pba_086.001 den unbestrittenen Meister derselben. Und dennoch bleibt Goethe der pba_086.002 gedankenreichste unter allen deutschen Dichtern, ja vielleicht unter den pba_086.003 Dichtern aller Zeiten und Völker! Aber er war nicht nur der gedankenreichste, pba_086.004 er war auch der größte Dichter!
pba_086.005 Und hier zeigt sich abermals die Geltung des Lessingschen Gesetzes, pba_086.006 sobald man es nur als ein rein technisches, formales pba_086.007 auffaßt und dem entsprechend modifiziert: Handlung und pba_086.008 Bewegung sind nicht Gegenstand der Poesie, wohl aber unter allen pba_086.009 Mitteln, die ihr zu Gebote stehen, das der Natur ihres Gegenstandes, pba_086.010 also dem Zwecke der Nachahmung am meisten entsprechende. Wohl pba_086.011 vermochte es demgemäß Schiller, kraft des ihm eigenen feurigen Jdealismus, pba_086.012 auch das bloße Ethos des Gedankens dichterisch auszusprechen, pba_086.013 und Goethe ist ihm darin nicht gleichgekommen; aber diese Gedichte wenden pba_086.014 sich doch nur an den kleinen Kreis der intellektuell so weit entwickelten pba_086.015 Geister, daß sie entweder schon zuvor in dem Schillerschen Gedankenkreise pba_086.016 heimisch geworden sind oder doch anderweitig die Fähigkeit erworben pba_086.017 haben in denselben einzutreten. Seine größten und vor allem pba_086.018 weit verbreitetsten, im vollen Sinne populären Wirkungen erreicht Schiller pba_086.019 doch nur da, wo es ihm gelang seine Gedanken rückwärts wieder in die pba_086.020 lebendige Welt der Situationen und Vorgänge zu übertragen, der sie pba_086.021 ursprünglich entstammen, und durch die Vermittelung der Darstellung pba_086.022 aller derjenigen Züge darin, welche Empfindung und Ethos leicht erregen, pba_086.023 mit diesen zugleich und aus ihnen heraus nun auch den Gedanken pba_086.024 in Thätigkeit zu setzen: so also mittelst desselben Prozesses die pba_086.025 kunstgemäße Nachahmung der mit der Denkthätigkeit verbundenen ethischen pba_086.026 Zustände hervorzubringen, durch den die Mannigfaltigkeit der wirklichen pba_086.027 Erlebnisse dieselben in den bevorzugtesten Seelen anzuregen imstande pba_086.028 war. Solche Gedichte sind "Die Glocke" und "Der Spaziergang"; pba_086.029 und nirgends hat Schiller diese Methode konsequenter und ebenmäßiger pba_086.030 durchgeführt als in dem letzteren, es ist darum als das Muster der pba_086.031 ganzen Gattung der Reflexionspoesie anzuerkennen. Der Satz, daß Nachahmung pba_086.032 eines Ethos der Gegenstand der Nachahmung für diese Art von pba_086.033 Poesie ist, daß ferner die Darstellung von äußeren Situationen und pba_086.034 Vorgängen und der durch diese angeregten Gedanken die dazu aufgewendeten pba_086.035 Mittel sind, kann in keinem Beispiele überzeugender zu Tage treten pba_086.036 als in dieser in jedem Betracht die ganze Gattung überragenden Dichtung. pba_086.037 Für die aufgewandten Mittel liegt dies so klar vor Augen, daß jeder pba_086.038 Nachweis überflüssig ist; ein Mißverstand könnte nur über den Zweck pba_086.039 des Ganzen obwalten. Wer aber, nach einer beliebten Manier, in dem pba_086.040 "Spaziergang" etwa den "Nachweis" des "Satzes" erblicken wollte, daß,
pba_086.001 den unbestrittenen Meister derselben. Und dennoch bleibt Goethe der pba_086.002 gedankenreichste unter allen deutschen Dichtern, ja vielleicht unter den pba_086.003 Dichtern aller Zeiten und Völker! Aber er war nicht nur der gedankenreichste, pba_086.004 er war auch der größte Dichter!
pba_086.005 Und hier zeigt sich abermals die Geltung des Lessingschen Gesetzes, pba_086.006 sobald man es nur als ein rein technisches, formales pba_086.007 auffaßt und dem entsprechend modifiziert: Handlung und pba_086.008 Bewegung sind nicht Gegenstand der Poesie, wohl aber unter allen pba_086.009 Mitteln, die ihr zu Gebote stehen, das der Natur ihres Gegenstandes, pba_086.010 also dem Zwecke der Nachahmung am meisten entsprechende. Wohl pba_086.011 vermochte es demgemäß Schiller, kraft des ihm eigenen feurigen Jdealismus, pba_086.012 auch das bloße Ethos des Gedankens dichterisch auszusprechen, pba_086.013 und Goethe ist ihm darin nicht gleichgekommen; aber diese Gedichte wenden pba_086.014 sich doch nur an den kleinen Kreis der intellektuell so weit entwickelten pba_086.015 Geister, daß sie entweder schon zuvor in dem Schillerschen Gedankenkreise pba_086.016 heimisch geworden sind oder doch anderweitig die Fähigkeit erworben pba_086.017 haben in denselben einzutreten. Seine größten und vor allem pba_086.018 weit verbreitetsten, im vollen Sinne populären Wirkungen erreicht Schiller pba_086.019 doch nur da, wo es ihm gelang seine Gedanken rückwärts wieder in die pba_086.020 lebendige Welt der Situationen und Vorgänge zu übertragen, der sie pba_086.021 ursprünglich entstammen, und durch die Vermittelung der Darstellung pba_086.022 aller derjenigen Züge darin, welche Empfindung und Ethos leicht erregen, pba_086.023 mit diesen zugleich und aus ihnen heraus nun auch den Gedanken pba_086.024 in Thätigkeit zu setzen: so also mittelst desselben Prozesses die pba_086.025 kunstgemäße Nachahmung der mit der Denkthätigkeit verbundenen ethischen pba_086.026 Zustände hervorzubringen, durch den die Mannigfaltigkeit der wirklichen pba_086.027 Erlebnisse dieselben in den bevorzugtesten Seelen anzuregen imstande pba_086.028 war. Solche Gedichte sind „Die Glocke“ und „Der Spaziergang“; pba_086.029 und nirgends hat Schiller diese Methode konsequenter und ebenmäßiger pba_086.030 durchgeführt als in dem letzteren, es ist darum als das Muster der pba_086.031 ganzen Gattung der Reflexionspoesie anzuerkennen. Der Satz, daß Nachahmung pba_086.032 eines Ethos der Gegenstand der Nachahmung für diese Art von pba_086.033 Poesie ist, daß ferner die Darstellung von äußeren Situationen und pba_086.034 Vorgängen und der durch diese angeregten Gedanken die dazu aufgewendeten pba_086.035 Mittel sind, kann in keinem Beispiele überzeugender zu Tage treten pba_086.036 als in dieser in jedem Betracht die ganze Gattung überragenden Dichtung. pba_086.037 Für die aufgewandten Mittel liegt dies so klar vor Augen, daß jeder pba_086.038 Nachweis überflüssig ist; ein Mißverstand könnte nur über den Zweck pba_086.039 des Ganzen obwalten. Wer aber, nach einer beliebten Manier, in dem pba_086.040 „Spaziergang“ etwa den „Nachweis“ des „Satzes“ erblicken wollte, daß,
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den unbestrittenen Meister derselben. Und dennoch bleibt Goethe der pba_086.002
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er war auch der größte Dichter!
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„Spaziergang“ etwa den „Nachweis“ des „Satzes“ erblicken wollte, daß,
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Baumgart, Hermann: Handbuch der Poetik. Eine kritisch-theoretische Darstellung der Theorie der Dichtkunst. Stuttgart, 1887, S. 86. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/baumgart_poetik_1887/104>, abgerufen am 22.11.2024.
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