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Bach, Carl Philipp Emanuel: Versuch über die wahre Art das Clavier zu spielen. Bd. 1. 2. Aufl. Berlin, 1753.

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Vom Vortrage.
cher zärtliche Empfindungen besitzet, und den guten Vortrag in
seiner Gewalt hat; so erfahren sie mit Verwunderung, daß ihre
Wercke mehr enthalten, als sie gewust und geglaubt haben.
Man sieht hieraus, daß ein guter Vortrag auch ein mittelmäßi-
ges Stück erheben, und ihm Beyfall erwerben kan.

§. 14.

Aus der Menge der Affecten, welche die Musick
erregen kan, sieht man, was für besondre Gaben ein vollkommner
Musickus haben müsse, und mit wie vieler Klugheit er sie zu ge-
brauchen habe, damit er zugleich seine Zuhörer, und nach die-
ser ihrer Gesinnung den Jnhalt seiner vorzutragenden Wahrhei-
ten, den Ort, und andere Umstände mehr in Erwegung ziehe.
Da die Natur auf eine so weise Art die Musick mit so vielen
Veränderungen begabet hat, damit ein jeder daran Antheil neh-
men könne: so ist ein Musickus also auch schuldig, so viel ihm
möglich ist, allerley Arten von Zuhörern zu befriedigen.

§. 15.

Wir haben oben angeführt, daß ein Clavieriste be-
sonders durch Fantasien, welche nicht in auswendig gelernten Passa-
gien oder gestohlnen Gedancken bestehen, sondern aus einer guten
musickalischen Seele herkommen müssen, das Sprechende, das
hurtig überraschende von einem Affecte zum andern, alleine vor-
züglich vor den übrigen Ton-Künstlern ausüben kan; Jch habe
hiervon in dem letzten Probe-Stück eine kleine Anleitung ent-
worfen. Hierbey ist nach der gewöhnlichen Art der schlechte
Tact vorgezeichnet, ohne sich daran zu binden, was die Einthei-
lung des Gantzen betrift; aus dieser Ursache sind allezeit bey die-
ser Art von Stücken die Abtheilungen des Tactes weggeblieben.
Die Dauer der Noten wird durch das vorgesetzte Moderato
überhaupt und durch die Verhältniß der Noten unter sich beson-
ders bestimmt. Die Triolen sind hier ebenfalls durch die blosse
Figur von drey Noten zu erkennen. Das Fantasiren ohne Tact

scheint
O 3

Vom Vortrage.
cher zaͤrtliche Empfindungen beſitzet, und den guten Vortrag in
ſeiner Gewalt hat; ſo erfahren ſie mit Verwunderung, daß ihre
Wercke mehr enthalten, als ſie gewuſt und geglaubt haben.
Man ſieht hieraus, daß ein guter Vortrag auch ein mittelmaͤßi-
ges Stuͤck erheben, und ihm Beyfall erwerben kan.

§. 14.

Aus der Menge der Affecten, welche die Muſick
erregen kan, ſieht man, was fuͤr beſondre Gaben ein vollkommner
Muſickus haben muͤſſe, und mit wie vieler Klugheit er ſie zu ge-
brauchen habe, damit er zugleich ſeine Zuhoͤrer, und nach die-
ſer ihrer Geſinnung den Jnhalt ſeiner vorzutragenden Wahrhei-
ten, den Ort, und andere Umſtaͤnde mehr in Erwegung ziehe.
Da die Natur auf eine ſo weiſe Art die Muſick mit ſo vielen
Veraͤnderungen begabet hat, damit ein jeder daran Antheil neh-
men koͤnne: ſo iſt ein Muſickus alſo auch ſchuldig, ſo viel ihm
moͤglich iſt, allerley Arten von Zuhoͤrern zu befriedigen.

§. 15.

Wir haben oben angefuͤhrt, daß ein Clavieriſte be-
ſonders durch Fantaſien, welche nicht in auswendig gelernten Paſſa-
gien oder geſtohlnen Gedancken beſtehen, ſondern aus einer guten
muſickaliſchen Seele herkommen muͤſſen, das Sprechende, das
hurtig uͤberraſchende von einem Affecte zum andern, alleine vor-
zuͤglich vor den uͤbrigen Ton-Kuͤnſtlern ausuͤben kan; Jch habe
hiervon in dem letzten Probe-Stuͤck eine kleine Anleitung ent-
worfen. Hierbey iſt nach der gewoͤhnlichen Art der ſchlechte
Tact vorgezeichnet, ohne ſich daran zu binden, was die Einthei-
lung des Gantzen betrift; aus dieſer Urſache ſind allezeit bey die-
ſer Art von Stuͤcken die Abtheilungen des Tactes weggeblieben.
Die Dauer der Noten wird durch das vorgeſetzte Moderato
uͤberhaupt und durch die Verhaͤltniß der Noten unter ſich beſon-
ders beſtimmt. Die Triolen ſind hier ebenfalls durch die bloſſe
Figur von drey Noten zu erkennen. Das Fantaſiren ohne Tact

ſcheint
O 3
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[109/0117] Vom Vortrage. cher zaͤrtliche Empfindungen beſitzet, und den guten Vortrag in ſeiner Gewalt hat; ſo erfahren ſie mit Verwunderung, daß ihre Wercke mehr enthalten, als ſie gewuſt und geglaubt haben. Man ſieht hieraus, daß ein guter Vortrag auch ein mittelmaͤßi- ges Stuͤck erheben, und ihm Beyfall erwerben kan. §. 14. Aus der Menge der Affecten, welche die Muſick erregen kan, ſieht man, was fuͤr beſondre Gaben ein vollkommner Muſickus haben muͤſſe, und mit wie vieler Klugheit er ſie zu ge- brauchen habe, damit er zugleich ſeine Zuhoͤrer, und nach die- ſer ihrer Geſinnung den Jnhalt ſeiner vorzutragenden Wahrhei- ten, den Ort, und andere Umſtaͤnde mehr in Erwegung ziehe. Da die Natur auf eine ſo weiſe Art die Muſick mit ſo vielen Veraͤnderungen begabet hat, damit ein jeder daran Antheil neh- men koͤnne: ſo iſt ein Muſickus alſo auch ſchuldig, ſo viel ihm moͤglich iſt, allerley Arten von Zuhoͤrern zu befriedigen. §. 15. Wir haben oben angefuͤhrt, daß ein Clavieriſte be- ſonders durch Fantaſien, welche nicht in auswendig gelernten Paſſa- gien oder geſtohlnen Gedancken beſtehen, ſondern aus einer guten muſickaliſchen Seele herkommen muͤſſen, das Sprechende, das hurtig uͤberraſchende von einem Affecte zum andern, alleine vor- zuͤglich vor den uͤbrigen Ton-Kuͤnſtlern ausuͤben kan; Jch habe hiervon in dem letzten Probe-Stuͤck eine kleine Anleitung ent- worfen. Hierbey iſt nach der gewoͤhnlichen Art der ſchlechte Tact vorgezeichnet, ohne ſich daran zu binden, was die Einthei- lung des Gantzen betrift; aus dieſer Urſache ſind allezeit bey die- ſer Art von Stuͤcken die Abtheilungen des Tactes weggeblieben. Die Dauer der Noten wird durch das vorgeſetzte Moderato uͤberhaupt und durch die Verhaͤltniß der Noten unter ſich beſon- ders beſtimmt. Die Triolen ſind hier ebenfalls durch die bloſſe Figur von drey Noten zu erkennen. Das Fantaſiren ohne Tact ſcheint O 3

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Zitationshilfe: Bach, Carl Philipp Emanuel: Versuch über die wahre Art das Clavier zu spielen. Bd. 1. 2. Aufl. Berlin, 1753, S. 109. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bach_versuch01_1759/117>, abgerufen am 23.11.2024.