pba_437.001 ekstatisch-orgiastische Sollicitation von Mitleid und Furcht "die Seelen pba_437.002 der Zuschauer erleichternd von diesen Affekten entladen pba_437.003 würden", also erst recht auf eine "entfernte", das Kunstwerk an sich pba_437.004 weiter nichts angehende "Wirkung". Zu alledem wäre nach ihm die pba_437.005 Forderung der Katharsis für die Definition der Tragödie, weit entfernt pba_437.006 ihr wesentlichstes Glied zu sein, vielmehr ein überflüssiges und daher pba_437.007 fehlerhaftes Anhängsel. Es ist ja doch klar, daß dieser Zusatz nicht pba_437.008 das Geringste daran ändern würde, daß das Wesen der Tragödie pba_437.009 eben lediglich in die Nachahmung einer die Furcht und das Mitleid pba_437.010 aufregenden Handlung gesetzt wäre; daß eine solche dann die von pba_437.011 Bernays definierte Wirkung zu äußern imstande wäre, würde doch zu pba_437.012 ihrer Wesensbestimmung nichts weiter beitragen, dem Dichter für sein pba_437.013 Verfahren nicht den leisesten Wink an die Hand geben. Zu dem Rezept pba_437.014 eines Purgationsmittels gehört nur die Angabe der den betreffenden pba_437.015 Reiz ausübenden Jngredienzien, keineswegs aber die Angabe der ihrer pba_437.016 Natur nach notwendig durch ihre Mischung hervorgebrachten Wirkung. pba_437.017 Zu diesen beiden Fehlern verfällt Bernays auch noch in den dritten, pba_437.018 daß er für die Zuhörer des tragischen Kunstwerks eine bestimmte und pba_437.019 zwar fehlerhafte Beschaffenheit voraussetzt, die sie aus dem Leben mitbringen, pba_437.020 auf deren Fortschaffung die Tragödie bedacht und zu welchem pba_437.021 Zwecke sie erfunden sein soll.
pba_437.022 Daß diese irrige Ansicht immer noch wieder Anhänger gefunden pba_437.023 hat, ist lediglich der Geschicklichkeit zuzuschreiben, mit welcher Bernays pba_437.024 den philologischen Apparat in der Frage zu Gunsten derselben zu pba_437.025 gruppieren verstanden hat; sehr einsichtsvolle Leute, die aber, eben um pba_437.026 dieses Umstandes willen, sich der Mühe überhoben geglaubt haben, hier pba_437.027 selbst zu prüfen, haben sich deshalb seiner Beweisführung gefangen gegeben: pba_437.028 nicht als ob sie nun, wie er, überzeugt wären, daß dies die richtige pba_437.029 Definition der Tragödie überhaupt sei, sondern daß Aristoteles sie dafür pba_437.030 gehalten habe.
pba_437.031 Es ist bei der ganzen Kontroverse übersehen worden, daß der Ausdruck pba_437.032 "Katharsis" doch nur vergleichsweise auf das psychologische Gebiet pba_437.033 übertragen ist. Es ist einer der schlimmsten Fehler, einen Vergleichpba_437.034 buchstäblich zu nehmen, der immer nur ein Ähnlichkeitsverhältnis, nicht pba_437.035 völlige Gleichheit bezeichnen will. Die Pathe oder die Empfindungen pba_437.036 der Furcht und des Mitleids sind kein gleichartiger Stoff, wie das Blut pba_437.037 oder die Galle, von dem ein überschüssiges Quantum ausgeschieden pba_437.038 werden kann, sie sind daher auch nicht mit diesen in Vergleich gestellt, pba_437.039 sondern mit denjenigen physiologischen Organen oder denjenigen pba_437.040 Körperteilen, an welchen durch Ausscheidung eines
pba_437.001 ekstatisch-orgiastische Sollicitation von Mitleid und Furcht „die Seelen pba_437.002 der Zuschauer erleichternd von diesen Affekten entladen pba_437.003 würden“, also erst recht auf eine „entfernte“, das Kunstwerk an sich pba_437.004 weiter nichts angehende „Wirkung“. Zu alledem wäre nach ihm die pba_437.005 Forderung der Katharsis für die Definition der Tragödie, weit entfernt pba_437.006 ihr wesentlichstes Glied zu sein, vielmehr ein überflüssiges und daher pba_437.007 fehlerhaftes Anhängsel. Es ist ja doch klar, daß dieser Zusatz nicht pba_437.008 das Geringste daran ändern würde, daß das Wesen der Tragödie pba_437.009 eben lediglich in die Nachahmung einer die Furcht und das Mitleid pba_437.010 aufregenden Handlung gesetzt wäre; daß eine solche dann die von pba_437.011 Bernays definierte Wirkung zu äußern imstande wäre, würde doch zu pba_437.012 ihrer Wesensbestimmung nichts weiter beitragen, dem Dichter für sein pba_437.013 Verfahren nicht den leisesten Wink an die Hand geben. Zu dem Rezept pba_437.014 eines Purgationsmittels gehört nur die Angabe der den betreffenden pba_437.015 Reiz ausübenden Jngredienzien, keineswegs aber die Angabe der ihrer pba_437.016 Natur nach notwendig durch ihre Mischung hervorgebrachten Wirkung. pba_437.017 Zu diesen beiden Fehlern verfällt Bernays auch noch in den dritten, pba_437.018 daß er für die Zuhörer des tragischen Kunstwerks eine bestimmte und pba_437.019 zwar fehlerhafte Beschaffenheit voraussetzt, die sie aus dem Leben mitbringen, pba_437.020 auf deren Fortschaffung die Tragödie bedacht und zu welchem pba_437.021 Zwecke sie erfunden sein soll.
pba_437.022 Daß diese irrige Ansicht immer noch wieder Anhänger gefunden pba_437.023 hat, ist lediglich der Geschicklichkeit zuzuschreiben, mit welcher Bernays pba_437.024 den philologischen Apparat in der Frage zu Gunsten derselben zu pba_437.025 gruppieren verstanden hat; sehr einsichtsvolle Leute, die aber, eben um pba_437.026 dieses Umstandes willen, sich der Mühe überhoben geglaubt haben, hier pba_437.027 selbst zu prüfen, haben sich deshalb seiner Beweisführung gefangen gegeben: pba_437.028 nicht als ob sie nun, wie er, überzeugt wären, daß dies die richtige pba_437.029 Definition der Tragödie überhaupt sei, sondern daß Aristoteles sie dafür pba_437.030 gehalten habe.
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ekstatisch-orgiastische Sollicitation von Mitleid und Furcht „die Seelen pba_437.002
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Baumgart, Hermann: Handbuch der Poetik. Eine kritisch-theoretische Darstellung der Theorie der Dichtkunst. Stuttgart, 1887, S. 437. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/baumgart_poetik_1887/455>, abgerufen am 22.11.2024.
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