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Bastian, Adolf: Der Völkergedanke im Aufbau einer Wissenschaft vom Menschen. Berlin, 1881.

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relativ günstigen Verhältnissen) gedacht ist, so dass die
Religionsphilosophie unerwartetes Material gewinnt (und
weiterhin die psychologische Betrachtung überhaupt).

Indem auf den Inseln der Südsee, und anderswo unter
gleichartiger Umgebung, die Gedankenbäume in vererbten
Traditionen vieler Generationen ungestört fortwuchsen, ent-
wickelten sie sich zu solchen Waldriesen, wie wir sie botanisch
in Californien oder Australien vorfinden, während sie in unserer
unruhigen Vergangenheit längst zerstört sein würden. So
gross sie sind, so kommen sie allerdings entfernt nicht an
Werth den edlen Fruchtbäumen gleich, die wir gezüchtet,
aber dennoch haben sie für Kenntniss der Naturproductionen
ein eigenartiges Interesse, das in anderer Weise nicht ge-
währt werden könnte. Und Aehnliches gilt für die Natur-
stämme im Vergleich zu den Culturvölkern.

Gestaltungen, die einer jahrhundertjährigen Entwickelung
bedürfen, können selbstverständlich nicht da erwartet werden,
wo die Entwickelung nicht bis zu solcher Dauer zu gelangen
vermag, und werden ohne dafür gegebene Bedingungen nicht
hervorgerufen werden können, (wenn auch vielleicht unter
künstlichen Mitteln etwas früher gezeitigt, doch nie nach dem
Bedürfniss des Augenblicks). Insofern schlossen die polynesi-
schen Vorstellungskreise wunderbar eigenartige Geistespro-
ductionen ein, die sich in gleicher Weise auf der Erde nie
wiederholen werden. Auch die Indianer Amerika's sind
ihrer Naturanlage nach zu tiefsinnigen Mythen und Betrach-
tungen geneigt. Aber bei ihnen war das unruhige Wander-
leben fester Durchbildung von Schulen hinderlich, und ihre
religiösen Bedürfnisse schöpfen in der Hauptsache aus dem
individuellen Lebenstraum, obwohl dann auch hier manchmal
Geheimnisse erlangt werden, die der Eigenthümer hoch genug
im Werthe schätzt, um sie theuer zu verkaufen oder wenig-
stens für sich selbst unter hohem Preis zu valuiren.

Auf den engen Inseln Polynesiens dagegen concentrirte
sich das Denken im gegenseitigen Austausch innerhalb des

Bastian, Völkergedanke. 4

relativ günstigen Verhältnissen) gedacht ist, so dass die
Religionsphilosophie unerwartetes Material gewinnt (und
weiterhin die psychologische Betrachtung überhaupt).

Indem auf den Inseln der Südsee, und anderswo unter
gleichartiger Umgebung, die Gedankenbäume in vererbten
Traditionen vieler Generationen ungestört fortwuchsen, ent-
wickelten sie sich zu solchen Waldriesen, wie wir sie botanisch
in Californien oder Australien vorfinden, während sie in unserer
unruhigen Vergangenheit längst zerstört sein würden. So
gross sie sind, so kommen sie allerdings entfernt nicht an
Werth den edlen Fruchtbäumen gleich, die wir gezüchtet,
aber dennoch haben sie für Kenntniss der Naturproductionen
ein eigenartiges Interesse, das in anderer Weise nicht ge-
währt werden könnte. Und Aehnliches gilt für die Natur-
stämme im Vergleich zu den Culturvölkern.

Gestaltungen, die einer jahrhundertjährigen Entwickelung
bedürfen, können selbstverständlich nicht da erwartet werden,
wo die Entwickelung nicht bis zu solcher Dauer zu gelangen
vermag, und werden ohne dafür gegebene Bedingungen nicht
hervorgerufen werden können, (wenn auch vielleicht unter
künstlichen Mitteln etwas früher gezeitigt, doch nie nach dem
Bedürfniss des Augenblicks). Insofern schlossen die polynesi-
schen Vorstellungskreise wunderbar eigenartige Geistespro-
ductionen ein, die sich in gleicher Weise auf der Erde nie
wiederholen werden. Auch die Indianer Amerika’s sind
ihrer Naturanlage nach zu tiefsinnigen Mythen und Betrach-
tungen geneigt. Aber bei ihnen war das unruhige Wander-
leben fester Durchbildung von Schulen hinderlich, und ihre
religiösen Bedürfnisse schöpfen in der Hauptsache aus dem
individuellen Lebenstraum, obwohl dann auch hier manchmal
Geheimnisse erlangt werden, die der Eigenthümer hoch genug
im Werthe schätzt, um sie theuer zu verkaufen oder wenig-
stens für sich selbst unter hohem Preis zu valuiren.

Auf den engen Inseln Polynesiens dagegen concentrirte
sich das Denken im gegenseitigen Austausch innerhalb des

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[49/0083] relativ günstigen Verhältnissen) gedacht ist, so dass die Religionsphilosophie unerwartetes Material gewinnt (und weiterhin die psychologische Betrachtung überhaupt). Indem auf den Inseln der Südsee, und anderswo unter gleichartiger Umgebung, die Gedankenbäume in vererbten Traditionen vieler Generationen ungestört fortwuchsen, ent- wickelten sie sich zu solchen Waldriesen, wie wir sie botanisch in Californien oder Australien vorfinden, während sie in unserer unruhigen Vergangenheit längst zerstört sein würden. So gross sie sind, so kommen sie allerdings entfernt nicht an Werth den edlen Fruchtbäumen gleich, die wir gezüchtet, aber dennoch haben sie für Kenntniss der Naturproductionen ein eigenartiges Interesse, das in anderer Weise nicht ge- währt werden könnte. Und Aehnliches gilt für die Natur- stämme im Vergleich zu den Culturvölkern. Gestaltungen, die einer jahrhundertjährigen Entwickelung bedürfen, können selbstverständlich nicht da erwartet werden, wo die Entwickelung nicht bis zu solcher Dauer zu gelangen vermag, und werden ohne dafür gegebene Bedingungen nicht hervorgerufen werden können, (wenn auch vielleicht unter künstlichen Mitteln etwas früher gezeitigt, doch nie nach dem Bedürfniss des Augenblicks). Insofern schlossen die polynesi- schen Vorstellungskreise wunderbar eigenartige Geistespro- ductionen ein, die sich in gleicher Weise auf der Erde nie wiederholen werden. Auch die Indianer Amerika’s sind ihrer Naturanlage nach zu tiefsinnigen Mythen und Betrach- tungen geneigt. Aber bei ihnen war das unruhige Wander- leben fester Durchbildung von Schulen hinderlich, und ihre religiösen Bedürfnisse schöpfen in der Hauptsache aus dem individuellen Lebenstraum, obwohl dann auch hier manchmal Geheimnisse erlangt werden, die der Eigenthümer hoch genug im Werthe schätzt, um sie theuer zu verkaufen oder wenig- stens für sich selbst unter hohem Preis zu valuiren. Auf den engen Inseln Polynesiens dagegen concentrirte sich das Denken im gegenseitigen Austausch innerhalb des Bastian, Völkergedanke. 4

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Zitationshilfe: Bastian, Adolf: Der Völkergedanke im Aufbau einer Wissenschaft vom Menschen. Berlin, 1881, S. 49. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bastian_voelkergedanke_1881/83>, abgerufen am 19.05.2024.