Zwei Verhältnisse sind es vorzüglich, welche die Klage über die Unvollkommen-a. Organi- sches Leben. heit unsrer Kenntniss vom Leben immer rege erhalten, die Unmöglichkeit den Lebensprocess des Organismus aus irgend einer Einzelheit herzuleiten, und die Unfähigkeit der Physiologen den Moment seines Anfanges genau nachzuweisen. "Was ist denn eigentlich das Leben des organischen Körpers"? fragt man und er- wartet eine Lösung der Frage, welche das Leben aus etwas Anderem herleite, wo möglich aus einer scharf begrenzten Einzelheit. Erklärungen, welche das Leben etwa auf einen fortgehenden Oxydationsprocess oder einen electrischen Process zurückführen, pflegen daher bei Laien viel Glück zu machen, weil man glaubt, einen solchen einzelnen, auch in der unorganischen Natur zu beobachten- den Process vollständig zu kennen, und weil mit dem ersten Atom hinzutretenden Sauerstoffes das Leben beginnen und bei völliger Sättigung aufhören müsste. Alle Erklärungen dieser Art findet aber der Physiologe bald höchst unvollkommen, nur Eine einzelne Richtung des Lebens berührend, und er lernt einsehen, dass überhaupt das Leben nicht aus etwas Anderem erklärt, sondern für sich aufge- fasst und aus sich begriffen werden muss. Auch rückt die Zeit immer näher, wo selbst der Physiker gestehen muss, dass er bei seinen Versuchen die einzelnen physischen Vorgänge aus dem Gesammtleben der Natur nur herausreisst und sich dadurch den Anfang künstlich schafft. Schon wissen wir, dass kein chemischer Process ist ohne einen galvanischen, kein galvanischer ohne eine magnetische Thätigkeit, dass Licht und Wärme sich gegenseitig bedingen, und es ist zu hof- fen, dass, eben so wie jetzt der Physiologe die complicirten Erscheinungen des or- ganischen Lebens den physischen anpasst, man einst die physischen Erscheinun- gen mit denen in lebenden Organismen vergleichen und aus ihnen verstehen lernen wird. Dann wird wahrscheinlich die Klage über die Dunkelheit der Lebensver- richtungen aufhören. Man wird sich gewöhnen, diese in ihrem gegenseitigen
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§. 15. Aufstellung der Aufgabe.
Zwei Verhältnisse sind es vorzüglich, welche die Klage über die Unvollkommen-a. Organi- sches Leben. heit unsrer Kenntniſs vom Leben immer rege erhalten, die Unmöglichkeit den Lebensproceſs des Organismus aus irgend einer Einzelheit herzuleiten, und die Unfähigkeit der Physiologen den Moment seines Anfanges genau nachzuweisen. „Was ist denn eigentlich das Leben des organischen Körpers”? fragt man und er- wartet eine Lösung der Frage, welche das Leben aus etwas Anderem herleite, wo möglich aus einer scharf begrenzten Einzelheit. Erklärungen, welche das Leben etwa auf einen fortgehenden Oxydationsproceſs oder einen electrischen Proceſs zurückführen, pflegen daher bei Laien viel Glück zu machen, weil man glaubt, einen solchen einzelnen, auch in der unorganischen Natur zu beobachten- den Proceſs vollständig zu kennen, und weil mit dem ersten Atom hinzutretenden Sauerstoffes das Leben beginnen und bei völliger Sättigung aufhören müſste. Alle Erklärungen dieser Art findet aber der Physiologe bald höchst unvollkommen, nur Eine einzelne Richtung des Lebens berührend, und er lernt einsehen, daſs überhaupt das Leben nicht aus etwas Anderem erklärt, sondern für sich aufge- faſst und aus sich begriffen werden muſs. Auch rückt die Zeit immer näher, wo selbst der Physiker gestehen muſs, daſs er bei seinen Versuchen die einzelnen physischen Vorgänge aus dem Gesammtleben der Natur nur herausreiſst und sich dadurch den Anfang künstlich schafft. Schon wissen wir, daſs kein chemischer Proceſs ist ohne einen galvanischen, kein galvanischer ohne eine magnetische Thätigkeit, daſs Licht und Wärme sich gegenseitig bedingen, und es ist zu hof- fen, daſs, eben so wie jetzt der Physiologe die complicirten Erscheinungen des or- ganischen Lebens den physischen anpaſst, man einst die physischen Erscheinun- gen mit denen in lebenden Organismen vergleichen und aus ihnen verstehen lernen wird. Dann wird wahrscheinlich die Klage über die Dunkelheit der Lebensver- richtungen aufhören. Man wird sich gewöhnen, diese in ihrem gegenseitigen
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§. 15.
Aufstellung der Aufgabe.
Zwei Verhältnisse sind es vorzüglich, welche die Klage über die Unvollkommen-
heit unsrer Kenntniſs vom Leben immer rege erhalten, die Unmöglichkeit den
Lebensproceſs des Organismus aus irgend einer Einzelheit herzuleiten, und die
Unfähigkeit der Physiologen den Moment seines Anfanges genau nachzuweisen.
„Was ist denn eigentlich das Leben des organischen Körpers”? fragt man und er-
wartet eine Lösung der Frage, welche das Leben aus etwas Anderem herleite,
wo möglich aus einer scharf begrenzten Einzelheit. Erklärungen, welche das
Leben etwa auf einen fortgehenden Oxydationsproceſs oder einen electrischen
Proceſs zurückführen, pflegen daher bei Laien viel Glück zu machen, weil man
glaubt, einen solchen einzelnen, auch in der unorganischen Natur zu beobachten-
den Proceſs vollständig zu kennen, und weil mit dem ersten Atom hinzutretenden
Sauerstoffes das Leben beginnen und bei völliger Sättigung aufhören müſste.
Alle Erklärungen dieser Art findet aber der Physiologe bald höchst unvollkommen,
nur Eine einzelne Richtung des Lebens berührend, und er lernt einsehen, daſs
überhaupt das Leben nicht aus etwas Anderem erklärt, sondern für sich aufge-
faſst und aus sich begriffen werden muſs. Auch rückt die Zeit immer näher, wo
selbst der Physiker gestehen muſs, daſs er bei seinen Versuchen die einzelnen
physischen Vorgänge aus dem Gesammtleben der Natur nur herausreiſst und sich
dadurch den Anfang künstlich schafft. Schon wissen wir, daſs kein chemischer
Proceſs ist ohne einen galvanischen, kein galvanischer ohne eine magnetische
Thätigkeit, daſs Licht und Wärme sich gegenseitig bedingen, und es ist zu hof-
fen, daſs, eben so wie jetzt der Physiologe die complicirten Erscheinungen des or-
ganischen Lebens den physischen anpaſst, man einst die physischen Erscheinun-
gen mit denen in lebenden Organismen vergleichen und aus ihnen verstehen lernen
wird. Dann wird wahrscheinlich die Klage über die Dunkelheit der Lebensver-
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Baer, Karl Ernst von: Über Entwicklungsgeschichte der Thiere. Bd. 2. Königsberg, 1837, S. [3]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/baer_thiere_1837/13>, abgerufen am 21.11.2024.
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