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Bäumer, Gertrud: „Unreife Rabiatheit“. In: Die Frau 9 (1906), S. 513-519.

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"Unreife Rabiatheit."

Eine solche "Rabiatheit" meint auch der Abgeordnete Müller-Meiningen, wenn er in einem an die "Frauenbewegung" gerichteten offenen Brief *) seine Partei gegen die Angriffe der radikalen Frauenbewegung verteidigt. Es handelt sich dabei um die Stellung des Frauenstimmrechts in dem Programm der Radikalen im Gegensatz zu

*)
Offener Brief an die Herausgeberin (Frau Minna Cauer).
Hochverehrte Frau!

Jch danke Jhnen für die Übersendung der Nr 8 der "Frauenbewegung". Jch schließe daraus,
daß Sie meine Ansicht hören wollen. Offen und ehrlich, vielleicht etwas zu derb-bajuvarisch will ich sie
Jhnen umgehend mitteilen. Den Artikel von Alice Dullo habe ich im Original nicht gelesen. Doch
genügt mir der Auszug und der Artikel meines Freundes Ablaß! Also unser lieber alter Träger, der
"Frauenlob" ist der Stein des Anstoßes. Selbstverständlich haben wir ihn nicht auf jedes Wort fest-
legen können. Vielleicht hätte ich mich anders ausgedrückt. Aber in der Sache hat er sicherlich nichts
Arges pecciert und jeder Grund zur sittlichen Entrüstung fehlte. Jch bin gewiß der Letzte, der auf
Dank im politischen Leben rechnet; aber ich muß doch sagen: der Rappen scheint den verehrten Damen
der radikalen Richtung doch zu oft durchzugehen! Paßt ihnen irgend ein Wort eines einzelnen Ab-
geordneten nicht, - und hätte er sich sonst noch so verdient um die Frauensache gemacht -dann regnet
es Drohungen gegen die ganze Partei! Diese Art unreifer Rabiatheit muß der fortschrittlichen Frauen-
bewegung den größten Schaden bringen. Wozu die unklare Erregung? Erst Lösung der Bildungsfrage!
Das ist das starke Fundament! Dann Vereins- und Versammlungsfreiheit: Das sind die starken
Wände! Schließlich das Frauenstimmrecht! Das war in Übereinstimmung mit den Anschauungen der
bedeutendsten Frauenführerinnen stets mein Grundsatz: Danach habe ich gehandelt. Wenn ich wieder-
holt für das Frauenstimmrecht stimmte, so geschah es, um die hier jetzt rein theoretische Zustimmung
zu der Schlußforderung der Bewegung zu deklarieren. Gibt es denn wirklich eine ernst zu nehmende
Anhängerin der Frauenbewegung, die bestritte, daß das erdrückende Gros der Frauen d. h. bei unseren
jetzigen Bildungs- und Rechtsverhältnissen der Frau eine noch schlechtere Rolle als Wähler spielen würde,
als ein nur zu großer Teil der männlichen Wählerschaft, die vor allem in den Händen der Geistlichkeit
- charakteristischerweise auch wieder meist auf dem Wege über die Frau! - nur Wachs ist?

Die Jntelligenz in der fortschrittlichen Frauenbewegung sollte mit solchen Ausbrüchen der Ge-
reiztheit aufräumen! Es wird nur unnütze Verbitterung erzeugt. Aber welcher politischen Partei wollen
sich denn die Frauen anschließen, ohne ganz einflußlos zu bleiben? Den Sozialdemokraten? ihre Pro-
grammtreue wird köstlich beleuchtet durch einen Artikel in derselben Nummer der Frauenbewegung. Und
was in Schweden, in Holland und anderen Ländern von den wahren Anschauungen der Sozialdemokraten
über diese Frauenrechte gilt, gilt noch weit mehr in Deutschland. Jch wollte, (siehe Nr 8 der
Frauenbewegung) die Regierung würde einmal mit dem Frauenstimmrecht Ernst machen: Schrecken
würde die "Genossen" ergreifen! Oder zu den Klerikalen? Jn ihnen sah von jeher die fortschrittliche
Frauenbewegung ihren größten Feind! Oder hat den Damen die berüchtigte Wahlrechts-Farce im
Ständehaus in München so imponiert?Frauenstimmrecht, wo die Frau noch erzklerikal ist! Wenn
auch unter dem wiehernden Gelächter der Mehrheit! Frauenbildung: Nur im Kloster zu haben.
Gegen sonstige Frauenrechte hat das Zentrum erst vor kurzem und wiederholt in rückschrittlichster
Form demonstriert. Also zu den Konservativen?

Die mit Ausnahme des alten Herrn von Kardorff nur Spott und Hohn für die ganze Frauen-
bewegung haben! Nach ihrer ganzen Kulturstellung kann die bürgerliche Frauenbewegung nur beim
fortschrittlichen Liberalismus Schutz ihrer berechtigten Jnteressen finden. Oder Alice Dullo gründet erst
ihre Partei! Mich schrecken die Drohungen nicht. Jch kämpfe nach wie vor für die kulturelle und
soziale Hebung des weiblichen Geschlechts als des wichtigsten Faktors für die Zukunftsentwicklung
Deutschlands. Jch sage mit einer Variation des Wortes von Susan Anthony "Nur wenn die Frauen
immer vernünftig denken und handeln, sich nicht stets von augenblicklichen Launen und Stimmungen in
ihrer politischen Zuneigung oder Abneigung leiten lassen, wird ihre Sache Unterstützung finden und
endlich siegen". Das ist kurz meine Meinung.

Herzlich grüßend
Jhr hochachtungsvollst ergebener
Dr Müller-Meiningen.
„Unreife Rabiatheit.“

Eine solche „Rabiatheit“ meint auch der Abgeordnete Müller-Meiningen, wenn er in einem an die „Frauenbewegung“ gerichteten offenen Brief *) seine Partei gegen die Angriffe der radikalen Frauenbewegung verteidigt. Es handelt sich dabei um die Stellung des Frauenstimmrechts in dem Programm der Radikalen im Gegensatz zu

*)
Offener Brief an die Herausgeberin (Frau Minna Cauer).
Hochverehrte Frau!

Jch danke Jhnen für die Übersendung der Nr 8 der „Frauenbewegung“. Jch schließe daraus,
daß Sie meine Ansicht hören wollen. Offen und ehrlich, vielleicht etwas zu derb-bajuvarisch will ich sie
Jhnen umgehend mitteilen. Den Artikel von Alice Dullo habe ich im Original nicht gelesen. Doch
genügt mir der Auszug und der Artikel meines Freundes Ablaß! Also unser lieber alter Träger, der
„Frauenlob“ ist der Stein des Anstoßes. Selbstverständlich haben wir ihn nicht auf jedes Wort fest-
legen können. Vielleicht hätte ich mich anders ausgedrückt. Aber in der Sache hat er sicherlich nichts
Arges pecciert und jeder Grund zur sittlichen Entrüstung fehlte. Jch bin gewiß der Letzte, der auf
Dank im politischen Leben rechnet; aber ich muß doch sagen: der Rappen scheint den verehrten Damen
der radikalen Richtung doch zu oft durchzugehen! Paßt ihnen irgend ein Wort eines einzelnen Ab-
geordneten nicht, – und hätte er sich sonst noch so verdient um die Frauensache gemacht –dann regnet
es Drohungen gegen die ganze Partei! Diese Art unreifer Rabiatheit muß der fortschrittlichen Frauen-
bewegung den größten Schaden bringen. Wozu die unklare Erregung? Erst Lösung der Bildungsfrage!
Das ist das starke Fundament! Dann Vereins- und Versammlungsfreiheit: Das sind die starken
Wände! Schließlich das Frauenstimmrecht! Das war in Übereinstimmung mit den Anschauungen der
bedeutendsten Frauenführerinnen stets mein Grundsatz: Danach habe ich gehandelt. Wenn ich wieder-
holt für das Frauenstimmrecht stimmte, so geschah es, um die hier jetzt rein theoretische Zustimmung
zu der Schlußforderung der Bewegung zu deklarieren. Gibt es denn wirklich eine ernst zu nehmende
Anhängerin der Frauenbewegung, die bestritte, daß das erdrückende Gros der Frauen d. h. bei unseren
jetzigen Bildungs- und Rechtsverhältnissen der Frau eine noch schlechtere Rolle als Wähler spielen würde,
als ein nur zu großer Teil der männlichen Wählerschaft, die vor allem in den Händen der Geistlichkeit
– charakteristischerweise auch wieder meist auf dem Wege über die Frau! – nur Wachs ist?

Die Jntelligenz in der fortschrittlichen Frauenbewegung sollte mit solchen Ausbrüchen der Ge-
reiztheit aufräumen! Es wird nur unnütze Verbitterung erzeugt. Aber welcher politischen Partei wollen
sich denn die Frauen anschließen, ohne ganz einflußlos zu bleiben? Den Sozialdemokraten? ihre Pro-
grammtreue wird köstlich beleuchtet durch einen Artikel in derselben Nummer der Frauenbewegung. Und
was in Schweden, in Holland und anderen Ländern von den wahren Anschauungen der Sozialdemokraten
über diese Frauenrechte gilt, gilt noch weit mehr in Deutschland. Jch wollte, (siehe Nr 8 der
Frauenbewegung) die Regierung würde einmal mit dem Frauenstimmrecht Ernst machen: Schrecken
würde die „Genossen“ ergreifen! Oder zu den Klerikalen? Jn ihnen sah von jeher die fortschrittliche
Frauenbewegung ihren größten Feind! Oder hat den Damen die berüchtigte Wahlrechts-Farce im
Ständehaus in München so imponiert?Frauenstimmrecht, wo die Frau noch erzklerikal ist! Wenn
auch unter dem wiehernden Gelächter der Mehrheit! Frauenbildung: Nur im Kloster zu haben.
Gegen sonstige Frauenrechte hat das Zentrum erst vor kurzem und wiederholt in rückschrittlichster
Form demonstriert. Also zu den Konservativen?

Die mit Ausnahme des alten Herrn von Kardorff nur Spott und Hohn für die ganze Frauen-
bewegung haben! Nach ihrer ganzen Kulturstellung kann die bürgerliche Frauenbewegung nur beim
fortschrittlichen Liberalismus Schutz ihrer berechtigten Jnteressen finden. Oder Alice Dullo gründet erst
ihre Partei! Mich schrecken die Drohungen nicht. Jch kämpfe nach wie vor für die kulturelle und
soziale Hebung des weiblichen Geschlechts als des wichtigsten Faktors für die Zukunftsentwicklung
Deutschlands. Jch sage mit einer Variation des Wortes von Susan Anthony „Nur wenn die Frauen
immer vernünftig denken und handeln, sich nicht stets von augenblicklichen Launen und Stimmungen in
ihrer politischen Zuneigung oder Abneigung leiten lassen, wird ihre Sache Unterstützung finden und
endlich siegen“. Das ist kurz meine Meinung.

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Jhr hochachtungsvollst ergebener
Dr Müller-Meiningen.
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[516/0004] „Unreife Rabiatheit.“ Eine solche „Rabiatheit“ meint auch der Abgeordnete Müller-Meiningen, wenn er in einem an die „Frauenbewegung“ gerichteten offenen Brief *) seine Partei gegen die Angriffe der radikalen Frauenbewegung verteidigt. Es handelt sich dabei um die Stellung des Frauenstimmrechts in dem Programm der Radikalen im Gegensatz zu *) Offener Brief an die Herausgeberin (Frau Minna Cauer). Aschaffenburg, 18. 4. 06. Hochverehrte Frau! Jch danke Jhnen für die Übersendung der Nr 8 der „Frauenbewegung“. Jch schließe daraus, daß Sie meine Ansicht hören wollen. Offen und ehrlich, vielleicht etwas zu derb-bajuvarisch will ich sie Jhnen umgehend mitteilen. Den Artikel von Alice Dullo habe ich im Original nicht gelesen. Doch genügt mir der Auszug und der Artikel meines Freundes Ablaß! Also unser lieber alter Träger, der „Frauenlob“ ist der Stein des Anstoßes. Selbstverständlich haben wir ihn nicht auf jedes Wort fest- legen können. Vielleicht hätte ich mich anders ausgedrückt. Aber in der Sache hat er sicherlich nichts Arges pecciert und jeder Grund zur sittlichen Entrüstung fehlte. Jch bin gewiß der Letzte, der auf Dank im politischen Leben rechnet; aber ich muß doch sagen: der Rappen scheint den verehrten Damen der radikalen Richtung doch zu oft durchzugehen! Paßt ihnen irgend ein Wort eines einzelnen Ab- geordneten nicht, – und hätte er sich sonst noch so verdient um die Frauensache gemacht –dann regnet es Drohungen gegen die ganze Partei! Diese Art unreifer Rabiatheit muß der fortschrittlichen Frauen- bewegung den größten Schaden bringen. Wozu die unklare Erregung? Erst Lösung der Bildungsfrage! Das ist das starke Fundament! Dann Vereins- und Versammlungsfreiheit: Das sind die starken Wände! Schließlich das Frauenstimmrecht! Das war in Übereinstimmung mit den Anschauungen der bedeutendsten Frauenführerinnen stets mein Grundsatz: Danach habe ich gehandelt. Wenn ich wieder- holt für das Frauenstimmrecht stimmte, so geschah es, um die hier jetzt rein theoretische Zustimmung zu der Schlußforderung der Bewegung zu deklarieren. Gibt es denn wirklich eine ernst zu nehmende Anhängerin der Frauenbewegung, die bestritte, daß das erdrückende Gros der Frauen d. h. bei unseren jetzigen Bildungs- und Rechtsverhältnissen der Frau eine noch schlechtere Rolle als Wähler spielen würde, als ein nur zu großer Teil der männlichen Wählerschaft, die vor allem in den Händen der Geistlichkeit – charakteristischerweise auch wieder meist auf dem Wege über die Frau! – nur Wachs ist? Die Jntelligenz in der fortschrittlichen Frauenbewegung sollte mit solchen Ausbrüchen der Ge- reiztheit aufräumen! Es wird nur unnütze Verbitterung erzeugt. Aber welcher politischen Partei wollen sich denn die Frauen anschließen, ohne ganz einflußlos zu bleiben? Den Sozialdemokraten? ihre Pro- grammtreue wird köstlich beleuchtet durch einen Artikel in derselben Nummer der Frauenbewegung. Und was in Schweden, in Holland und anderen Ländern von den wahren Anschauungen der Sozialdemokraten über diese Frauenrechte gilt, gilt noch weit mehr in Deutschland. Jch wollte, (siehe Nr 8 der Frauenbewegung) die Regierung würde einmal mit dem Frauenstimmrecht Ernst machen: Schrecken würde die „Genossen“ ergreifen! Oder zu den Klerikalen? Jn ihnen sah von jeher die fortschrittliche Frauenbewegung ihren größten Feind! Oder hat den Damen die berüchtigte Wahlrechts-Farce im Ständehaus in München so imponiert?Frauenstimmrecht, wo die Frau noch erzklerikal ist! Wenn auch unter dem wiehernden Gelächter der Mehrheit! Frauenbildung: Nur im Kloster zu haben. Gegen sonstige Frauenrechte hat das Zentrum erst vor kurzem und wiederholt in rückschrittlichster Form demonstriert. Also zu den Konservativen? Die mit Ausnahme des alten Herrn von Kardorff nur Spott und Hohn für die ganze Frauen- bewegung haben! Nach ihrer ganzen Kulturstellung kann die bürgerliche Frauenbewegung nur beim fortschrittlichen Liberalismus Schutz ihrer berechtigten Jnteressen finden. Oder Alice Dullo gründet erst ihre Partei! Mich schrecken die Drohungen nicht. Jch kämpfe nach wie vor für die kulturelle und soziale Hebung des weiblichen Geschlechts als des wichtigsten Faktors für die Zukunftsentwicklung Deutschlands. Jch sage mit einer Variation des Wortes von Susan Anthony „Nur wenn die Frauen immer vernünftig denken und handeln, sich nicht stets von augenblicklichen Launen und Stimmungen in ihrer politischen Zuneigung oder Abneigung leiten lassen, wird ihre Sache Unterstützung finden und endlich siegen“. Das ist kurz meine Meinung. Herzlich grüßend Jhr hochachtungsvollst ergebener Dr Müller-Meiningen.

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Texte der ersten Frauenbewegung, betreut von Anna Pfundt und Thomas Gloning, JLU Gießen: Bereitstellung der Texttranskription. (2017-07-07T09:44:53Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Anna Pfundt: Bearbeitung der digitalen Edition. (2017-07-07T09:44:53Z)

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Zitationshilfe: Bäumer, Gertrud: „Unreife Rabiatheit“. In: Die Frau 9 (1906), S. 513-519, hier S. 516. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/baeumer_rabiatheit_1906/4>, abgerufen am 21.11.2024.