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Ball, Hugo: Zur Kritik der deutschen Intelligenz. Bern, 1919.

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Die Tat Luthers soll keineswegs verkleinert oder verun-
glimpft werden. Vom alldeutschen Standpunkt aus muss man
sie vergöttern, gewiss. Vom Standpunkt der Demokratie aus
muss man sie verwerfen. Wer gegen die heutige Tyrannei
protestiert wie Luther vor 400 Jahren als Mönch protestierte,
hat das Recht, sich auf ihn zu berufen. Auch soll den Evange-
lischen nicht ihr Heiliger genommen werden, obgleich dieser
Heilige von Heiligen nichts wissen wollte. "Dem Doctor
Luther zulieb", sagt Naumann, "ist das Jesuskindlein geboren
worden. Der Papst hatte nur einen Schatten davon" 7). Sei's
drum. Solche Verehrung lassen wir gelten. Jener Luther, der
herzinnige Brieflin an seinen Sohn Hänsigen schrieb; der
die Bibel übersetzte und die Bannbulle verbrannte, bleibt
ewiges Gedächtnis; dem protestantischen Handwerker und
Bauern ein Vorbild des guten Familienvaters, wie Josef von
Nazareth dem katholischen. Ein anderer Luther aber ist es,
den das Wischi-Waschi alldeutschen Geredes und Geschreibes
zu Demagogiezwecken ausspielt. Ein anderer Luther, der
"aus der Polyphonie heraus den tönenden Weg gebahnt"
haben soll "für ein Volk, das Genies gebären wird" 8).

Nun stehen wir nicht gerade auf dem Standpunkt des
Novalis, der da schrieb: "Es waren schöne glänzende Zeiten,
wo Europa ein christliches Land war, eine Christenheit diesen
menschlich gestalteten Erdteil bewohnte" 9). Wir sind keine
katholischen Romantiker, Lobredner der Vergangenheit auf
Kosten der Zukunft und Gegenwart. Nicht deshalb sind
wir Antilutheraner, weil wir mit Theodor Lessing glauben:
"Nur solange die grosse Weltidee des Katholizismus eine
gemeinsame Atemluft für Europa schuf, blühte einfältige
Schönheit aus nüchternem Alltag" 10). Nicht einer katholischen
Renaissance reden wir das Wort, deren obskure Propaganda
"das schöne Werk des Mittelalters" wieder herzustellen
hofft oder verzweifelt "durch einen Sieg des geeinigten
deutschen und christlich-europäischen Geistes über die
abgefallene Welt ringsum", wie Herr Scheler 11). Wenn wir

Die Tat Luthers soll keineswegs verkleinert oder verun-
glimpft werden. Vom alldeutschen Standpunkt aus muss man
sie vergöttern, gewiss. Vom Standpunkt der Demokratie aus
muss man sie verwerfen. Wer gegen die heutige Tyrannei
protestiert wie Luther vor 400 Jahren als Mönch protestierte,
hat das Recht, sich auf ihn zu berufen. Auch soll den Evange-
lischen nicht ihr Heiliger genommen werden, obgleich dieser
Heilige von Heiligen nichts wissen wollte. „Dem Doctor
Luther zulieb“, sagt Naumann, „ist das Jesuskindlein geboren
worden. Der Papst hatte nur einen Schatten davon“ 7). Sei's
drum. Solche Verehrung lassen wir gelten. Jener Luther, der
herzinnige Brieflin an seinen Sohn Hänsigen schrieb; der
die Bibel übersetzte und die Bannbulle verbrannte, bleibt
ewiges Gedächtnis; dem protestantischen Handwerker und
Bauern ein Vorbild des guten Familienvaters, wie Josef von
Nazareth dem katholischen. Ein anderer Luther aber ist es,
den das Wischi-Waschi alldeutschen Geredes und Geschreibes
zu Demagogiezwecken ausspielt. Ein anderer Luther, der
„aus der Polyphonie heraus den tönenden Weg gebahnt“
haben soll „für ein Volk, das Genies gebären wird“ 8).

Nun stehen wir nicht gerade auf dem Standpunkt des
Novalis, der da schrieb: „Es waren schöne glänzende Zeiten,
wo Europa ein christliches Land war, eine Christenheit diesen
menschlich gestalteten Erdteil bewohnte“ 9). Wir sind keine
katholischen Romantiker, Lobredner der Vergangenheit auf
Kosten der Zukunft und Gegenwart. Nicht deshalb sind
wir Antilutheraner, weil wir mit Theodor Lessing glauben:
„Nur solange die grosse Weltidee des Katholizismus eine
gemeinsame Atemluft für Europa schuf, blühte einfältige
Schönheit aus nüchternem Alltag“ 10). Nicht einer katholischen
Renaissance reden wir das Wort, deren obskure Propaganda
„das schöne Werk des Mittelalters“ wieder herzustellen
hofft oder verzweifelt „durch einen Sieg des geeinigten
deutschen und christlich-europäischen Geistes über die
abgefallene Welt ringsum“, wie Herr Scheler 11). Wenn wir

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[20/0028] Die Tat Luthers soll keineswegs verkleinert oder verun- glimpft werden. Vom alldeutschen Standpunkt aus muss man sie vergöttern, gewiss. Vom Standpunkt der Demokratie aus muss man sie verwerfen. Wer gegen die heutige Tyrannei protestiert wie Luther vor 400 Jahren als Mönch protestierte, hat das Recht, sich auf ihn zu berufen. Auch soll den Evange- lischen nicht ihr Heiliger genommen werden, obgleich dieser Heilige von Heiligen nichts wissen wollte. „Dem Doctor Luther zulieb“, sagt Naumann, „ist das Jesuskindlein geboren worden. Der Papst hatte nur einen Schatten davon“ ⁷⁾ . Sei's drum. Solche Verehrung lassen wir gelten. Jener Luther, der herzinnige Brieflin an seinen Sohn Hänsigen schrieb; der die Bibel übersetzte und die Bannbulle verbrannte, bleibt ewiges Gedächtnis; dem protestantischen Handwerker und Bauern ein Vorbild des guten Familienvaters, wie Josef von Nazareth dem katholischen. Ein anderer Luther aber ist es, den das Wischi-Waschi alldeutschen Geredes und Geschreibes zu Demagogiezwecken ausspielt. Ein anderer Luther, der „aus der Polyphonie heraus den tönenden Weg gebahnt“ haben soll „für ein Volk, das Genies gebären wird“ ⁸⁾ . Nun stehen wir nicht gerade auf dem Standpunkt des Novalis, der da schrieb: „Es waren schöne glänzende Zeiten, wo Europa ein christliches Land war, eine Christenheit diesen menschlich gestalteten Erdteil bewohnte“ ⁹⁾ . Wir sind keine katholischen Romantiker, Lobredner der Vergangenheit auf Kosten der Zukunft und Gegenwart. Nicht deshalb sind wir Antilutheraner, weil wir mit Theodor Lessing glauben: „Nur solange die grosse Weltidee des Katholizismus eine gemeinsame Atemluft für Europa schuf, blühte einfältige Schönheit aus nüchternem Alltag“ ¹⁰⁾ . Nicht einer katholischen Renaissance reden wir das Wort, deren obskure Propaganda „das schöne Werk des Mittelalters“ wieder herzustellen hofft oder verzweifelt „durch einen Sieg des geeinigten deutschen und christlich-europäischen Geistes über die abgefallene Welt ringsum“, wie Herr Scheler ¹¹⁾ . Wenn wir

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Zitationshilfe: Ball, Hugo: Zur Kritik der deutschen Intelligenz. Bern, 1919, S. 20. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ball_intelligenz_1919/28>, abgerufen am 21.11.2024.