Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Ball, Hugo: Zur Kritik der deutschen Intelligenz. Bern, 1919.

Bild:
<< vorherige Seite

Eine Blasphemie gegen den gekreuzigten Christus?
Münzer mag gelächelt haben, als er den Brief las. Ihm
war Christus "Vorbild des höchsten Leidens, wo der
Mensch erkennt, dass er ein Sohn Gottes ist". Christus
sei "der oberste unter den Söhnen Gottes" und "sofern
der Mensch in die Empfindlichkeit göttlichen Willens
kommt, ist es nimmermehr möglich, dass er wahrhaftig
wieder an den Vater, an den Sohn oder heiligen Geist
glaube" 46).

Mir sind keine tieferen und freieren Sätze über
Christentum, Leiden und Gottesglaube bekannt. Diese
Sätze Münzers enthalten mehr als eine Philosophie der
Qual und Verzweiflung, sie enthalten eine hierarchische
Ordnung der Geister nach Massgabe ihrer Leidensfähigkeit.
Sie bedeuten die Ueberwindung des ganzen Mittelalters
und sind der höchsten Spiritualität Europas verwandt.
Mit Tolstoi verbindet ihn sein religiöser Anarchismus, mit
Mazzini das "dio e popolo", mit Jules Valles die Konfödera-
tion der Schmerzen, mit Erneste Hello die Heiligenlehre.

Wie stellte sich Luther zu diesen Sätzen seines Zeit-
genossen? Sie erschienen ihm als "eitel mutwillige Frevel-
artikel", "als ein seltsames Gespenst des Teufels". An Spalatin
schrieb er, Münzer bediene sich "solch ungewöhnlicher
und der heiligen Schrift widersprechender Worte und Reden,
dass man ihn für einen sinnlosen, betrunkenen Mann halten
könne" 47).

Am 13. Juli 1523 sieht Münzer sich genötigt, an den
Herzog Johann zu schreiben: "Wollt ihrs haben, ich soll
vor denen von Wittenberg verhört werden, so bin ich nicht
geständig. Ich will die Römer, Türken, die Heiden dabei
haben. Denn ich spreche an, ich tadle die unverständige
Christenheit zu Boden. Ich weiss meinen Glauben zu
verantworten. Wollt ihr darauf meine Bücher erscheinen
lassen, so sehe ichs gern. Wo aber nicht, so will ichs dem
Willen Gottes befehlen. Ich will euch getreulich alle meine

Eine Blasphemie gegen den gekreuzigten Christus?
Münzer mag gelächelt haben, als er den Brief las. Ihm
war Christus „Vorbild des höchsten Leidens, wo der
Mensch erkennt, dass er ein Sohn Gottes ist“. Christus
sei „der oberste unter den Söhnen Gottes“ und „sofern
der Mensch in die Empfindlichkeit göttlichen Willens
kommt, ist es nimmermehr möglich, dass er wahrhaftig
wieder an den Vater, an den Sohn oder heiligen Geist
glaube“ 46).

Mir sind keine tieferen und freieren Sätze über
Christentum, Leiden und Gottesglaube bekannt. Diese
Sätze Münzers enthalten mehr als eine Philosophie der
Qual und Verzweiflung, sie enthalten eine hierarchische
Ordnung der Geister nach Massgabe ihrer Leidensfähigkeit.
Sie bedeuten die Ueberwindung des ganzen Mittelalters
und sind der höchsten Spiritualität Europas verwandt.
Mit Tolstoi verbindet ihn sein religiöser Anarchismus, mit
Mazzini das „dio e popolo“, mit Jules Vallès die Konfödera-
tion der Schmerzen, mit Erneste Hello die Heiligenlehre.

Wie stellte sich Luther zu diesen Sätzen seines Zeit-
genossen? Sie erschienen ihm als „eitel mutwillige Frevel-
artikel“, „als ein seltsames Gespenst des Teufels“. An Spalatin
schrieb er, Münzer bediene sich „solch ungewöhnlicher
und der heiligen Schrift widersprechender Worte und Reden,
dass man ihn für einen sinnlosen, betrunkenen Mann halten
könne“ 47).

Am 13. Juli 1523 sieht Münzer sich genötigt, an den
Herzog Johann zu schreiben: „Wollt ihrs haben, ich soll
vor denen von Wittenberg verhört werden, so bin ich nicht
geständig. Ich will die Römer, Türken, die Heiden dabei
haben. Denn ich spreche an, ich tadle die unverständige
Christenheit zu Boden. Ich weiss meinen Glauben zu
verantworten. Wollt ihr darauf meine Bücher erscheinen
lassen, so sehe ichs gern. Wo aber nicht, so will ichs dem
Willen Gottes befehlen. Ich will euch getreulich alle meine

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <pb facs="#f0050" n="42"/>
          <p>Eine Blasphemie gegen den gekreuzigten Christus?<lb/>
Münzer mag gelächelt haben, als er den Brief las. Ihm<lb/>
war Christus &#x201E;Vorbild des höchsten Leidens, wo der<lb/>
Mensch erkennt, dass er ein Sohn Gottes ist&#x201C;. Christus<lb/>
sei &#x201E;der oberste unter den Söhnen Gottes&#x201C; und &#x201E;sofern<lb/>
der Mensch in die Empfindlichkeit göttlichen Willens<lb/>
kommt, ist es nimmermehr möglich, dass er wahrhaftig<lb/>
wieder an den Vater, an den Sohn oder heiligen Geist<lb/>
glaube&#x201C; <note xml:id="id46a" next="id46a46a" place="end" n="46)"/>.</p><lb/>
          <p>Mir sind keine tieferen und freieren Sätze über<lb/>
Christentum, Leiden und Gottesglaube bekannt. Diese<lb/>
Sätze Münzers enthalten mehr als eine Philosophie der<lb/>
Qual und Verzweiflung, sie enthalten eine hierarchische<lb/>
Ordnung der Geister nach Massgabe ihrer Leidensfähigkeit.<lb/>
Sie bedeuten die Ueberwindung des ganzen Mittelalters<lb/>
und sind der höchsten Spiritualität Europas verwandt.<lb/>
Mit Tolstoi verbindet ihn sein religiöser Anarchismus, mit<lb/>
Mazzini das &#x201E;dio e popolo&#x201C;, mit Jules Vallès <choice><sic>der</sic><corr>die</corr></choice> Konfödera-<lb/>
tion der Schmerzen, mit Erneste Hello die Heiligenlehre.</p><lb/>
          <p>Wie stellte sich Luther zu diesen Sätzen seines Zeit-<lb/>
genossen? Sie erschienen ihm als &#x201E;eitel mutwillige Frevel-<lb/>
artikel&#x201C;, &#x201E;als ein seltsames Gespenst des Teufels&#x201C;. An Spalatin<lb/>
schrieb er, Münzer bediene sich &#x201E;solch ungewöhnlicher<lb/>
und der heiligen Schrift widersprechender Worte und Reden,<lb/>
dass man ihn für einen sinnlosen, betrunkenen Mann halten<lb/>
könne&#x201C; <note xml:id="id47a" next="id47a47a" place="end" n="47)"/>.</p><lb/>
          <p>Am 13. Juli 1523 sieht Münzer sich genötigt, an den<lb/>
Herzog Johann zu schreiben: &#x201E;Wollt ihrs haben, ich soll<lb/>
vor denen von Wittenberg verhört werden, so bin ich nicht<lb/>
geständig. Ich will die Römer, Türken, die Heiden dabei<lb/>
haben. Denn ich spreche an, ich tadle die unverständige<lb/>
Christenheit zu Boden. Ich weiss meinen Glauben zu<lb/>
verantworten. Wollt ihr darauf meine Bücher erscheinen<lb/>
lassen, so sehe ichs gern. Wo aber nicht, so will ichs dem<lb/>
Willen Gottes befehlen. Ich will euch getreulich alle meine<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[42/0050] Eine Blasphemie gegen den gekreuzigten Christus? Münzer mag gelächelt haben, als er den Brief las. Ihm war Christus „Vorbild des höchsten Leidens, wo der Mensch erkennt, dass er ein Sohn Gottes ist“. Christus sei „der oberste unter den Söhnen Gottes“ und „sofern der Mensch in die Empfindlichkeit göttlichen Willens kommt, ist es nimmermehr möglich, dass er wahrhaftig wieder an den Vater, an den Sohn oder heiligen Geist glaube“ ⁴⁶⁾ . Mir sind keine tieferen und freieren Sätze über Christentum, Leiden und Gottesglaube bekannt. Diese Sätze Münzers enthalten mehr als eine Philosophie der Qual und Verzweiflung, sie enthalten eine hierarchische Ordnung der Geister nach Massgabe ihrer Leidensfähigkeit. Sie bedeuten die Ueberwindung des ganzen Mittelalters und sind der höchsten Spiritualität Europas verwandt. Mit Tolstoi verbindet ihn sein religiöser Anarchismus, mit Mazzini das „dio e popolo“, mit Jules Vallès die Konfödera- tion der Schmerzen, mit Erneste Hello die Heiligenlehre. Wie stellte sich Luther zu diesen Sätzen seines Zeit- genossen? Sie erschienen ihm als „eitel mutwillige Frevel- artikel“, „als ein seltsames Gespenst des Teufels“. An Spalatin schrieb er, Münzer bediene sich „solch ungewöhnlicher und der heiligen Schrift widersprechender Worte und Reden, dass man ihn für einen sinnlosen, betrunkenen Mann halten könne“ ⁴⁷⁾ . Am 13. Juli 1523 sieht Münzer sich genötigt, an den Herzog Johann zu schreiben: „Wollt ihrs haben, ich soll vor denen von Wittenberg verhört werden, so bin ich nicht geständig. Ich will die Römer, Türken, die Heiden dabei haben. Denn ich spreche an, ich tadle die unverständige Christenheit zu Boden. Ich weiss meinen Glauben zu verantworten. Wollt ihr darauf meine Bücher erscheinen lassen, so sehe ichs gern. Wo aber nicht, so will ichs dem Willen Gottes befehlen. Ich will euch getreulich alle meine

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Matthias Schulz, Dienstleister (Muttersprachler): Bereitstellung der Texttranskription nach XML/TEI gemäß DTA-Basisformat. (2012-02-17T09:20:45Z)
Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften, Akademiebibliothek: Bereitstellung der Bilddigitalisate (2012-02-17T09:20:45Z)

Weitere Informationen:

  • Nach den Richtlinien des Deutschen Textarchivs (DTA) transkribiert und ausgezeichnet.



Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/ball_intelligenz_1919
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/ball_intelligenz_1919/50
Zitationshilfe: Ball, Hugo: Zur Kritik der deutschen Intelligenz. Bern, 1919, S. 42. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ball_intelligenz_1919/50>, abgerufen am 03.12.2024.