und in dieser Hinsicht mit bleibenden Thierformen nicht übereinstimmen könne, so müssten dennoch diejenigen Verhältnisse, deren Uebereinstimmung bald hier bald da vorkommt, gemeinschaftlich seyn. Das ist aber nicht der Fall. Wenn ich etwa dem Embryo, so lange beide Herzkammern noch nicht geschieden und die Finger noch nicht von einander gesondert sind, die Organisation eines Fisches zuschreiben wollte, so finde ich doch keinen zusammengedrückten Schwanz und tausend andre Dinge nicht, die allen Fischen schon sehr früh zukommen. Eben so ist es, wenn ich irgend eine bleibende Thierform nehme und sie mit dem Em- bryo einer höhern Form vergleiche. Man sagt, die Cetaceen hätten Fötusähnlich- keit (d. h. Aehnlichkeit mit Embryonen höherer Säugthierformen), weil ihre Ho- den in der Bauchhöhle sind, weil einige von ihnen keine wahren Zähne haben, weil das vordere und hintere Keilbein getrennt bleiben u. s. w. Allein die andern Schädelknochen der Cetaceen verwachsen sehr früh und innig, geben also eine Al- tersähnlichkeit. Ihre Kiefern sind sehr lang, obgleich alle Säugethiere und auch die Cetaceen um so kürzere Kiefern haben, je jünger sie sind. Das Getrenntseyn der Schädelknochen ist aber nicht etwa Eigenthümlichkeit des Embryonenzustan- des, die niedern Thierklassen im erwachsenen Zustande fehlt; denn bei den Fi- schen wird es wieder als Embryonenähnlichkeit hervorgehoben, dass ihre Schä- delknochen mehrfach getheilt sind und bloss an einander liegen, obgleich an der Basis des Schädels die Einheit des Keilbeins, ganz umgekehrt wie bei den Ceta- ceen, wieder eine Aehnlichkeit mit dem Alter der höchsten Säugethiere giebt. Die Uebereinstimmung mit dem Fische oder dem Cetaceum ist also wohl nicht das Bedingende für die Organisation des Embryo.
4) Es müssten, wenn das zu untersuchende Gesetz begründet wäre, keine Zustände in der Ausbildung von bestimmten Thieren vorübergehend vorkommen, die nur in höheren Thierformen bleibend sind. Von solchen Uebereinstimmungen lassen sich aber recht viele nachweisen. Freilich können wir sie nicht in der Ent- wickelungsgeschichte des Menschen finden, da wir keine höhere Organisation kennen. Allein schon die Säugethiere geben uns Beispiele genug. In allen sind in frühester Zeit die Kiefern so kurz, wie sie im Menschen bleibend sind. Der Scheitelkamm entwickelt sich in den Thieren, die damit begabt sind, sehr spät, dennoch fehlt er den höchsten Formen. Die Beispiele mehren sich aber, je mehr wir herabsteigen. Wir haben schon oben die Vögel redend eingeführt, um eine Menge früher bekannter Verhältnisse nachzuweisen, in welchen der Embryo des Vogels mit dem ausgewachsenen Säugethiere übereinstimmt. Wir können noch mehrere hinzufügen. Das Hirn der Vögel ist in dem ersten Drittheile des Em- bryonenzustandes dem Hirne der Säugethiere viel ähnlicher, als im erwachsenen
und in dieser Hinsicht mit bleibenden Thierformen nicht übereinstimmen könne, so müſsten dennoch diejenigen Verhältnisse, deren Uebereinstimmung bald hier bald da vorkommt, gemeinschaftlich seyn. Das ist aber nicht der Fall. Wenn ich etwa dem Embryo, so lange beide Herzkammern noch nicht geschieden und die Finger noch nicht von einander gesondert sind, die Organisation eines Fisches zuschreiben wollte, so finde ich doch keinen zusammengedrückten Schwanz und tausend andre Dinge nicht, die allen Fischen schon sehr früh zukommen. Eben so ist es, wenn ich irgend eine bleibende Thierform nehme und sie mit dem Em- bryo einer höhern Form vergleiche. Man sagt, die Cetaceen hätten Fötusähnlich- keit (d. h. Aehnlichkeit mit Embryonen höherer Säugthierformen), weil ihre Ho- den in der Bauchhöhle sind, weil einige von ihnen keine wahren Zähne haben, weil das vordere und hintere Keilbein getrennt bleiben u. s. w. Allein die andern Schädelknochen der Cetaceen verwachsen sehr früh und innig, geben also eine Al- tersähnlichkeit. Ihre Kiefern sind sehr lang, obgleich alle Säugethiere und auch die Cetaceen um so kürzere Kiefern haben, je jünger sie sind. Das Getrenntseyn der Schädelknochen ist aber nicht etwa Eigenthümlichkeit des Embryonenzustan- des, die niedern Thierklassen im erwachsenen Zustande fehlt; denn bei den Fi- schen wird es wieder als Embryonenähnlichkeit hervorgehoben, daſs ihre Schä- delknochen mehrfach getheilt sind und bloſs an einander liegen, obgleich an der Basis des Schädels die Einheit des Keilbeins, ganz umgekehrt wie bei den Ceta- ceen, wieder eine Aehnlichkeit mit dem Alter der höchsten Säugethiere giebt. Die Uebereinstimmung mit dem Fische oder dem Cetaceum ist also wohl nicht das Bedingende für die Organisation des Embryo.
4) Es müſsten, wenn das zu untersuchende Gesetz begründet wäre, keine Zustände in der Ausbildung von bestimmten Thieren vorübergehend vorkommen, die nur in höheren Thierformen bleibend sind. Von solchen Uebereinstimmungen lassen sich aber recht viele nachweisen. Freilich können wir sie nicht in der Ent- wickelungsgeschichte des Menschen finden, da wir keine höhere Organisation kennen. Allein schon die Säugethiere geben uns Beispiele genug. In allen sind in frühester Zeit die Kiefern so kurz, wie sie im Menschen bleibend sind. Der Scheitelkamm entwickelt sich in den Thieren, die damit begabt sind, sehr spät, dennoch fehlt er den höchsten Formen. Die Beispiele mehren sich aber, je mehr wir herabsteigen. Wir haben schon oben die Vögel redend eingeführt, um eine Menge früher bekannter Verhältnisse nachzuweisen, in welchen der Embryo des Vogels mit dem ausgewachsenen Säugethiere übereinstimmt. Wir können noch mehrere hinzufügen. Das Hirn der Vögel ist in dem ersten Drittheile des Em- bryonenzustandes dem Hirne der Säugethiere viel ähnlicher, als im erwachsenen
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[205/0235]
und in dieser Hinsicht mit bleibenden Thierformen nicht übereinstimmen könne,
so müſsten dennoch diejenigen Verhältnisse, deren Uebereinstimmung bald hier
bald da vorkommt, gemeinschaftlich seyn. Das ist aber nicht der Fall. Wenn
ich etwa dem Embryo, so lange beide Herzkammern noch nicht geschieden und
die Finger noch nicht von einander gesondert sind, die Organisation eines Fisches
zuschreiben wollte, so finde ich doch keinen zusammengedrückten Schwanz und
tausend andre Dinge nicht, die allen Fischen schon sehr früh zukommen. Eben
so ist es, wenn ich irgend eine bleibende Thierform nehme und sie mit dem Em-
bryo einer höhern Form vergleiche. Man sagt, die Cetaceen hätten Fötusähnlich-
keit (d. h. Aehnlichkeit mit Embryonen höherer Säugthierformen), weil ihre Ho-
den in der Bauchhöhle sind, weil einige von ihnen keine wahren Zähne haben,
weil das vordere und hintere Keilbein getrennt bleiben u. s. w. Allein die andern
Schädelknochen der Cetaceen verwachsen sehr früh und innig, geben also eine Al-
tersähnlichkeit. Ihre Kiefern sind sehr lang, obgleich alle Säugethiere und auch
die Cetaceen um so kürzere Kiefern haben, je jünger sie sind. Das Getrenntseyn
der Schädelknochen ist aber nicht etwa Eigenthümlichkeit des Embryonenzustan-
des, die niedern Thierklassen im erwachsenen Zustande fehlt; denn bei den Fi-
schen wird es wieder als Embryonenähnlichkeit hervorgehoben, daſs ihre Schä-
delknochen mehrfach getheilt sind und bloſs an einander liegen, obgleich an der
Basis des Schädels die Einheit des Keilbeins, ganz umgekehrt wie bei den Ceta-
ceen, wieder eine Aehnlichkeit mit dem Alter der höchsten Säugethiere giebt.
Die Uebereinstimmung mit dem Fische oder dem Cetaceum ist also wohl nicht
das Bedingende für die Organisation des Embryo.
4) Es müſsten, wenn das zu untersuchende Gesetz begründet wäre, keine
Zustände in der Ausbildung von bestimmten Thieren vorübergehend vorkommen,
die nur in höheren Thierformen bleibend sind. Von solchen Uebereinstimmungen
lassen sich aber recht viele nachweisen. Freilich können wir sie nicht in der Ent-
wickelungsgeschichte des Menschen finden, da wir keine höhere Organisation
kennen. Allein schon die Säugethiere geben uns Beispiele genug. In allen sind
in frühester Zeit die Kiefern so kurz, wie sie im Menschen bleibend sind. Der
Scheitelkamm entwickelt sich in den Thieren, die damit begabt sind, sehr spät,
dennoch fehlt er den höchsten Formen. Die Beispiele mehren sich aber, je mehr
wir herabsteigen. Wir haben schon oben die Vögel redend eingeführt, um eine
Menge früher bekannter Verhältnisse nachzuweisen, in welchen der Embryo des
Vogels mit dem ausgewachsenen Säugethiere übereinstimmt. Wir können noch
mehrere hinzufügen. Das Hirn der Vögel ist in dem ersten Drittheile des Em-
bryonenzustandes dem Hirne der Säugethiere viel ähnlicher, als im erwachsenen
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Baer, Karl Ernst von: Über Entwicklungsgeschichte der Thiere. Bd. 1. Königsberg, 1828, S. 205. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/baer_thiere_1828/235>, abgerufen am 21.11.2024.
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