Theodizee; eine Welt der Revolte gegen den verhätschelten Staat; des Wissens gegen den Glauben, des Proletariats gegen die Bourgeoisie. Sein doktrinärer Widerspruch, sein gewollt antithetisches System zwangen ihn zu Gewaltsam- keiten und Gegensätzen, die heute nicht mehr aufrecht zu erhalten sind. Gegensätze wie Materialität und Idealismus, Wissen und Glauben, Proletariat und Bourgeoisie gibt es kaum mehr in solch schneidender Schärfe wie Marxens Methode sie vortrug. Auch schätzen wir nicht mehr Kritik für Kritik und die Negation um ihrer selbst willen. Aber das Nein auf das Ja, der Widerspruch, der als Rebellentum galt, war immerhin neu und von Wert einer Zeit gegen- über, die mit stets schmunzelndem Wohlgefallen sogar noch den Abgrund bewundern konnte.
Die "Deutsch-Französischen Jahrbücher" zeigen den Jüngstdeutschen Marx als ebenso scharfsichtigen wie selbst- bewussten Kämpfer. In politischer Hinsicht zeigte er sich radikal in einem Masse, dass eine Steigerung kaum mehr denkbar war. Neben den heftigsten Ausfällen gegen die Monarchie findet sich eine fast zynische Verachtung aller derer, die sich beherrschen lassen. Der "Philisterstaat" Friedrich Wilhelms IV. ist es, dem unter offenbarer Nach- wirkung romantischen Geniekultes sein ganzer Hass und Abscheu gilt. "Die Philisterwelt ist die politische Tierwelt, und wenn wir ihre Existenz anerkennen müssen, so bleibt uns nichts übrig, als dem status quo einfacher Weise Recht zu geben". "Dem Philister gehört die Welt, um so genauer müssen wir diesen Herrn der Welt studieren. Es hindert uns also nichts, unsere Kritik an die Kritik der Politik, an die Parteinahme in der Politik, also an wirkliche Kämpfe anzuknüpfen" 22).
Louis Blanc hatte Recht, wenn er sagte, das sei ein löblicher Vorsatz. Aber hat Marx ihn befolgt? Hat er den "Herrn der Welt", den Philister, studiert? Er analysierte die Anfänge Friedrich Wilhelms als den Versuch eines ge-
Theodizee; eine Welt der Revolte gegen den verhätschelten Staat; des Wissens gegen den Glauben, des Proletariats gegen die Bourgeoisie. Sein doktrinärer Widerspruch, sein gewollt antithetisches System zwangen ihn zu Gewaltsam- keiten und Gegensätzen, die heute nicht mehr aufrecht zu erhalten sind. Gegensätze wie Materialität und Idealismus, Wissen und Glauben, Proletariat und Bourgeoisie gibt es kaum mehr in solch schneidender Schärfe wie Marxens Methode sie vortrug. Auch schätzen wir nicht mehr Kritik für Kritik und die Negation um ihrer selbst willen. Aber das Nein auf das Ja, der Widerspruch, der als Rebellentum galt, war immerhin neu und von Wert einer Zeit gegen- über, die mit stets schmunzelndem Wohlgefallen sogar noch den Abgrund bewundern konnte.
Die „Deutsch-Französischen Jahrbücher“ zeigen den Jüngstdeutschen Marx als ebenso scharfsichtigen wie selbst- bewussten Kämpfer. In politischer Hinsicht zeigte er sich radikal in einem Masse, dass eine Steigerung kaum mehr denkbar war. Neben den heftigsten Ausfällen gegen die Monarchie findet sich eine fast zynische Verachtung aller derer, die sich beherrschen lassen. Der „Philisterstaat“ Friedrich Wilhelms IV. ist es, dem unter offenbarer Nach- wirkung romantischen Geniekultes sein ganzer Hass und Abscheu gilt. „Die Philisterwelt ist die politische Tierwelt, und wenn wir ihre Existenz anerkennen müssen, so bleibt uns nichts übrig, als dem status quo einfacher Weise Recht zu geben“. „Dem Philister gehört die Welt, um so genauer müssen wir diesen Herrn der Welt studieren. Es hindert uns also nichts, unsere Kritik an die Kritik der Politik, an die Parteinahme in der Politik, also an wirkliche Kämpfe anzuknüpfen“ 22).
Louis Blanc hatte Recht, wenn er sagte, das sei ein löblicher Vorsatz. Aber hat Marx ihn befolgt? Hat er den „Herrn der Welt“, den Philister, studiert? Er analysierte die Anfänge Friedrich Wilhelms als den Versuch eines ge-
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Theodizee; eine Welt der Revolte gegen den verhätschelten
Staat; des Wissens gegen den Glauben, des Proletariats
gegen die Bourgeoisie. Sein doktrinärer Widerspruch, sein
gewollt antithetisches System zwangen ihn zu Gewaltsam-
keiten und Gegensätzen, die heute nicht mehr aufrecht zu
erhalten sind. Gegensätze wie Materialität und Idealismus,
Wissen und Glauben, Proletariat und Bourgeoisie gibt es
kaum mehr in solch schneidender Schärfe wie Marxens
Methode sie vortrug. Auch schätzen wir nicht mehr Kritik
für Kritik und die Negation um ihrer selbst willen. Aber
das Nein auf das Ja, der Widerspruch, der als Rebellentum
galt, war immerhin neu und von Wert einer Zeit gegen-
über, die mit stets schmunzelndem Wohlgefallen sogar noch
den Abgrund bewundern konnte.
Die „Deutsch-Französischen Jahrbücher“ zeigen den
Jüngstdeutschen Marx als ebenso scharfsichtigen wie selbst-
bewussten Kämpfer. In politischer Hinsicht zeigte er sich
radikal in einem Masse, dass eine Steigerung kaum mehr
denkbar war. Neben den heftigsten Ausfällen gegen die
Monarchie findet sich eine fast zynische Verachtung aller
derer, die sich beherrschen lassen. Der „Philisterstaat“
Friedrich Wilhelms IV. ist es, dem unter offenbarer Nach-
wirkung romantischen Geniekultes sein ganzer Hass und
Abscheu gilt. „Die Philisterwelt ist die politische Tierwelt,
und wenn wir ihre Existenz anerkennen müssen, so bleibt
uns nichts übrig, als dem status quo einfacher Weise Recht
zu geben“. „Dem Philister gehört die Welt, um so genauer
müssen wir diesen Herrn der Welt studieren. Es hindert
uns also nichts, unsere Kritik an die Kritik der Politik, an
die Parteinahme in der Politik, also an wirkliche Kämpfe
anzuknüpfen“
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Louis Blanc hatte Recht, wenn er sagte, das sei ein
löblicher Vorsatz. Aber hat Marx ihn befolgt? Hat er
den „Herrn der Welt“, den Philister, studiert? Er analysierte
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Ball, Hugo: Zur Kritik der deutschen Intelligenz. Bern, 1919, S. 180. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ball_intelligenz_1919/188>, abgerufen am 21.11.2024.
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