der Erscheinungen dieselbe Revolution erwartet, die im Gebiete des Geistes stattgefunden ..." 188). Unbegreiflich, wie man den Protestantismus als Prinzip der deutschen Philosophie und Entwicklung erkennen und trotzdem eine "Revolution", ausgehend von den Professoren dieses Prinzips, erwarten konnte. Ich stimme der Meinung des französischen Historikers Theodore Duret zu, der in einer Enquete über die Möglichkeit einer Revolution in Deutschland die skep- tischen Sätze schrieb: "L'idee de revolution, d'un changement profond a realiser brusquement, n'a pu naeitre et se deve- lopper que dans un pays latin, idealiste et catholique comme la France. Elle est restee sans prise reelle et le restera toujours, sur des pays germaniques, positifs et protestants, comme l'Allemagne et l'Angleterre" 189).
Der lutheranische Protestantismus ganz besonders setzt das materielle Wohl über alles persönliche Opfer, den Egoismus über alle Ziele der Gesamtheit. Die Carbocherie und der Eigensinn, aus denen er entspringt, verhindern jede Solidarität in Gewissensfragen und schliessen jene sublime Reizbarkeit in Fragen der moralischen und politischen Freiheit aus, die letzten Endes ihren Ursprung im Selbstbewusstsein kollektiv ent- wickelter Generationen hat. Vom Kollektivbewusstsein allein wird die Ueberhebung von Individuen oder Klassen als unerträgliche Vergewaltigung des sozialen Moralbegriffes empfunden und gerichtet werden können. Das Kollektiv- bewusstsein ist die Voraussetzung jeder produktiven Rebellion.
Die Deutschen rebellierten immer nur gegen das Gewissen, gegen die Grundlagen der Moral und der Gesell- schaft, ob sie Luther, Kant, Marx oder Hegel hiessen. Der Protestantismus von Individuen, Klassen oder Völkern kommt heute der Vergewaltigung der übrigen Gesellschaft von Individuen, Klassen oder Völkern gleich, aus denen er entsprang und sich isolierte. Nicht einmal eine soziale und politische, geschweige denn eine moralische Revolution, ist heute in Deutschland möglich ohne einen tiefen Um-
der Erscheinungen dieselbe Revolution erwartet, die im Gebiete des Geistes stattgefunden ...“ 188). Unbegreiflich, wie man den Protestantismus als Prinzip der deutschen Philosophie und Entwicklung erkennen und trotzdem eine „Revolution“, ausgehend von den Professoren dieses Prinzips, erwarten konnte. Ich stimme der Meinung des französischen Historikers Théodore Duret zu, der in einer Enquête über die Möglichkeit einer Revolution in Deutschland die skep- tischen Sätze schrieb: „L'idée de révolution, d'un changement profond à réaliser brusquement, n'a pu naître et se déve- lopper que dans un pays latin, idéaliste et catholique comme la France. Elle est restée sans prise réelle et le restera toujours, sur des pays germaniques, positifs et protestants, comme l'Allemagne et l'Angleterre“ 189).
Der lutheranische Protestantismus ganz besonders setzt das materielle Wohl über alles persönliche Opfer, den Egoismus über alle Ziele der Gesamtheit. Die Carbocherie und der Eigensinn, aus denen er entspringt, verhindern jede Solidarität in Gewissensfragen und schliessen jene sublime Reizbarkeit in Fragen der moralischen und politischen Freiheit aus, die letzten Endes ihren Ursprung im Selbstbewusstsein kollektiv ent- wickelter Generationen hat. Vom Kollektivbewusstsein allein wird die Ueberhebung von Individuen oder Klassen als unerträgliche Vergewaltigung des sozialen Moralbegriffes empfunden und gerichtet werden können. Das Kollektiv- bewusstsein ist die Voraussetzung jeder produktiven Rebellion.
Die Deutschen rebellierten immer nur gegen das Gewissen, gegen die Grundlagen der Moral und der Gesell- schaft, ob sie Luther, Kant, Marx oder Hegel hiessen. Der Protestantismus von Individuen, Klassen oder Völkern kommt heute der Vergewaltigung der übrigen Gesellschaft von Individuen, Klassen oder Völkern gleich, aus denen er entsprang und sich isolierte. Nicht einmal eine soziale und politische, geschweige denn eine moralische Revolution, ist heute in Deutschland möglich ohne einen tiefen Um-
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der Erscheinungen dieselbe Revolution erwartet, die im
Gebiete des Geistes stattgefunden ...“
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wie man den Protestantismus als Prinzip der deutschen
Philosophie und Entwicklung erkennen und trotzdem eine
„Revolution“, ausgehend von den Professoren dieses Prinzips,
erwarten konnte. Ich stimme der Meinung des französischen
Historikers Théodore Duret zu, der in einer Enquête über
die Möglichkeit einer Revolution in Deutschland die skep-
tischen Sätze schrieb: „L'idée de révolution, d'un changement
profond à réaliser brusquement, n'a pu naître et se déve-
lopper que dans un pays latin, idéaliste et catholique comme
la France. Elle est restée sans prise réelle et le restera
toujours, sur des pays germaniques, positifs et protestants,
comme l'Allemagne et l'Angleterre“
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Der lutheranische Protestantismus ganz besonders setzt das
materielle Wohl über alles persönliche Opfer, den Egoismus
über alle Ziele der Gesamtheit. Die Carbocherie und der
Eigensinn, aus denen er entspringt, verhindern jede Solidarität
in Gewissensfragen und schliessen jene sublime Reizbarkeit in
Fragen der moralischen und politischen Freiheit aus, die letzten
Endes ihren Ursprung im Selbstbewusstsein kollektiv ent-
wickelter Generationen hat. Vom Kollektivbewusstsein allein
wird die Ueberhebung von Individuen oder Klassen als
unerträgliche Vergewaltigung des sozialen Moralbegriffes
empfunden und gerichtet werden können. Das Kollektiv-
bewusstsein ist die Voraussetzung jeder produktiven Rebellion.
Die Deutschen rebellierten immer nur gegen das
Gewissen, gegen die Grundlagen der Moral und der Gesell-
schaft, ob sie Luther, Kant, Marx oder Hegel hiessen. Der
Protestantismus von Individuen, Klassen oder Völkern
kommt heute der Vergewaltigung der übrigen Gesellschaft
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Ball, Hugo: Zur Kritik der deutschen Intelligenz. Bern, 1919, S. 116. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ball_intelligenz_1919/124>, abgerufen am 27.11.2024.
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