werken verführten dazu, den Verstand mit der Vernunft zu verwechseln, oder, wie Baader sagte, den Logos mit der Logik. Die Verstandeskultur, nicht die Vernunft feierte in Kants Schriften ihren Triumph. Verstandestaten waren es, wenn Kant in der "Kritik der reinen Vernunft" das "Ding an sich" in gepflegtem Kanzleistil abzog von der sichtbaren Welt; wenn er für alle Zeiten den Unterschied zwischen innerer und äusserer Macht nachdrücklichst betonte und damit aller neudeutschen Barbarei das Urteil sprach. Eine Verstandestat war jene sozusagen philologisch saubere Sittlichkeit, die rigoroses Ideal und Tyrannei eines Volkes von Magistern wurde. Und gleichwohl: selbst dieser knöcherne Rationalist, der von der Astronomie und den Sternen so vorsichtig herkam, dass er die Wirklichkeit eine "Welt der Erscheinungen" nannte und sie in sträflicher Ferne für illusorisch erklärte -- blieb nicht auch er ein Mystiker? Sind die zwölf Kategorien, mit denen er sich umgab, so sehr verschieden von den zwölf Aposteln Jesu nnd des Niklas Storch? Und die drei apriorischen Vernunftsfunktionen, künden sie nicht wider Willen die scholastische Trinität Vater, Sohn und Heiliger Geist?
Kants Protestantismus verleugnet sich nicht. Bei Ab- fassung der "Religion innerhalb der Grenzen der reinen Vernunft" lag bezeugtermassen ein Katechismus auf seinem Schreibtisch, und auf den lutheranischen Katechismus machte er die Probe 22). Bei Erscheinen dieses Buches aber geriet der Verfasser in Widerspruch mit dem preussischen Kabinett. Das erste Stück des Buches, die Abhandlung "Vom radikalen Bösen" (1792), die man auf die ultra- revolutionären französischen Hebertisten beziehen konnte, erlangte noch das Imprimatur, mit dem bedenklichen Zusatze: "weil doch nur tiefdenkende Gelehrte die Kant'schen Schriften lesen 23)". Dem zweiten Stück aber, "Vom Kampf des guten Prinzips mit dem Bösen um die Herrschaft über den Menschen", wurde von zwei Zensoren zugleich das
werken verführten dazu, den Verstand mit der Vernunft zu verwechseln, oder, wie Baader sagte, den Logos mit der Logik. Die Verstandeskultur, nicht die Vernunft feierte in Kants Schriften ihren Triumph. Verstandestaten waren es, wenn Kant in der „Kritik der reinen Vernunft“ das „Ding an sich“ in gepflegtem Kanzleistil abzog von der sichtbaren Welt; wenn er für alle Zeiten den Unterschied zwischen innerer und äusserer Macht nachdrücklichst betonte und damit aller neudeutschen Barbarei das Urteil sprach. Eine Verstandestat war jene sozusagen philologisch saubere Sittlichkeit, die rigoroses Ideal und Tyrannei eines Volkes von Magistern wurde. Und gleichwohl: selbst dieser knöcherne Rationalist, der von der Astronomie und den Sternen so vorsichtig herkam, dass er die Wirklichkeit eine „Welt der Erscheinungen“ nannte und sie in sträflicher Ferne für illusorisch erklärte — blieb nicht auch er ein Mystiker? Sind die zwölf Kategorien, mit denen er sich umgab, so sehr verschieden von den zwölf Aposteln Jesu nnd des Niklas Storch? Und die drei apriorischen Vernunftsfunktionen, künden sie nicht wider Willen die scholastische Trinität Vater, Sohn und Heiliger Geist?
Kants Protestantismus verleugnet sich nicht. Bei Ab- fassung der „Religion innerhalb der Grenzen der reinen Vernunft“ lag bezeugtermassen ein Katechismus auf seinem Schreibtisch, und auf den lutheranischen Katechismus machte er die Probe 22). Bei Erscheinen dieses Buches aber geriet der Verfasser in Widerspruch mit dem preussischen Kabinett. Das erste Stück des Buches, die Abhandlung „Vom radikalen Bösen“ (1792), die man auf die ultra- revolutionären französischen Hébertisten beziehen konnte, erlangte noch das Imprimatur, mit dem bedenklichen Zusatze: „weil doch nur tiefdenkende Gelehrte die Kant'schen Schriften lesen 23)“. Dem zweiten Stück aber, „Vom Kampf des guten Prinzips mit dem Bösen um die Herrschaft über den Menschen“, wurde von zwei Zensoren zugleich das
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werken verführten dazu, den Verstand mit der Vernunft
zu verwechseln, oder, wie Baader sagte, den Logos mit der
Logik. Die Verstandeskultur, nicht die Vernunft feierte in
Kants Schriften ihren Triumph. Verstandestaten waren es,
wenn Kant in der „Kritik der reinen Vernunft“ das „Ding
an sich“ in gepflegtem Kanzleistil abzog von der sichtbaren
Welt; wenn er für alle Zeiten den Unterschied zwischen
innerer und äusserer Macht nachdrücklichst betonte und
damit aller neudeutschen Barbarei das Urteil sprach. Eine
Verstandestat war jene sozusagen philologisch saubere
Sittlichkeit, die rigoroses Ideal und Tyrannei eines Volkes
von Magistern wurde. Und gleichwohl: selbst dieser knöcherne
Rationalist, der von der Astronomie und den Sternen so
vorsichtig herkam, dass er die Wirklichkeit eine „Welt der
Erscheinungen“ nannte und sie in sträflicher Ferne für
illusorisch erklärte — blieb nicht auch er ein Mystiker?
Sind die zwölf Kategorien, mit denen er sich umgab, so
sehr verschieden von den zwölf Aposteln Jesu nnd des
Niklas Storch? Und die drei apriorischen Vernunftsfunktionen,
künden sie nicht wider Willen die scholastische Trinität
Vater, Sohn und Heiliger Geist?
Kants Protestantismus verleugnet sich nicht. Bei Ab-
fassung der „Religion innerhalb der Grenzen der reinen
Vernunft“ lag bezeugtermassen ein Katechismus auf seinem
Schreibtisch, und auf den lutheranischen Katechismus
machte er die Probe
²²⁾
. Bei Erscheinen dieses Buches aber
geriet der Verfasser in Widerspruch mit dem preussischen
Kabinett. Das erste Stück des Buches, die Abhandlung
„Vom radikalen Bösen“ (1792), die man auf die ultra-
revolutionären französischen Hébertisten beziehen konnte,
erlangte noch das Imprimatur, mit dem bedenklichen
Zusatze: „weil doch nur tiefdenkende Gelehrte die Kant'schen
Schriften lesen
²³⁾
“. Dem zweiten Stück aber, „Vom Kampf
des guten Prinzips mit dem Bösen um die Herrschaft über
den Menschen“, wurde von zwei Zensoren zugleich das
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Ball, Hugo: Zur Kritik der deutschen Intelligenz. Bern, 1919, S. 59. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ball_intelligenz_1919/67>, abgerufen am 30.11.2024.
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