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Ball, Hugo: Zur Kritik der deutschen Intelligenz. Bern, 1919.

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feierte und 1918 gerichtet wurde, aber noch heute darüber
nicht zur Besinnung gekommen ist. In Schopenhauer stand
Pascal wieder auf, die Apologie des Herzens und der
Tränen, die Apologie wahrhafter Vernunft und unerschütter-
licher Redlichkeit. Seine Philosophie, die an den Leiden-
schaften litt, nicht sie suchte; seine Philosophie, die die
Wunden des Gekreuzigten bluten sah aus jeglicher Kreatur;
seine tief christliche Genielehre -- das Geheimnis, das
Rätsel, Gott muss erlöst werden --; seine Philosophie der
Illusion, die von den Schmerzen der Isoliertheit und der
Beschränkung hinausführte zur Kommunion aller in der
Kunst --, das war es, was Wagner und Nietzsche gleicher-
weise in seinen Bann schlug 117).

Ich möchte den individuellen Erlösungsgedanken
Schopenhauers keineswegs befürworten. Ich halte seine
Aesthetik sowohl wie sein Nirwana für eine Ausflucht und
habe dagegen denselben Einwand, den ich gegen einen
andern romantischen Begriff, den der Universalität, nicht
verschwiegen habe 118). Es handelt sich (seit der franzö-
sischen Revolution) nicht mehr darum, Selbsterlösung zu
treiben und vor der unannehmbaren Realität in die Kunst
und die Illusion zu flüchten. Es handelt sich vielmehr um
die Auflösung dieser Realität, um die Erlösung der Gesell-
schaft
bis ins letzte verlorenste Glied. Es handelt sich um
die materielle und geistige Befreiung all derer, die leiden;
um die christliche Demokratie. Doch Begriffe müssen vor-
handen sein, bevor sie in fruchtbarer Weise angewandt
werden können, und so gebührt Schopenhauer und
Wagner das hohe Verdienst, dem Erlösungsgedanken in-
mitten einer Zeit überzeugtester Philisterblüte zur Wieder-
geburt verholfen zu haben 119).

Man muss die Jugendschriften Nietzsches lesen, um zu
ermessen, welch Pandämonium grosser und fruchtbarer
Gedanken diese drei Männer verband. "Der Schopen-
hauer'sche Wille zum Leben", schreibt Nietzsche, "bekommt

feierte und 1918 gerichtet wurde, aber noch heute darüber
nicht zur Besinnung gekommen ist. In Schopenhauer stand
Pascal wieder auf, die Apologie des Herzens und der
Tränen, die Apologie wahrhafter Vernunft und unerschütter-
licher Redlichkeit. Seine Philosophie, die an den Leiden-
schaften litt, nicht sie suchte; seine Philosophie, die die
Wunden des Gekreuzigten bluten sah aus jeglicher Kreatur;
seine tief christliche Genielehre — das Geheimnis, das
Rätsel, Gott muss erlöst werden —; seine Philosophie der
Illusion, die von den Schmerzen der Isoliertheit und der
Beschränkung hinausführte zur Kommunion aller in der
Kunst —, das war es, was Wagner und Nietzsche gleicher-
weise in seinen Bann schlug 117).

Ich möchte den individuellen Erlösungsgedanken
Schopenhauers keineswegs befürworten. Ich halte seine
Aesthetik sowohl wie sein Nirwana für eine Ausflucht und
habe dagegen denselben Einwand, den ich gegen einen
andern romantischen Begriff, den der Universalität, nicht
verschwiegen habe 118). Es handelt sich (seit der franzö-
sischen Revolution) nicht mehr darum, Selbsterlösung zu
treiben und vor der unannehmbaren Realität in die Kunst
und die Illusion zu flüchten. Es handelt sich vielmehr um
die Auflösung dieser Realität, um die Erlösung der Gesell-
schaft
bis ins letzte verlorenste Glied. Es handelt sich um
die materielle und geistige Befreiung all derer, die leiden;
um die christliche Demokratie. Doch Begriffe müssen vor-
handen sein, bevor sie in fruchtbarer Weise angewandt
werden können, und so gebührt Schopenhauer und
Wagner das hohe Verdienst, dem Erlösungsgedanken in-
mitten einer Zeit überzeugtester Philisterblüte zur Wieder-
geburt verholfen zu haben 119).

Man muss die Jugendschriften Nietzsches lesen, um zu
ermessen, welch Pandämonium grosser und fruchtbarer
Gedanken diese drei Männer verband. „Der Schopen-
hauer'sche Wille zum Leben“, schreibt Nietzsche, „bekommt

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[224/0232] feierte und 1918 gerichtet wurde, aber noch heute darüber nicht zur Besinnung gekommen ist. In Schopenhauer stand Pascal wieder auf, die Apologie des Herzens und der Tränen, die Apologie wahrhafter Vernunft und unerschütter- licher Redlichkeit. Seine Philosophie, die an den Leiden- schaften litt, nicht sie suchte; seine Philosophie, die die Wunden des Gekreuzigten bluten sah aus jeglicher Kreatur; seine tief christliche Genielehre — das Geheimnis, das Rätsel, Gott muss erlöst werden —; seine Philosophie der Illusion, die von den Schmerzen der Isoliertheit und der Beschränkung hinausführte zur Kommunion aller in der Kunst —, das war es, was Wagner und Nietzsche gleicher- weise in seinen Bann schlug ¹¹⁷⁾ . Ich möchte den individuellen Erlösungsgedanken Schopenhauers keineswegs befürworten. Ich halte seine Aesthetik sowohl wie sein Nirwana für eine Ausflucht und habe dagegen denselben Einwand, den ich gegen einen andern romantischen Begriff, den der Universalität, nicht verschwiegen habe ¹¹⁸⁾ . Es handelt sich (seit der franzö- sischen Revolution) nicht mehr darum, Selbsterlösung zu treiben und vor der unannehmbaren Realität in die Kunst und die Illusion zu flüchten. Es handelt sich vielmehr um die Auflösung dieser Realität, um die Erlösung der Gesell- schaft bis ins letzte verlorenste Glied. Es handelt sich um die materielle und geistige Befreiung all derer, die leiden; um die christliche Demokratie. Doch Begriffe müssen vor- handen sein, bevor sie in fruchtbarer Weise angewandt werden können, und so gebührt Schopenhauer und Wagner das hohe Verdienst, dem Erlösungsgedanken in- mitten einer Zeit überzeugtester Philisterblüte zur Wieder- geburt verholfen zu haben ¹¹⁹⁾ . Man muss die Jugendschriften Nietzsches lesen, um zu ermessen, welch Pandämonium grosser und fruchtbarer Gedanken diese drei Männer verband. „Der Schopen- hauer'sche Wille zum Leben“, schreibt Nietzsche, „bekommt

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Zitationshilfe: Ball, Hugo: Zur Kritik der deutschen Intelligenz. Bern, 1919, S. 224. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ball_intelligenz_1919/232>, abgerufen am 25.11.2024.