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Ball, Hugo: Zur Kritik der deutschen Intelligenz. Bern, 1919.

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157) 1786 in den "Tagebüchern": "Gott weiss, wie sehr und
oft ich es mit Pascal fühlte, das wir mit allem Spekulieren und
Demonstrieren immer ohne Gott in der Welt sind. Wahrlich
dein metaphysischer Gott ist ein so feines, lauteres Spiritus-
flämmchen, das weder erleuchtet noch erwärmt, und bei dem
jeder gute Entschluss erfriert." 1796 erschien seine Abhandlung
"über Kants Deduktion der praktischen Vernunft und die ab-
solute Blindheit der letzteren". Es folgte ein Aufsatz "über den
Affekt der Bewunderung und der Ehrfurcht" (1804). Es folgte
1823 eine Auseinandersetzung "über den Zwiespalt des religiösen
Glaubens und Wissens als die geistige Wurzel des Verfalls der
religiösen und politischen Sozietät". Baaders magischer Einfluss
auf die Romantiker war gross. Nicht nur Novalis, sondern auch
Fr. Schlegel, Goethe und Schelling gingen in seine Schule. Der
Rationalismus und die Hegelei drängten ihn jedoch in den Hinter-
grund. Hier sind grossartige Schätze einer christlichen Philosophie
von unwiderstehlicher Heilkraft zu heben.
158) "Revision der Hegel'schen Philosopheme bezüglich auf
das Christentum" (1839). Er hielt die ganze moderne Philosophie
von Descartes und Locke an für eine Geisteskrankheit, die gleich-
wohl nicht imstande gewesen sei, die gesunde Konstitution der
menschlichen Denkkräfte für immer zu zerstören, und sah das
Herannahen einer grossen sittlichen Katastrophe. 1786 schrieb
er: "Aerzte und alle Naturweise bekennen es einmütig, dass das
Fleisch alles, so da lebet, verdorben ist. Die allgemein über-
handnehmende Geistes- und Nervenschwäche, und Aufklärung
in unserm gesitteten Menschenvolke ist ein leider untrügliches
Symptom einer uns allgemein bevorstehenden Revolution. Leibhaft
sind wir mit allem unserem sinn- und gottlosen Dichten, Tun
und Zerstören das en miniature und als Zwerge der Schwäche und
elender, siecher Ohnmacht, was jene Riesen vor der Sindflut, jene
Fleisches-Türme und Heroen en gros waren. Jene Himmels-
Türmer sündigten durch gigantische Unternehmungen, und wir
Himmels-Stürmerlein durch Nichtigkeit. Das Herz ist das Erste,
was im kleinen Tröpfchen Lymphe, in und aus dem das Menschen-
gebilde bereitet wird, sichtbar scheint; und wahrlich dessen Bil-
dung ist es, worauf die ganze Tragikomödie abzweckt."
159) Er hielt das Papsttum nicht für eine dem Katholizismus
wesentliche Institution. Am Protestantismus schätzte er die Ne-
gation der hierarchischen Despotie, sah aber in seinem Gefolge
die weltliche Beherrschung der Kirche, die Cäsaropapie. Beiden
Kirchen gegenüber zog er die gräco-russische als mustergiltige
157) 1786 in den „Tagebüchern“: „Gott weiss, wie sehr und
oft ich es mit Pascal fühlte, das wir mit allem Spekulieren und
Demonstrieren immer ohne Gott in der Welt sind. Wahrlich
dein metaphysischer Gott ist ein so feines, lauteres Spiritus-
flämmchen, das weder erleuchtet noch erwärmt, und bei dem
jeder gute Entschluss erfriert.“ 1796 erschien seine Abhandlung
„über Kants Deduktion der praktischen Vernunft und die ab-
solute Blindheit der letzteren“. Es folgte ein Aufsatz „über den
Affekt der Bewunderung und der Ehrfurcht“ (1804). Es folgte
1823 eine Auseinandersetzung „über den Zwiespalt des religiösen
Glaubens und Wissens als die geistige Wurzel des Verfalls der
religiösen und politischen Sozietät“. Baaders magischer Einfluss
auf die Romantiker war gross. Nicht nur Novalis, sondern auch
Fr. Schlegel, Goethe und Schelling gingen in seine Schule. Der
Rationalismus und die Hegelei drängten ihn jedoch in den Hinter-
grund. Hier sind grossartige Schätze einer christlichen Philosophie
von unwiderstehlicher Heilkraft zu heben.
158) „Revision der Hegel'schen Philosopheme bezüglich auf
das Christentum“ (1839). Er hielt die ganze moderne Philosophie
von Descartes und Locke an für eine Geisteskrankheit, die gleich-
wohl nicht imstande gewesen sei, die gesunde Konstitution der
menschlichen Denkkräfte für immer zu zerstören, und sah das
Herannahen einer grossen sittlichen Katastrophe. 1786 schrieb
er: „Aerzte und alle Naturweise bekennen es einmütig, dass das
Fleisch alles, so da lebet, verdorben ist. Die allgemein über-
handnehmende Geistes- und Nervenschwäche, und Aufklärung
in unserm gesitteten Menschenvolke ist ein leider untrügliches
Symptom einer uns allgemein bevorstehenden Revolution. Leibhaft
sind wir mit allem unserem sinn- und gottlosen Dichten, Tun
und Zerstören das en miniature und als Zwerge der Schwäche und
elender, siecher Ohnmacht, was jene Riesen vor der Sindflut, jene
Fleisches-Türme und Heroen en gros waren. Jene Himmels-
Türmer sündigten durch gigantische Unternehmungen, und wir
Himmels-Stürmerlein durch Nichtigkeit. Das Herz ist das Erste,
was im kleinen Tröpfchen Lymphe, in und aus dem das Menschen-
gebilde bereitet wird, sichtbar scheint; und wahrlich dessen Bil-
dung ist es, worauf die ganze Tragikomödie abzweckt.“
159) Er hielt das Papsttum nicht für eine dem Katholizismus
wesentliche Institution. Am Protestantismus schätzte er die Ne-
gation der hierarchischen Despotie, sah aber in seinem Gefolge
die weltliche Beherrschung der Kirche, die Cäsaropapie. Beiden
Kirchen gegenüber zog er die gräco-russische als mustergiltige
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[265/0273] ¹⁵⁷⁾ 1786 in den „Tagebüchern“: „Gott weiss, wie sehr und oft ich es mit Pascal fühlte, das wir mit allem Spekulieren und Demonstrieren immer ohne Gott in der Welt sind. Wahrlich dein metaphysischer Gott ist ein so feines, lauteres Spiritus- flämmchen, das weder erleuchtet noch erwärmt, und bei dem jeder gute Entschluss erfriert.“ 1796 erschien seine Abhandlung „über Kants Deduktion der praktischen Vernunft und die ab- solute Blindheit der letzteren“. Es folgte ein Aufsatz „über den Affekt der Bewunderung und der Ehrfurcht“ (1804). Es folgte 1823 eine Auseinandersetzung „über den Zwiespalt des religiösen Glaubens und Wissens als die geistige Wurzel des Verfalls der religiösen und politischen Sozietät“. Baaders magischer Einfluss auf die Romantiker war gross. Nicht nur Novalis, sondern auch Fr. Schlegel, Goethe und Schelling gingen in seine Schule. Der Rationalismus und die Hegelei drängten ihn jedoch in den Hinter- grund. Hier sind grossartige Schätze einer christlichen Philosophie von unwiderstehlicher Heilkraft zu heben. ¹⁵⁸⁾ „Revision der Hegel'schen Philosopheme bezüglich auf das Christentum“ (1839). Er hielt die ganze moderne Philosophie von Descartes und Locke an für eine Geisteskrankheit, die gleich- wohl nicht imstande gewesen sei, die gesunde Konstitution der menschlichen Denkkräfte für immer zu zerstören, und sah das Herannahen einer grossen sittlichen Katastrophe. 1786 schrieb er: „Aerzte und alle Naturweise bekennen es einmütig, dass das Fleisch alles, so da lebet, verdorben ist. Die allgemein über- handnehmende Geistes- und Nervenschwäche, und Aufklärung in unserm gesitteten Menschenvolke ist ein leider untrügliches Symptom einer uns allgemein bevorstehenden Revolution. Leibhaft sind wir mit allem unserem sinn- und gottlosen Dichten, Tun und Zerstören das en miniature und als Zwerge der Schwäche und elender, siecher Ohnmacht, was jene Riesen vor der Sindflut, jene Fleisches-Türme und Heroen en gros waren. Jene Himmels- Türmer sündigten durch gigantische Unternehmungen, und wir Himmels-Stürmerlein durch Nichtigkeit. Das Herz ist das Erste, was im kleinen Tröpfchen Lymphe, in und aus dem das Menschen- gebilde bereitet wird, sichtbar scheint; und wahrlich dessen Bil- dung ist es, worauf die ganze Tragikomödie abzweckt.“ ¹⁵⁹⁾ Er hielt das Papsttum nicht für eine dem Katholizismus wesentliche Institution. Am Protestantismus schätzte er die Ne- gation der hierarchischen Despotie, sah aber in seinem Gefolge die weltliche Beherrschung der Kirche, die Cäsaropapie. Beiden Kirchen gegenüber zog er die gräco-russische als mustergiltige

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Zitationshilfe: Ball, Hugo: Zur Kritik der deutschen Intelligenz. Bern, 1919, S. 265. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ball_intelligenz_1919/273>, abgerufen am 22.11.2024.