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Baer, Karl Ernst von: Über Entwicklungsgeschichte der Thiere. Bd. 1. Königsberg, 1828.

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Gleichheit der Glieder trotz des Gefässsystems, dessen Beschränkung in den In-
secten leicht verständlich ist durch die Entwickelung der Luftgefässe. Nicht viel
höher stehen uns die Myriapoden, deren Fresswerkzeuge noch wahre Kopffüsse
sind und deren Kopf nur wenig von den übrigen, fast gleichen Ringen geschieden
ist. In den Thysanuren und Parasiten tritt mehr morphologische Sonderung her-
vor, und sie lassen den Bau der wahren Insecten ahnden.

So wie sich stufenweise Umbildungen von den Annulaten durch die Myria-
poden, Thysanuren, Parasiten zu den wahren Insecten erkennen lassen, eben so
durch die Isopoden, Amphipoden, Stomapoden zu den Decapoden und durch die
Scorpioniden zu den Araneiden. Warum man aber die eigentlichen Spinnen oder
die Decapoden unter den Krebsen für höher ausgebildet halten soll, als die eigent-
lichen Insecten, ist nicht klar. Etwa des vollständigen Gefässsystems wegen?
Dieses ist ja nur Folge einer weniger lebhaftern Wechselwirkung mit der Luft, de-
ren stärkerer Einfluss immer die Entwickelung des thierischen Lebens fördert.
Giebt uns dagegen das Individualisiren der organischen Bestandtheile das Maass
für die Ausbildung, so bemerken wir in den zehnfüssigen Krebsen ausser der ge-
ringen histologischen Sonderung, die mir offenbar scheint, eine Tendenz, Sinnes-
organe, Bewegungsorgane und plastische Organe in Einen Haupttheil zusammen-
zudrängen, wodurch zwar der Typus stark umgestaltet wird, die wesentlichen
Theile aber wenig gesondert werden; in den Spinnen ist wenigstens der plastische
Leib vom animalischen gesondert, in den Insecten mit Metamorphose aber schei-
den sich Sensibilität, Irritabilität und Plasticität, und zwar nur bei vollendeter
Entwickelung. Am höchsten ausgebildet unter ihnen scheinen mir wieder diejeni-
gen, deren Bruststück nicht wie im Floh, den Coleopteren, Orthopteren in
mehrere gesonderte Ringe zerfällt, sondern in Einen gesammelt ist. Diese sind es
auch, in denen die ursprünglich übereinstimmenden Theile, wie die Füsse und
Fresswerkzeuge, die grösste Verschiedenheit erlangt haben. Sie sind es, welche
die am meisten ausgebildeten Flügel besitzen und die uns überhaupt die mannig-
faltigsten Aeusserungen des Lebens offenbaren. Zwar zeigen uns die Krebse ein
Ohr und eine Nase. Allein wir dürfen nicht übersehen, dass der Kopf der In-
secten klein genug ist, um solche Theile zweifelhaft zu machen, dass einige Na-
turforscher sie wirklich gefunden zu haben glauben und dass auf jeden Fall die
Sinnesempfindungen nicht fehlen.

Wenn es gelingt, alle hergebrachten Vorstellungen von einer Stufenleiterb. Die ver-
schiedenen
Thiere sind
vielmehr Va-
riationen
gewisser

ganz los zu werden, dann wird man jede Form als Modification einer allgemeinern
Form und diese als Modification eines Grundtypus betrachten und von diesen Ge-
sichtspunkten aus verstehen lernen. Dann wird man mehr darauf Bedacht haben,

Gleichheit der Glieder trotz des Gefäſssystems, dessen Beschränkung in den In-
secten leicht verständlich ist durch die Entwickelung der Luftgefäſse. Nicht viel
höher stehen uns die Myriapoden, deren Freſswerkzeuge noch wahre Kopffüſse
sind und deren Kopf nur wenig von den übrigen, fast gleichen Ringen geschieden
ist. In den Thysanuren und Parasiten tritt mehr morphologische Sonderung her-
vor, und sie lassen den Bau der wahren Insecten ahnden.

So wie sich stufenweise Umbildungen von den Annulaten durch die Myria-
poden, Thysanuren, Parasiten zu den wahren Insecten erkennen lassen, eben so
durch die Isopoden, Amphipoden, Stomapoden zu den Decapoden und durch die
Scorpioniden zu den Araneiden. Warum man aber die eigentlichen Spinnen oder
die Decapoden unter den Krebsen für höher ausgebildet halten soll, als die eigent-
lichen Insecten, ist nicht klar. Etwa des vollständigen Gefäſssystems wegen?
Dieses ist ja nur Folge einer weniger lebhaftern Wechselwirkung mit der Luft, de-
ren stärkerer Einfluſs immer die Entwickelung des thierischen Lebens fördert.
Giebt uns dagegen das Individualisiren der organischen Bestandtheile das Maaſs
für die Ausbildung, so bemerken wir in den zehnfüſsigen Krebsen auſser der ge-
ringen histologischen Sonderung, die mir offenbar scheint, eine Tendenz, Sinnes-
organe, Bewegungsorgane und plastische Organe in Einen Haupttheil zusammen-
zudrängen, wodurch zwar der Typus stark umgestaltet wird, die wesentlichen
Theile aber wenig gesondert werden; in den Spinnen ist wenigstens der plastische
Leib vom animalischen gesondert, in den Insecten mit Metamorphose aber schei-
den sich Sensibilität, Irritabilität und Plasticität, und zwar nur bei vollendeter
Entwickelung. Am höchsten ausgebildet unter ihnen scheinen mir wieder diejeni-
gen, deren Bruststück nicht wie im Floh, den Coleopteren, Orthopteren in
mehrere gesonderte Ringe zerfällt, sondern in Einen gesammelt ist. Diese sind es
auch, in denen die ursprünglich übereinstimmenden Theile, wie die Füſse und
Freſswerkzeuge, die gröſste Verschiedenheit erlangt haben. Sie sind es, welche
die am meisten ausgebildeten Flügel besitzen und die uns überhaupt die mannig-
faltigsten Aeuſserungen des Lebens offenbaren. Zwar zeigen uns die Krebse ein
Ohr und eine Nase. Allein wir dürfen nicht übersehen, daſs der Kopf der In-
secten klein genug ist, um solche Theile zweifelhaft zu machen, daſs einige Na-
turforscher sie wirklich gefunden zu haben glauben und daſs auf jeden Fall die
Sinnesempfindungen nicht fehlen.

Wenn es gelingt, alle hergebrachten Vorstellungen von einer Stufenleiterb. Die ver-
schiedenen
Thiere sind
vielmehr Va-
riationen
gewisser

ganz los zu werden, dann wird man jede Form als Modification einer allgemeinern
Form und diese als Modification eines Grundtypus betrachten und von diesen Ge-
sichtspunkten aus verstehen lernen. Dann wird man mehr darauf Bedacht haben,

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[239/0271] Gleichheit der Glieder trotz des Gefäſssystems, dessen Beschränkung in den In- secten leicht verständlich ist durch die Entwickelung der Luftgefäſse. Nicht viel höher stehen uns die Myriapoden, deren Freſswerkzeuge noch wahre Kopffüſse sind und deren Kopf nur wenig von den übrigen, fast gleichen Ringen geschieden ist. In den Thysanuren und Parasiten tritt mehr morphologische Sonderung her- vor, und sie lassen den Bau der wahren Insecten ahnden. So wie sich stufenweise Umbildungen von den Annulaten durch die Myria- poden, Thysanuren, Parasiten zu den wahren Insecten erkennen lassen, eben so durch die Isopoden, Amphipoden, Stomapoden zu den Decapoden und durch die Scorpioniden zu den Araneiden. Warum man aber die eigentlichen Spinnen oder die Decapoden unter den Krebsen für höher ausgebildet halten soll, als die eigent- lichen Insecten, ist nicht klar. Etwa des vollständigen Gefäſssystems wegen? Dieses ist ja nur Folge einer weniger lebhaftern Wechselwirkung mit der Luft, de- ren stärkerer Einfluſs immer die Entwickelung des thierischen Lebens fördert. Giebt uns dagegen das Individualisiren der organischen Bestandtheile das Maaſs für die Ausbildung, so bemerken wir in den zehnfüſsigen Krebsen auſser der ge- ringen histologischen Sonderung, die mir offenbar scheint, eine Tendenz, Sinnes- organe, Bewegungsorgane und plastische Organe in Einen Haupttheil zusammen- zudrängen, wodurch zwar der Typus stark umgestaltet wird, die wesentlichen Theile aber wenig gesondert werden; in den Spinnen ist wenigstens der plastische Leib vom animalischen gesondert, in den Insecten mit Metamorphose aber schei- den sich Sensibilität, Irritabilität und Plasticität, und zwar nur bei vollendeter Entwickelung. Am höchsten ausgebildet unter ihnen scheinen mir wieder diejeni- gen, deren Bruststück nicht wie im Floh, den Coleopteren, Orthopteren in mehrere gesonderte Ringe zerfällt, sondern in Einen gesammelt ist. Diese sind es auch, in denen die ursprünglich übereinstimmenden Theile, wie die Füſse und Freſswerkzeuge, die gröſste Verschiedenheit erlangt haben. Sie sind es, welche die am meisten ausgebildeten Flügel besitzen und die uns überhaupt die mannig- faltigsten Aeuſserungen des Lebens offenbaren. Zwar zeigen uns die Krebse ein Ohr und eine Nase. Allein wir dürfen nicht übersehen, daſs der Kopf der In- secten klein genug ist, um solche Theile zweifelhaft zu machen, daſs einige Na- turforscher sie wirklich gefunden zu haben glauben und daſs auf jeden Fall die Sinnesempfindungen nicht fehlen. Wenn es gelingt, alle hergebrachten Vorstellungen von einer Stufenleiter ganz los zu werden, dann wird man jede Form als Modification einer allgemeinern Form und diese als Modification eines Grundtypus betrachten und von diesen Ge- sichtspunkten aus verstehen lernen. Dann wird man mehr darauf Bedacht haben, b. Die ver- schiedenen Thiere sind vielmehr Va- riationen gewisser

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Zitationshilfe: Baer, Karl Ernst von: Über Entwicklungsgeschichte der Thiere. Bd. 1. Königsberg, 1828, S. 239. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/baer_thiere_1828/271>, abgerufen am 13.05.2024.