dass sich die preussische Staatsomnipotenz den symbolischen Kaisergedanken zuerst in Deutschland (unter Bismarck), dann auch in Oesterreich selbst (unter Ludendorff) unter- warf und ihn als Mittel und Werkzeug benutzte. Zweitens: dass der macchiavellistische Gedanke um die Wende des 18. zum 19. Jahrhundert mit dem christlichen Gewissen der deutschen Philosophen in Widerspruch geriet und zu lebhaften Systemkämpfen führte, bis unterm Einfluss Na- poleons der praktische Geist siegte, die Ideologien zum Teufel gingen und Bismarck mit der deutschen Reichs- gründung ein Gebäude errichten konnte, in dem der schänd- lichste Geschäftsmacchiavellismus mit der Fassade des lutheranischen Gottesstaats prunkte. Es würde sich drittens ergeben, dass selbst der protestantische "Idealismus" der deutschen Philosophie (Fichte, Humboldt, Hegel) auf die romantischen Universalstaatsideen nie völlig verzichtete. Das ontologische (Trägheits-) Prinzip ihrer Systeme entspricht dem Dogma vom gestorbenen Gotte und der vollzogenen Erlösung. Die Welt steht still; ihre Probleme sollen nur mehr definiert, beschrieben, begriffen, alsdann hierarchisch eingeordnet werden. Maskierte Geheimpolizisten der alten Orthodoxie sind diese Philosophen, in die Welt geschickt, um den wahren Gott, die wahre Welt und die wahre Ver- nunft -- zu lähmen. Kein anderes System ergibt sich aus ihren Systemen. Keiner tritt klar für den Christus, keiner tritt klar für den Teufel ein. Die radikalste Freiheitspartei und das servilste Hofschranzentum können sich gleichzeitig für die entgegengesetztesten Zwecke auf sie berufen.
In Summa würde sich zeigen, dass die Geschichte des Macchiavellismus in Deutschland, in der auch Marx und Lassalle ein Kapitel zu widmen wäre, den systematischen Gottesgedanken des Heiligen römischen Reiches im Nütz- lichkeitssinn pervertierte und dass diese Kämpfe um die Bestimmung der höchsten Autorität noch heute in Deutsch- land nicht abgeschlossen sind. Daneben aber erwiese sich
dass sich die preussische Staatsomnipotenz den symbolischen Kaisergedanken zuerst in Deutschland (unter Bismarck), dann auch in Oesterreich selbst (unter Ludendorff) unter- warf und ihn als Mittel und Werkzeug benutzte. Zweitens: dass der macchiavellistische Gedanke um die Wende des 18. zum 19. Jahrhundert mit dem christlichen Gewissen der deutschen Philosophen in Widerspruch geriet und zu lebhaften Systemkämpfen führte, bis unterm Einfluss Na- poleons der praktische Geist siegte, die Ideologien zum Teufel gingen und Bismarck mit der deutschen Reichs- gründung ein Gebäude errichten konnte, in dem der schänd- lichste Geschäftsmacchiavellismus mit der Fassade des lutheranischen Gottesstaats prunkte. Es würde sich drittens ergeben, dass selbst der protestantische „Idealismus“ der deutschen Philosophie (Fichte, Humboldt, Hegel) auf die romantischen Universalstaatsideen nie völlig verzichtete. Das ontologische (Trägheits-) Prinzip ihrer Systeme entspricht dem Dogma vom gestorbenen Gotte und der vollzogenen Erlösung. Die Welt steht still; ihre Probleme sollen nur mehr definiert, beschrieben, begriffen, alsdann hierarchisch eingeordnet werden. Maskierte Geheimpolizisten der alten Orthodoxie sind diese Philosophen, in die Welt geschickt, um den wahren Gott, die wahre Welt und die wahre Ver- nunft — zu lähmen. Kein anderes System ergibt sich aus ihren Systemen. Keiner tritt klar für den Christus, keiner tritt klar für den Teufel ein. Die radikalste Freiheitspartei und das servilste Hofschranzentum können sich gleichzeitig für die entgegengesetztesten Zwecke auf sie berufen.
In Summa würde sich zeigen, dass die Geschichte des Macchiavellismus in Deutschland, in der auch Marx und Lassalle ein Kapitel zu widmen wäre, den systematischen Gottesgedanken des Heiligen römischen Reiches im Nütz- lichkeitssinn pervertierte und dass diese Kämpfe um die Bestimmung der höchsten Autorität noch heute in Deutsch- land nicht abgeschlossen sind. Daneben aber erwiese sich
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0242"n="234"/>
dass sich die preussische Staatsomnipotenz den symbolischen<lb/>
Kaisergedanken zuerst in Deutschland (unter Bismarck),<lb/>
dann auch in Oesterreich selbst (unter Ludendorff) unter-<lb/>
warf und ihn als Mittel und Werkzeug benutzte. Zweitens:<lb/>
dass der macchiavellistische Gedanke um die Wende des<lb/>
18. zum 19. Jahrhundert mit dem christlichen Gewissen<lb/>
der deutschen Philosophen in Widerspruch geriet und zu<lb/>
lebhaften Systemkämpfen führte, bis unterm Einfluss Na-<lb/>
poleons der praktische Geist siegte, die Ideologien zum<lb/>
Teufel gingen und Bismarck mit der deutschen Reichs-<lb/>
gründung ein Gebäude errichten konnte, in dem der schänd-<lb/>
lichste Geschäftsmacchiavellismus mit der Fassade des<lb/>
lutheranischen Gottesstaats prunkte. Es würde sich drittens<lb/>
ergeben, dass selbst der protestantische „Idealismus“ der<lb/>
deutschen Philosophie (Fichte, Humboldt, Hegel) auf die<lb/>
romantischen Universalstaatsideen nie völlig verzichtete. Das<lb/>
ontologische (Trägheits-) Prinzip ihrer Systeme entspricht<lb/>
dem Dogma vom gestorbenen Gotte und der vollzogenen<lb/>
Erlösung. Die Welt steht still; ihre Probleme sollen nur<lb/>
mehr definiert, beschrieben, begriffen, alsdann hierarchisch<lb/>
eingeordnet werden. Maskierte Geheimpolizisten der alten<lb/>
Orthodoxie sind diese Philosophen, in die Welt geschickt,<lb/>
um den wahren Gott, die wahre Welt und die wahre Ver-<lb/>
nunft — zu lähmen. Kein anderes System ergibt sich aus<lb/>
ihren Systemen. Keiner tritt klar für den Christus, keiner<lb/>
tritt klar für den Teufel ein. Die radikalste Freiheitspartei<lb/>
und das servilste Hofschranzentum können sich gleichzeitig<lb/>
für die entgegengesetztesten Zwecke auf sie berufen.</p><lb/><p>In Summa würde sich zeigen, dass die Geschichte des<lb/>
Macchiavellismus in Deutschland, in der auch Marx und<lb/>
Lassalle ein Kapitel zu widmen wäre, den systematischen<lb/>
Gottesgedanken des Heiligen römischen Reiches im Nütz-<lb/>
lichkeitssinn pervertierte und dass diese Kämpfe um die<lb/>
Bestimmung der höchsten Autorität noch heute in Deutsch-<lb/>
land nicht abgeschlossen sind. Daneben aber erwiese sich<lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[234/0242]
dass sich die preussische Staatsomnipotenz den symbolischen
Kaisergedanken zuerst in Deutschland (unter Bismarck),
dann auch in Oesterreich selbst (unter Ludendorff) unter-
warf und ihn als Mittel und Werkzeug benutzte. Zweitens:
dass der macchiavellistische Gedanke um die Wende des
18. zum 19. Jahrhundert mit dem christlichen Gewissen
der deutschen Philosophen in Widerspruch geriet und zu
lebhaften Systemkämpfen führte, bis unterm Einfluss Na-
poleons der praktische Geist siegte, die Ideologien zum
Teufel gingen und Bismarck mit der deutschen Reichs-
gründung ein Gebäude errichten konnte, in dem der schänd-
lichste Geschäftsmacchiavellismus mit der Fassade des
lutheranischen Gottesstaats prunkte. Es würde sich drittens
ergeben, dass selbst der protestantische „Idealismus“ der
deutschen Philosophie (Fichte, Humboldt, Hegel) auf die
romantischen Universalstaatsideen nie völlig verzichtete. Das
ontologische (Trägheits-) Prinzip ihrer Systeme entspricht
dem Dogma vom gestorbenen Gotte und der vollzogenen
Erlösung. Die Welt steht still; ihre Probleme sollen nur
mehr definiert, beschrieben, begriffen, alsdann hierarchisch
eingeordnet werden. Maskierte Geheimpolizisten der alten
Orthodoxie sind diese Philosophen, in die Welt geschickt,
um den wahren Gott, die wahre Welt und die wahre Ver-
nunft — zu lähmen. Kein anderes System ergibt sich aus
ihren Systemen. Keiner tritt klar für den Christus, keiner
tritt klar für den Teufel ein. Die radikalste Freiheitspartei
und das servilste Hofschranzentum können sich gleichzeitig
für die entgegengesetztesten Zwecke auf sie berufen.
In Summa würde sich zeigen, dass die Geschichte des
Macchiavellismus in Deutschland, in der auch Marx und
Lassalle ein Kapitel zu widmen wäre, den systematischen
Gottesgedanken des Heiligen römischen Reiches im Nütz-
lichkeitssinn pervertierte und dass diese Kämpfe um die
Bestimmung der höchsten Autorität noch heute in Deutsch-
land nicht abgeschlossen sind. Daneben aber erwiese sich
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Ball, Hugo: Zur Kritik der deutschen Intelligenz. Bern, 1919, S. 234. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ball_intelligenz_1919/242>, abgerufen am 25.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.