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Baumgart, Hermann: Handbuch der Poetik. Eine kritisch-theoretische Darstellung der Theorie der Dichtkunst. Stuttgart, 1887.

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Erfordernis; außerdem ist es ebenso erforderlich, das Maß ihrer Einsicht, pba_344.002
Klugheit, Besonnenheit wahrnehmbar zu machen; ihre Denkweise, Ansichten pba_344.003
über alle in ihrem Lebenskreise bedeutsam in Betracht kommenden pba_344.004
Dinge: neben dem Pathos und Ethos also die Dianoia. Hiezu pba_344.005
hat die Erzählung vor allem das Mittel in jedem Augenblick beliebig pba_344.006
weit nach rückwärts greifen zu können, unter Umständen auch pba_344.007
ebenso in die Zukunft,
ein Verfahren, von dem das Drama nur pba_344.008
höchst eingeschränkten Gebrauch machen kann. Ferner steht der epischen pba_344.009
Nachahmung die unbegrenzte Anwendung von Neben- und Zwischenhandlungen pba_344.010
zu allen diesen Zwecken zu Gebote, die gleichfalls im pba_344.011
Drama einzig und allein gestattet sind, sofern sie unmittelbar dem pba_344.012
Fortschreiten der einen Haupthandlung dienen. Wenn die dramatische pba_344.013
Handlung, einmal begonnen, unaufhaltsam zum Ziele eilt, so liebt das pba_344.014
Epos die sogenannten retardierenden Momente: nicht auf schnellen pba_344.015
Vollzug des Schicksals kommt es an, sondern auf größeste Vollständigkeit pba_344.016
in der Breite. Da nun der Einzelne immer in seinen Beziehungen zum pba_344.017
Ganzen gezeigt wird, diese also von irgend einer Seite her mitwirkend pba_344.018
in die Handlung eintreten, so ist im Epos der Prozeß gleichsam des pba_344.019
Wachsens und Reifens des Schicksals notwendig ein langsamerer, der pba_344.020
reichere und kompliziertere Organismen erfordert, um bis in seine intimsten pba_344.021
Verzweigungen wahrgenommen und aufgefaßt zu werden, zahlreiche pba_344.022
Momente scheinbaren Stillstandes der Fortschreitung, in denen die pba_344.023
Pflanze um so mehr sich kräftigt, oder ohne Bild gesprochen, in denen pba_344.024
um so tieferer Aufschluß über das Wesen und Walten des Schicksals pba_344.025
und der dazu wirkenden Faktoren gewonnen wird.

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Für alles dieses genügt es, um ein klassisches Beispiel vor Augen pba_344.027
zu stellen, nur mit einem Wort der Odyssee zu erwähnen.

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Die Handlung ist die Rückkehr des Odysseus zur Bestrafung der pba_344.029
Freier: der weit überwiegende Teil des Gedichtes wird durch die für pba_344.030
das vollständige Verständnis dieser Handlung erforderlichen Retrospektiven, pba_344.031
Neben- und Zwischenhandlungen und unaufhörlichen Retardationen eingenommen. pba_344.032
Diese Handlung ist deswegen eine für das Epos so ungemein pba_344.033
günstige, der echte Typus episch dargestellten Schicksalswaltens, pba_344.034
weil alle diese Arten von Retardationen in der Natur der Handelnden pba_344.035
und ihrer Situationen mit Notwendigkeit gegeben sind: Jrrfahrten und pba_344.036
Mühsale, die den Helden bei seiner Rückkehr umhertreiben, Listen der pba_344.037
Freier um diese selbst und die Bemühungen des Sohnes für dieselbe pba_344.038
zu hintertreiben, die Treue der Gemahlin, die die Bewerbungen der pba_344.039
Freier hinzuhalten bestrebt ist, die Klugheit des Helden, die alle Mühsale pba_344.040
überwindet und den Vollzug der Rache bis zum rechten Moment verschiebt.

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Erfordernis; außerdem ist es ebenso erforderlich, das Maß ihrer Einsicht, pba_344.002
Klugheit, Besonnenheit wahrnehmbar zu machen; ihre Denkweise, Ansichten pba_344.003
über alle in ihrem Lebenskreise bedeutsam in Betracht kommenden pba_344.004
Dinge: neben dem Pathos und Ethos also die Dianoia. Hiezu pba_344.005
hat die Erzählung vor allem das Mittel in jedem Augenblick beliebig pba_344.006
weit nach rückwärts greifen zu können, unter Umständen auch pba_344.007
ebenso in die Zukunft,
ein Verfahren, von dem das Drama nur pba_344.008
höchst eingeschränkten Gebrauch machen kann. Ferner steht der epischen pba_344.009
Nachahmung die unbegrenzte Anwendung von Neben- und Zwischenhandlungen pba_344.010
zu allen diesen Zwecken zu Gebote, die gleichfalls im pba_344.011
Drama einzig und allein gestattet sind, sofern sie unmittelbar dem pba_344.012
Fortschreiten der einen Haupthandlung dienen. Wenn die dramatische pba_344.013
Handlung, einmal begonnen, unaufhaltsam zum Ziele eilt, so liebt das pba_344.014
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Vollzug des Schicksals kommt es an, sondern auf größeste Vollständigkeit pba_344.016
in der Breite. Da nun der Einzelne immer in seinen Beziehungen zum pba_344.017
Ganzen gezeigt wird, diese also von irgend einer Seite her mitwirkend pba_344.018
in die Handlung eintreten, so ist im Epos der Prozeß gleichsam des pba_344.019
Wachsens und Reifens des Schicksals notwendig ein langsamerer, der pba_344.020
reichere und kompliziertere Organismen erfordert, um bis in seine intimsten pba_344.021
Verzweigungen wahrgenommen und aufgefaßt zu werden, zahlreiche pba_344.022
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Pflanze um so mehr sich kräftigt, oder ohne Bild gesprochen, in denen pba_344.024
um so tieferer Aufschluß über das Wesen und Walten des Schicksals pba_344.025
und der dazu wirkenden Faktoren gewonnen wird.

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Für alles dieses genügt es, um ein klassisches Beispiel vor Augen pba_344.027
zu stellen, nur mit einem Wort der Odyssee zu erwähnen.

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Die Handlung ist die Rückkehr des Odysseus zur Bestrafung der pba_344.029
Freier: der weit überwiegende Teil des Gedichtes wird durch die für pba_344.030
das vollständige Verständnis dieser Handlung erforderlichen Retrospektiven, pba_344.031
Neben- und Zwischenhandlungen und unaufhörlichen Retardationen eingenommen. pba_344.032
Diese Handlung ist deswegen eine für das Epos so ungemein pba_344.033
günstige, der echte Typus episch dargestellten Schicksalswaltens, pba_344.034
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Freier um diese selbst und die Bemühungen des Sohnes für dieselbe pba_344.038
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Zitationshilfe: Baumgart, Hermann: Handbuch der Poetik. Eine kritisch-theoretische Darstellung der Theorie der Dichtkunst. Stuttgart, 1887, S. 344. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/baumgart_poetik_1887/362>, abgerufen am 22.11.2024.