solche Höhen und Tiefen erreicht wie im Frankreich der letzten fünzig Jahre. Die Kirche der Intelligenz: hier wurde ihr Grundstein gelegt. Geister wie Renan, Baudelaire, Erneste Hello, Barbey d'Aurevilly, Leon Bloy, Charles Peguy haben wie in einer Vorahnung furchtbarer und ver- worrener Jahrhunderte den limbus patrum geschaffen, der den gott- und geistlosen Animalismus unserer Zeit richtet und die trostlose rationalistische Verflachung eines Jour- nalisten- und Diplomatenzeitalters belächelt. Als Kirchen- väter des kommenden Europa zogen sie die letzten, sublimsten, sakramentalen Konsequenzen aus Mittelalter und Christentum, wurden sie Angelpunkt und Mass einer neuen Welt. Das Gewissen nicht nur Frankreichs sprach in ihren Schriften, die eine Apologie immer wieder desselben Themas sind: Pietas et paupertas sancta. "Unsere Gegner von damals", schrieb Charles Peguy, "führten die Sprache der Staatsräson, die Sprache des zeitlichen Wohls eines Volkes und einer Rasse. Wir Franzosen, getragen von einer tief christlichen Bewegung, von einem revolutionären und in seiner Gesamtheit doch traditionellen Gedanken der Ver- christlichung, erreichten die Höhe der Passion in der Sorge um das ewige Heil unseres Volkes. Wir wollten nicht, dass Frankreich im Zustande der Todsünde dastehe". Und Romain Rolland, der diesem Worte ein unerbittlicher Wächter hätte bleiben sollen, statt zwischen seiner Märtyrernation und einem infernalischen Deutschland samaritanische Vermittlungs- versuche zu unternehmen. Romain Rolland fügt hinzu: "Vernehmet einen Heroen des französischen Gewissens, Schriftsteller, die ihr über dem Gewissen Deutschlands zu wachen habt 14)".
Wo fand man in Deutschland jenen Geist der Freiheit, der das Gewissen des russischen Volkes seit 1825 in hef- tigen Wehen geschüttelt hat? Jenes kraftvolle Bewusstsein künftiger Grösse, das in weniger als hundert Jahren ein durch seine Sprache und Einrichtungen tief vom euro-
solche Höhen und Tiefen erreicht wie im Frankreich der letzten fünzig Jahre. Die Kirche der Intelligenz: hier wurde ihr Grundstein gelegt. Geister wie Renan, Baudelaire, Erneste Hello, Barbey d'Aurevilly, Léon Bloy, Charles Péguy haben wie in einer Vorahnung furchtbarer und ver- worrener Jahrhunderte den limbus patrum geschaffen, der den gott- und geistlosen Animalismus unserer Zeit richtet und die trostlose rationalistische Verflachung eines Jour- nalisten- und Diplomatenzeitalters belächelt. Als Kirchen- väter des kommenden Europa zogen sie die letzten, sublimsten, sakramentalen Konsequenzen aus Mittelalter und Christentum, wurden sie Angelpunkt und Mass einer neuen Welt. Das Gewissen nicht nur Frankreichs sprach in ihren Schriften, die eine Apologie immer wieder desselben Themas sind: Pietas et paupertas sancta. „Unsere Gegner von damals“, schrieb Charles Péguy, „führten die Sprache der Staatsräson, die Sprache des zeitlichen Wohls eines Volkes und einer Rasse. Wir Franzosen, getragen von einer tief christlichen Bewegung, von einem revolutionären und in seiner Gesamtheit doch traditionellen Gedanken der Ver- christlichung, erreichten die Höhe der Passion in der Sorge um das ewige Heil unseres Volkes. Wir wollten nicht, dass Frankreich im Zustande der Todsünde dastehe“. Und Romain Rolland, der diesem Worte ein unerbittlicher Wächter hätte bleiben sollen, statt zwischen seiner Märtyrernation und einem infernalischen Deutschland samaritanische Vermittlungs- versuche zu unternehmen. Romain Rolland fügt hinzu: „Vernehmet einen Heroen des französischen Gewissens, Schriftsteller, die ihr über dem Gewissen Deutschlands zu wachen habt 14)“.
Wo fand man in Deutschland jenen Geist der Freiheit, der das Gewissen des russischen Volkes seit 1825 in hef- tigen Wehen geschüttelt hat? Jenes kraftvolle Bewusstsein künftiger Grösse, das in weniger als hundert Jahren ein durch seine Sprache und Einrichtungen tief vom euro-
<TEI><text><front><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0019"n="11"/>
solche Höhen und Tiefen erreicht wie im Frankreich der<lb/>
letzten fünzig Jahre. Die Kirche der Intelligenz: hier wurde<lb/>
ihr Grundstein gelegt. Geister wie Renan, Baudelaire,<lb/>
Erneste Hello, Barbey d'Aurevilly, Léon Bloy, Charles<lb/>
Péguy haben wie in einer Vorahnung furchtbarer und ver-<lb/>
worrener Jahrhunderte den limbus patrum geschaffen, der<lb/>
den gott- und geistlosen Animalismus unserer Zeit richtet<lb/>
und die trostlose rationalistische Verflachung eines Jour-<lb/>
nalisten- und Diplomatenzeitalters belächelt. Als Kirchen-<lb/>
väter des kommenden Europa zogen sie die letzten,<lb/>
sublimsten, sakramentalen Konsequenzen aus Mittelalter und<lb/>
Christentum, wurden sie Angelpunkt und Mass einer neuen<lb/>
Welt. Das Gewissen nicht nur Frankreichs sprach in ihren<lb/>
Schriften, die eine Apologie immer wieder desselben Themas<lb/>
sind: Pietas et paupertas sancta. „Unsere Gegner von<lb/>
damals“, schrieb Charles Péguy, „führten die Sprache der<lb/>
Staatsräson, die Sprache des zeitlichen Wohls eines Volkes<lb/>
und einer Rasse. Wir Franzosen, getragen von einer tief<lb/>
christlichen Bewegung, von einem revolutionären und in<lb/>
seiner Gesamtheit doch traditionellen Gedanken der Ver-<lb/>
christlichung, erreichten die Höhe der Passion in der Sorge<lb/>
um das ewige Heil unseres Volkes. Wir wollten nicht, dass<lb/>
Frankreich im Zustande der Todsünde dastehe“. Und Romain<lb/>
Rolland, der diesem Worte ein unerbittlicher Wächter hätte<lb/>
bleiben sollen, statt zwischen seiner Märtyrernation und einem<lb/>
infernalischen Deutschland samaritanische Vermittlungs-<lb/>
versuche zu unternehmen. Romain Rolland fügt hinzu:<lb/>„Vernehmet einen Heroen des französischen Gewissens,<lb/>
Schriftsteller, die ihr über dem Gewissen Deutschlands zu<lb/>
wachen habt <notexml:id="id14e"next="id14e14e"place="end"n="14)"/>“.</p><lb/><p>Wo fand man in Deutschland jenen Geist der Freiheit,<lb/>
der das Gewissen des russischen Volkes seit 1825 in hef-<lb/>
tigen Wehen geschüttelt hat? Jenes kraftvolle Bewusstsein<lb/>
künftiger Grösse, das in weniger als hundert Jahren ein<lb/>
durch seine Sprache und Einrichtungen tief vom euro-<lb/></p></div></div></front></text></TEI>
[11/0019]
solche Höhen und Tiefen erreicht wie im Frankreich der
letzten fünzig Jahre. Die Kirche der Intelligenz: hier wurde
ihr Grundstein gelegt. Geister wie Renan, Baudelaire,
Erneste Hello, Barbey d'Aurevilly, Léon Bloy, Charles
Péguy haben wie in einer Vorahnung furchtbarer und ver-
worrener Jahrhunderte den limbus patrum geschaffen, der
den gott- und geistlosen Animalismus unserer Zeit richtet
und die trostlose rationalistische Verflachung eines Jour-
nalisten- und Diplomatenzeitalters belächelt. Als Kirchen-
väter des kommenden Europa zogen sie die letzten,
sublimsten, sakramentalen Konsequenzen aus Mittelalter und
Christentum, wurden sie Angelpunkt und Mass einer neuen
Welt. Das Gewissen nicht nur Frankreichs sprach in ihren
Schriften, die eine Apologie immer wieder desselben Themas
sind: Pietas et paupertas sancta. „Unsere Gegner von
damals“, schrieb Charles Péguy, „führten die Sprache der
Staatsräson, die Sprache des zeitlichen Wohls eines Volkes
und einer Rasse. Wir Franzosen, getragen von einer tief
christlichen Bewegung, von einem revolutionären und in
seiner Gesamtheit doch traditionellen Gedanken der Ver-
christlichung, erreichten die Höhe der Passion in der Sorge
um das ewige Heil unseres Volkes. Wir wollten nicht, dass
Frankreich im Zustande der Todsünde dastehe“. Und Romain
Rolland, der diesem Worte ein unerbittlicher Wächter hätte
bleiben sollen, statt zwischen seiner Märtyrernation und einem
infernalischen Deutschland samaritanische Vermittlungs-
versuche zu unternehmen. Romain Rolland fügt hinzu:
„Vernehmet einen Heroen des französischen Gewissens,
Schriftsteller, die ihr über dem Gewissen Deutschlands zu
wachen habt
¹⁴⁾
“.
Wo fand man in Deutschland jenen Geist der Freiheit,
der das Gewissen des russischen Volkes seit 1825 in hef-
tigen Wehen geschüttelt hat? Jenes kraftvolle Bewusstsein
künftiger Grösse, das in weniger als hundert Jahren ein
durch seine Sprache und Einrichtungen tief vom euro-
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Ball, Hugo: Zur Kritik der deutschen Intelligenz. Bern, 1919, S. 11. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ball_intelligenz_1919/19>, abgerufen am 03.12.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.