pba_275.001 Nicht also die Forderung eines moralischen Läuterungsprozesses pba_275.002 in dem Zuhörer enthält diese vielberufene Katharsis, pba_275.003 sondern das rein technische Kompositionsgesetz: das Schicksal pba_275.004 in seiner reinen und wahren Gestalt der Anschauung vorzuführen, pba_275.005 damit die reine und der Wahrheit der Dinge pba_275.006 entsprechende Empfindung dadurch geweckt werden könne pba_275.007 und müsse.
pba_275.008 Diese allgemeinen Bestimmungen mögen hier genügen, das Genauere pba_275.009 über die Empfindungen der Furcht und des Mitleids, über ihr Wechselverhältnis pba_275.010 und die Katharsis wird seine Stelle in dem Abschnitt finden, pba_275.011 der speziell von der Tragödie handelt, die wegen ihrer kunstvoll begrenzten pba_275.012 Form nach allen diesen Richtungen einer sehr detaillierten Gesetzgebung pba_275.013 bedarf. Die epische Darstellung bewegt sich in jeder Beziehung pba_275.014 freier: sie kann sich beliebig weit ausdehnen, sofern sie nur als Ganzes pba_275.015 übersichtlich bleibt, sie ist nicht an einen begrenzten Zeitraum der dargestellten pba_275.016 Handlung, innerhalb dessen stetiges Fortschreiten erforderlich ist, pba_275.017 gebunden, sondern kann beliebig zurück- und vorgreifen, sie wechselt nach pba_275.018 Bedürfnis den Ort und kann auch gleichzeitig Geschehendes nach Gefallen pba_275.019 vorführen, sie vermag die Haupthandlung durch Neben- und pba_275.020 Zwischenhandlungen zu unterstützen, zu erweitern und schmuckvoll zu pba_275.021 bereichern.
pba_275.022 So höchst wesentlich aber alle diese Verschiedenheiten von der pba_275.023 Tragödie sind, so steht sie in der Hauptsache -- was das Nachahmungsobjekt pba_275.024 und den Nachahmungszweck betrifft -- doch mit ihr auf einem pba_275.025 und demselben Boden, nur die Art der Nachahmung, durch Erzählung pba_275.026 statt durch handelnde Personen, ist verschieden, und aus ihr entspringen pba_275.027 alle die genannten Differenzen.
pba_275.028 Die verschiedenen Arten des heroischen Epos werden sich demnach pba_275.029 aus dem verschiedenen Anteil, welcher den die heroisch-tragische Gattung pba_275.030 konstituierenden Elementen gewährt ist, und aus der Art dieses Anteils pba_275.031 bestimmen lassen.
pba_275.032 Jm Vordergrunde steht das Element des Verderblichen und pba_275.033 Schmerzlichen der Handlung (des phthartikon und oduneron), welches pba_275.034 nicht entbehrt werden kann. Der Ausgang der Handlung ist darnach pba_275.035 entweder schlechthin unglücklich wie in der Jlias und den Nibelungen, pba_275.036 oder gemischt,1 so daß die Bösen verderben, die Guten glücklich pba_275.037 werden, wie in der Odyssee und der Gudrun; ein rein glücklicher pba_275.038 Ausgang, wie er für die Tragödie durch eine äußerst kunstreiche Fügung
1pba_275.039 Vgl. Aristoteles, Poet. Kap. 13.
pba_275.001 Nicht also die Forderung eines moralischen Läuterungsprozesses pba_275.002 in dem Zuhörer enthält diese vielberufene Katharsis, pba_275.003 sondern das rein technische Kompositionsgesetz: das Schicksal pba_275.004 in seiner reinen und wahren Gestalt der Anschauung vorzuführen, pba_275.005 damit die reine und der Wahrheit der Dinge pba_275.006 entsprechende Empfindung dadurch geweckt werden könne pba_275.007 und müsse.
pba_275.008 Diese allgemeinen Bestimmungen mögen hier genügen, das Genauere pba_275.009 über die Empfindungen der Furcht und des Mitleids, über ihr Wechselverhältnis pba_275.010 und die Katharsis wird seine Stelle in dem Abschnitt finden, pba_275.011 der speziell von der Tragödie handelt, die wegen ihrer kunstvoll begrenzten pba_275.012 Form nach allen diesen Richtungen einer sehr detaillierten Gesetzgebung pba_275.013 bedarf. Die epische Darstellung bewegt sich in jeder Beziehung pba_275.014 freier: sie kann sich beliebig weit ausdehnen, sofern sie nur als Ganzes pba_275.015 übersichtlich bleibt, sie ist nicht an einen begrenzten Zeitraum der dargestellten pba_275.016 Handlung, innerhalb dessen stetiges Fortschreiten erforderlich ist, pba_275.017 gebunden, sondern kann beliebig zurück- und vorgreifen, sie wechselt nach pba_275.018 Bedürfnis den Ort und kann auch gleichzeitig Geschehendes nach Gefallen pba_275.019 vorführen, sie vermag die Haupthandlung durch Neben- und pba_275.020 Zwischenhandlungen zu unterstützen, zu erweitern und schmuckvoll zu pba_275.021 bereichern.
pba_275.022 So höchst wesentlich aber alle diese Verschiedenheiten von der pba_275.023 Tragödie sind, so steht sie in der Hauptsache — was das Nachahmungsobjekt pba_275.024 und den Nachahmungszweck betrifft — doch mit ihr auf einem pba_275.025 und demselben Boden, nur die Art der Nachahmung, durch Erzählung pba_275.026 statt durch handelnde Personen, ist verschieden, und aus ihr entspringen pba_275.027 alle die genannten Differenzen.
pba_275.028 Die verschiedenen Arten des heroischen Epos werden sich demnach pba_275.029 aus dem verschiedenen Anteil, welcher den die heroisch-tragische Gattung pba_275.030 konstituierenden Elementen gewährt ist, und aus der Art dieses Anteils pba_275.031 bestimmen lassen.
pba_275.032 Jm Vordergrunde steht das Element des Verderblichen und pba_275.033 Schmerzlichen der Handlung (des φθαρτικόν und ὀδυνηρόν), welches pba_275.034 nicht entbehrt werden kann. Der Ausgang der Handlung ist darnach pba_275.035 entweder schlechthin unglücklich wie in der Jlias und den Nibelungen, pba_275.036 oder gemischt,1 so daß die Bösen verderben, die Guten glücklich pba_275.037 werden, wie in der Odyssee und der Gudrun; ein rein glücklicher pba_275.038 Ausgang, wie er für die Tragödie durch eine äußerst kunstreiche Fügung
1pba_275.039 Vgl. Aristoteles, Poet. Kap. 13.
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Nicht also die Forderung eines moralischen Läuterungsprozesses pba_275.002
in dem Zuhörer enthält diese vielberufene Katharsis, pba_275.003
sondern das rein technische Kompositionsgesetz: das Schicksal pba_275.004
in seiner reinen und wahren Gestalt der Anschauung vorzuführen, pba_275.005
damit die reine und der Wahrheit der Dinge pba_275.006
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pba_275.008
Diese allgemeinen Bestimmungen mögen hier genügen, das Genauere pba_275.009
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und die Katharsis wird seine Stelle in dem Abschnitt finden, pba_275.011
der speziell von der Tragödie handelt, die wegen ihrer kunstvoll begrenzten pba_275.012
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pba_275.028
Die verschiedenen Arten des heroischen Epos werden sich demnach pba_275.029
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pba_275.032
Jm Vordergrunde steht das Element des Verderblichen und pba_275.033
Schmerzlichen der Handlung (des φθαρτικόν und ὀδυνηρόν), welches pba_275.034
nicht entbehrt werden kann. Der Ausgang der Handlung ist darnach pba_275.035
entweder schlechthin unglücklich wie in der Jlias und den Nibelungen, pba_275.036
oder gemischt, 1 so daß die Bösen verderben, die Guten glücklich pba_275.037
werden, wie in der Odyssee und der Gudrun; ein rein glücklicher pba_275.038
Ausgang, wie er für die Tragödie durch eine äußerst kunstreiche Fügung
1 pba_275.039
Vgl. Aristoteles, Poet. Kap. 13.
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Baumgart, Hermann: Handbuch der Poetik. Eine kritisch-theoretische Darstellung der Theorie der Dichtkunst. Stuttgart, 1887, S. 275. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/baumgart_poetik_1887/293>, abgerufen am 22.11.2024.
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