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Baumgart, Hermann: Handbuch der Poetik. Eine kritisch-theoretische Darstellung der Theorie der Dichtkunst. Stuttgart, 1887.

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Aber selbst in ihnen ist jene Form, wenn auch fast verschwindend, wenigstens pba_139.002
noch zu erkennen. Umgekehrt hat die gnomisch-didaktische Spruchdichtung pba_139.003
die entschiedene Neigung, überall sich der epigrammatischen Form anzunähern, pba_139.004
dem Gedanken durch den Gegensatz von Erwartung und Aufschluß pba_139.005
Gestalt zu verleihen; sehr zahlreiche Stellen, z. B. in Freidanks pba_139.006
"Bescheidenheit", können geradezu für Epigramme gelten:

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Suln ketzer, juden, heiden, pba_139.008
von Gote sein gescheiden, pba_139.009
so hat der tiuwel daz groezer her, pba_139.010
ezn sei, daz uns genade erner.
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ebenso das unmittelbar folgende:

pba_139.012
Eeines dinges han ich grozen neit, pba_139.013
daz Got geleiche weter geit pba_139.014
kristen, juden, heiden: pba_139.015
der keinz ist auz gescheiden.
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Mitunter bestehen ausgedehnte Stellen bei Freidank aus einer ununterbrochenen pba_139.017
Reihe einzelner Epigramme, so in dem Abschnitt: "Von Rome":

pba_139.018
Swer lebet in des babstes gebote, pba_139.019
derst sünden ledic hin ze Gote. pba_139.020
Der babest ist ein irdisch Got, pba_139.021
Und ist doch dicke der Romaer spot. pba_139.022
Ze Rome ist sbabstes ere kranc: pba_139.023
in vremediu lant gat sein getwanc. pba_139.024
Sein hof vil dicke wüeste stat, pba_139.025
so er niht vremeder toren hat. pba_139.026
Swenne alle krümbe werden sleht, pba_139.027
so vindet man ze Rome reht.
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Und so fort! Auch die Form der priamel findet sich bei ihm, welche pba_139.029
im späteren Mittelalter durch einige Dichter und im Volksmunde zu pba_139.030
selbständiger Ausbildung gelangte; sie ist eine Variante der epigrammatischen pba_139.031
Gattung, bei welcher der erste Teil statt aus einem einzigen pba_139.032
Satz aus einer Häufung von die Erwartung spannenden, gleichartigen pba_139.033
Vordersätzen besteht, die alle ein und denselben, immer in äußerster Kürze pba_139.034
ausgesprochenen, Aufschluß finden, so daß mitunter ein jeder dieser pba_139.035
Vordersätze mit dem Schlußsatz verbunden ein Epigramm darstellen würde. pba_139.036
So in dem folgenden Beispiel aus dem fünfzehnten Jahrhundert:

pba_139.037
Kommt kunst gegangen vor ein haus, pba_139.038
so sagt man ihr, der wirt sei aus; pba_139.039
kommt weisheit auch gezogen dafür, pba_139.040
so findt sie zugeschlossen die thür;
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Aber selbst in ihnen ist jene Form, wenn auch fast verschwindend, wenigstens pba_139.002
noch zu erkennen. Umgekehrt hat die gnomisch-didaktische Spruchdichtung pba_139.003
die entschiedene Neigung, überall sich der epigrammatischen Form anzunähern, pba_139.004
dem Gedanken durch den Gegensatz von Erwartung und Aufschluß pba_139.005
Gestalt zu verleihen; sehr zahlreiche Stellen, z. B. in Freidanks pba_139.006
Bescheidenheit“, können geradezu für Epigramme gelten:

pba_139.007
Suln ketzer, juden, heiden, pba_139.008
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so hât der tiuwel daz groezer her, pba_139.010
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kristen, juden, heiden: pba_139.015
der keinz ist ûz gescheiden.
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Mitunter bestehen ausgedehnte Stellen bei Freidank aus einer ununterbrochenen pba_139.017
Reihe einzelner Epigramme, so in dem Abschnitt: „Von Rôme“:

pba_139.018
Swer lebet in des bâbstes gebote, pba_139.019
derst sünden ledic hin ze Gote. pba_139.020
Der bâbest ist ein irdisch Got, pba_139.021
Und ist doch dicke der Rômaer spot. pba_139.022
Ze Rôme ist sbâbstes êre kranc: pba_139.023
in vremediu lant gât sîn getwanc. pba_139.024
Sîn hof vil dicke wüeste stât, pba_139.025
sô er niht vremeder tôren hât. pba_139.026
Swenne alle krümbe werden sleht, pba_139.027
sô vindet man ze Rôme reht.
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Und so fort! Auch die Form der priamel findet sich bei ihm, welche pba_139.029
im späteren Mittelalter durch einige Dichter und im Volksmunde zu pba_139.030
selbständiger Ausbildung gelangte; sie ist eine Variante der epigrammatischen pba_139.031
Gattung, bei welcher der erste Teil statt aus einem einzigen pba_139.032
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pba_139.037
Kommt kunst gegangen vor ein haus, pba_139.038
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[139/0157] pba_139.001 Aber selbst in ihnen ist jene Form, wenn auch fast verschwindend, wenigstens pba_139.002 noch zu erkennen. Umgekehrt hat die gnomisch-didaktische Spruchdichtung pba_139.003 die entschiedene Neigung, überall sich der epigrammatischen Form anzunähern, pba_139.004 dem Gedanken durch den Gegensatz von Erwartung und Aufschluß pba_139.005 Gestalt zu verleihen; sehr zahlreiche Stellen, z. B. in Freidanks pba_139.006 „Bescheidenheit“, können geradezu für Epigramme gelten: pba_139.007 Suln ketzer, juden, heiden, pba_139.008 von Gote sîn gescheiden, pba_139.009 so hât der tiuwel daz groezer her, pba_139.010 ezn sî, daz uns genâde erner. pba_139.011 ebenso das unmittelbar folgende: pba_139.012 Eînes dinges hân ich grôzen nît, pba_139.013 daz Got gelîche weter gît pba_139.014 kristen, juden, heiden: pba_139.015 der keinz ist ûz gescheiden. pba_139.016 Mitunter bestehen ausgedehnte Stellen bei Freidank aus einer ununterbrochenen pba_139.017 Reihe einzelner Epigramme, so in dem Abschnitt: „Von Rôme“: pba_139.018 Swer lebet in des bâbstes gebote, pba_139.019 derst sünden ledic hin ze Gote. pba_139.020 Der bâbest ist ein irdisch Got, pba_139.021 Und ist doch dicke der Rômaer spot. pba_139.022 Ze Rôme ist sbâbstes êre kranc: pba_139.023 in vremediu lant gât sîn getwanc. pba_139.024 Sîn hof vil dicke wüeste stât, pba_139.025 sô er niht vremeder tôren hât. pba_139.026 Swenne alle krümbe werden sleht, pba_139.027 sô vindet man ze Rôme reht. pba_139.028 Und so fort! Auch die Form der priamel findet sich bei ihm, welche pba_139.029 im späteren Mittelalter durch einige Dichter und im Volksmunde zu pba_139.030 selbständiger Ausbildung gelangte; sie ist eine Variante der epigrammatischen pba_139.031 Gattung, bei welcher der erste Teil statt aus einem einzigen pba_139.032 Satz aus einer Häufung von die Erwartung spannenden, gleichartigen pba_139.033 Vordersätzen besteht, die alle ein und denselben, immer in äußerster Kürze pba_139.034 ausgesprochenen, Aufschluß finden, so daß mitunter ein jeder dieser pba_139.035 Vordersätze mit dem Schlußsatz verbunden ein Epigramm darstellen würde. pba_139.036 So in dem folgenden Beispiel aus dem fünfzehnten Jahrhundert: pba_139.037 Kommt kunst gegangen vor ein haus, pba_139.038 so sagt man ihr, der wirt sei aus; pba_139.039 kommt weisheit auch gezogen dafür, pba_139.040 so findt sie zugeschlossen die thür;

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Zitationshilfe: Baumgart, Hermann: Handbuch der Poetik. Eine kritisch-theoretische Darstellung der Theorie der Dichtkunst. Stuttgart, 1887, S. 139. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/baumgart_poetik_1887/157>, abgerufen am 24.11.2024.