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Bastian, Adolf: Der Völkergedanke im Aufbau einer Wissenschaft vom Menschen. Berlin, 1881.

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Leben, als physische Tretmühle, aus der man sich je eher
je lieber befreite? Ist das Leben des Lebens werth, ohne jene
Ideale, die als aus dem Naturganzen entfaltet, ihre An-
erkennung heischen.

Man spricht vielfach von einem Aussterben der Natur-
völker. Nicht das physische Aussterben, soweit es vorkommt,
fällt ins Gewicht, weil ohnedem von dem allmächtigen Ge-
schichtsgang abhängig, der weder zu hemmen, noch abzu-
wenden ist. Aber das psychische Aussterben, -- der Verlust
der ethnischen Originalitäten, ehe sie in Literatur und Museen
für das Studium gesichert sind, -- solcher Verlust bedroht
unsere künftigen Inductionsrechnungen mit allerlei Fälschun-
gen, und könnte die Möglichkeit selbst einer Menschenwissen-
schaft in Frage stellen.

Damit dann aber auch die Möglichkeit eines Studiums
des Menschen nach inductiver Methode. Und ob deren
Hülfe, die angeboten scheint, allzu vornehm abzuweisen wäre?

Wir haben gar manches hinzugelernt im Laufe der
Jahrtausende, aber die grossen Geheimnisse des Daseins,
die Räthselfragen eigener Existenz, sie stehen noch vor uns
mit denselben Wunderfragen, wie sie unserer Urväter früheste
am frühen Schöpfungsmorgen angeblickt. So viel im Einzelnen
gelernt und gewonnen, der Kern des Mysterium bleibt un-
berührt, seine Lösung so fern, wie immer.

Und alle Wege, die einzuschlagen waren, sind versucht,
bald in philosophischer Meditation, der Askese ergeben, bald
in religiösem Glauben, voll Glaubensmuth, dann in forschender
Zersetzung der Materie wieder, auch in mystischer Ver-
senkung, schwärmerischer Hingabe, fanatischer Verzweiflung,
-- alle und jede sind durchwandert, und alle haben sich mehr
oder weniger als Irrwege ergeben, die uns im Kampf mit der
Materie zwar manch glänzenden Sieg gewährt, aber auf geisti-
gem Terrain, hänselnd und näselnd, stets auf den Fleck
zurückgeführt, von dem der Ausgang genommen, in den
Religionsphilosophien des Wesens nicht minder, wie Indien's

Leben, als physische Tretmühle, aus der man sich je eher
je lieber befreite? Ist das Leben des Lebens werth, ohne jene
Ideale, die als aus dem Naturganzen entfaltet, ihre An-
erkennung heischen.

Man spricht vielfach von einem Aussterben der Natur-
völker. Nicht das physische Aussterben, soweit es vorkommt,
fällt ins Gewicht, weil ohnedem von dem allmächtigen Ge-
schichtsgang abhängig, der weder zu hemmen, noch abzu-
wenden ist. Aber das psychische Aussterben, — der Verlust
der ethnischen Originalitäten, ehe sie in Literatur und Museen
für das Studium gesichert sind, — solcher Verlust bedroht
unsere künftigen Inductionsrechnungen mit allerlei Fälschun-
gen, und könnte die Möglichkeit selbst einer Menschenwissen-
schaft in Frage stellen.

Damit dann aber auch die Möglichkeit eines Studiums
des Menschen nach inductiver Methode. Und ob deren
Hülfe, die angeboten scheint, allzu vornehm abzuweisen wäre?

Wir haben gar manches hinzugelernt im Laufe der
Jahrtausende, aber die grossen Geheimnisse des Daseins,
die Räthselfragen eigener Existenz, sie stehen noch vor uns
mit denselben Wunderfragen, wie sie unserer Urväter früheste
am frühen Schöpfungsmorgen angeblickt. So viel im Einzelnen
gelernt und gewonnen, der Kern des Mysterium bleibt un-
berührt, seine Lösung so fern, wie immer.

Und alle Wege, die einzuschlagen waren, sind versucht,
bald in philosophischer Meditation, der Askese ergeben, bald
in religiösem Glauben, voll Glaubensmuth, dann in forschender
Zersetzung der Materie wieder, auch in mystischer Ver-
senkung, schwärmerischer Hingabe, fanatischer Verzweiflung,
— alle und jede sind durchwandert, und alle haben sich mehr
oder weniger als Irrwege ergeben, die uns im Kampf mit der
Materie zwar manch glänzenden Sieg gewährt, aber auf geisti-
gem Terrain, hänselnd und näselnd, stets auf den Fleck
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Religionsphilosophien des Wesens nicht minder, wie Indien’s

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[181/0215] Leben, als physische Tretmühle, aus der man sich je eher je lieber befreite? Ist das Leben des Lebens werth, ohne jene Ideale, die als aus dem Naturganzen entfaltet, ihre An- erkennung heischen. Man spricht vielfach von einem Aussterben der Natur- völker. Nicht das physische Aussterben, soweit es vorkommt, fällt ins Gewicht, weil ohnedem von dem allmächtigen Ge- schichtsgang abhängig, der weder zu hemmen, noch abzu- wenden ist. Aber das psychische Aussterben, — der Verlust der ethnischen Originalitäten, ehe sie in Literatur und Museen für das Studium gesichert sind, — solcher Verlust bedroht unsere künftigen Inductionsrechnungen mit allerlei Fälschun- gen, und könnte die Möglichkeit selbst einer Menschenwissen- schaft in Frage stellen. Damit dann aber auch die Möglichkeit eines Studiums des Menschen nach inductiver Methode. Und ob deren Hülfe, die angeboten scheint, allzu vornehm abzuweisen wäre? Wir haben gar manches hinzugelernt im Laufe der Jahrtausende, aber die grossen Geheimnisse des Daseins, die Räthselfragen eigener Existenz, sie stehen noch vor uns mit denselben Wunderfragen, wie sie unserer Urväter früheste am frühen Schöpfungsmorgen angeblickt. So viel im Einzelnen gelernt und gewonnen, der Kern des Mysterium bleibt un- berührt, seine Lösung so fern, wie immer. Und alle Wege, die einzuschlagen waren, sind versucht, bald in philosophischer Meditation, der Askese ergeben, bald in religiösem Glauben, voll Glaubensmuth, dann in forschender Zersetzung der Materie wieder, auch in mystischer Ver- senkung, schwärmerischer Hingabe, fanatischer Verzweiflung, — alle und jede sind durchwandert, und alle haben sich mehr oder weniger als Irrwege ergeben, die uns im Kampf mit der Materie zwar manch glänzenden Sieg gewährt, aber auf geisti- gem Terrain, hänselnd und näselnd, stets auf den Fleck zurückgeführt, von dem der Ausgang genommen, in den Religionsphilosophien des Wesens nicht minder, wie Indien’s

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Zitationshilfe: Bastian, Adolf: Der Völkergedanke im Aufbau einer Wissenschaft vom Menschen. Berlin, 1881, S. 181. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bastian_voelkergedanke_1881/215>, abgerufen am 17.05.2024.