehedem das römiſche
Volk ſeine politiſche Herrſchaft, und daß die Landesſprache gleich-
ſam in einem Kampfe ſich hervorringen mußte. Wenn Genthe
nun auch das Ringen der deutſchen Sprache nach freier Selbſtän-
digkeit anerkennt und die Spuren des Lateiniſchen in ganzen Wör-
tern und Phraſen bei Williram (älterer, bei Genthe ganz über-
gangener Urkunden nicht zu gedenken) findet, ſo durfte er nicht
unmittelbar darauf die Anſicht Bouterwek’s, welche ſchon oben an-
geführt iſt, adoptiren, daß ſchon in der zweiten Hälfte des 11.
Jahrhunderts dieſe Sprachmengerei ſich angekündigt habe. Die
deutſche Sprache ſuchte gerade in jener Zeit mit dem eifrigſten
Streben ſich vor der lateiniſchen geltend zu machen und aus dem
Volke in die Schriftſprache hinaufzudringen. Sie hatte aber noch
nicht die Gewalt und Gewandtheit zur raſchen und vollſtändigen
Emancipation. Sie wurde eben noch durch die herrſchende Gewalt
des römiſchen Cultus und ſeiner Sprache zurückgehalten. Hatte
ſie aber noch an den Spuren dieſer Sprache zu tragen, ſo ſchleppte
ſie die lateiniſche Sprache inſoweit kaum noch als Sprache, ſon-
dern ſchon als zerbröckelte, von ihrem Sprachgeiſte ſchon längſt
verſchmähte fremde Sprachmaſſe nur in den Rudimenten einzelner
Wörter und Sätze mit ſich hindurch, ohne ſich ſelbſt jemals mit
der lateiniſchen Sprache zu verſetzen, bis ſie endlich die ganze Laſt
abwerfen konnte. Von einer wirklichen Sprachvermiſchung iſt nicht
die Rede, wenn es z. B. in Williram’s Erklärung des Hohen
Liedes 3, 11, heißt:
Ir gûoten ſêla, ir der hîe birt positae in specula fidei,
unte ir gedinge hât daz ir cúmet in atria coelestis Hierusa-
lem, tûot iu sélbon êinan rûm, daz iuvich nechêin uuérlich
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Avé-Lallemant, Friedrich Christian Benedikt: Das Deutsche Gaunerthum. Bd. 3. Leipzig, 1862, S. 64. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/avelallemant_gaunerthum03_1862/98>, abgerufen am 22.11.2024.
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