Baumgart, Hermann: Handbuch der Poetik. Eine kritisch-theoretische Darstellung der Theorie der Dichtkunst. Stuttgart, 1887.
pba_440.001 pba_440.008 pba_440.023 1 pba_440.033
Vgl. hierzu den oben citierten Aufsatz des Verfassers in Fleckeisens Jahrb. pba_440.034 für klass. Phil., 1875, S. 96 ff. Jn demselben Sinne sagt Proklos von den Schauspielen, pba_440.035 daß sie die Möglichkeit gewährten: emmetros apopimplanai ta pathe kai pba_440.036 apoplesantas energa pros ten paideian ekhein (1486a 31), d. h. also: "daß man pba_440.037 durch die Schauspiele in den Stand gesetzt werde, den Empfindungen im rechten pba_440.038 Maße Spielraum zu gewähren und sie solcherweise für die sittliche Bildung in pba_440.039 Thätigkeit zu erhalten." Also nicht solle man "von ihnen entladen" werden, pba_440.040 sondern sie sollen in der rechten Weise erregt und lebendig erhalten werden!
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Vgl. hierzu den oben citierten Aufsatz des Verfassers in Fleckeisens Jahrb. pba_440.034 für klass. Phil., 1875, S. 96 ff. Jn demselben Sinne sagt Proklos von den Schauspielen, pba_440.035 daß sie die Möglichkeit gewährten: ἐμμέτρως ἀποπιμπλάναι τὰ πάθη καὶ pba_440.036 ἀποπλήσαντας ἐνεργὰ πρὸς τὴν παιδείαν ἔχειν (1486a 31), d. h. also: „daß man pba_440.037 durch die Schauspiele in den Stand gesetzt werde, den Empfindungen im rechten pba_440.038 Maße Spielraum zu gewähren und sie solcherweise für die sittliche Bildung in pba_440.039 Thätigkeit zu erhalten.“ Also nicht solle man „von ihnen entladen“ werden, pba_440.040 sondern sie sollen in der rechten Weise erregt und lebendig erhalten werden! <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><hi rendition="#g"><pb facs="#f0458" n="440"/><lb n="pba_440.001"/> lage, Komposition und Abschluß es die Kraft erhalte, das</hi><lb n="pba_440.002"/> in seinem Verlauf <hi rendition="#g">unvermeidlich</hi> hier und dort erzeugte <hi rendition="#g">Übermaß</hi> <lb n="pba_440.003"/> der einen und der andern tragischen Empfindung <hi rendition="#g">durch seine Gesamtwirkung <lb n="pba_440.004"/> hinwegzuläutern, die Schicksalsempfindungen <lb n="pba_440.005"/> davon befreiend zu entlasten,</hi> dem Hörer somit die <hi rendition="#g">Möglichkeit, <lb n="pba_440.006"/> Bereitschaft</hi> (<foreign xml:lang="grc">δύναμις</foreign>) herzustellen, daß er der <hi rendition="#g">reinen</hi> Schicksalsempfindungen <lb n="pba_440.007"/> <hi rendition="#g">sich erfreue.</hi></p> <p><lb n="pba_440.008"/> Ein späterer Gegner des Aristoteles, den wunderlicherweise Bernays <lb n="pba_440.009"/> als Zeugen für seine Theorie heranzieht, der Neuplatoniker <hi rendition="#g">Proklos,</hi> <lb n="pba_440.010"/> hat für diese Wirkung der Tragödie, also für die Katharsis, den synonymen <lb n="pba_440.011"/> Ausdruck: <foreign xml:lang="grc">τὰς κινήσεις τῶν παθῶν <hi rendition="#g">ἐμμελῶς ἀναστέλλειν</hi></foreign> <lb n="pba_440.012"/> d. h. „die Bewegungen der betreffenden Empfindungen in harmonischer <lb n="pba_440.013"/> Weise herabmindern, zur Harmonie zurückführen“. Und zu noch <lb n="pba_440.014"/> stärkerer Bestätigung: Proklos wandte für die aristotelische Katharsis <lb n="pba_440.015"/> als <hi rendition="#g">gleichbedeutend</hi> einerseits den stärkeren Ausdruck <foreign xml:lang="grc">ἀπέρασις</foreign> an <lb n="pba_440.016"/> — <foreign xml:lang="grc">διαμηχανᾶσδαι τῶν παθῶν τούτων <hi rendition="#g">ἀπεράσεις</hi> τινάς</foreign> d. h. <lb n="pba_440.017"/> „für gewisse Mittel sorgen, die diesen Empfindungen <hi rendition="#g">bei Überladung <lb n="pba_440.018"/> Abhülfe schaffen</hi>“ — andererseits den milderen <foreign xml:lang="grc">ἀφοσίωσις</foreign> = <hi rendition="#g">ihnen <lb n="pba_440.019"/> beschwichtigend gerecht werden</hi>“; zur Erklärung beider aber fügt <lb n="pba_440.020"/> er hinzu: <foreign xml:lang="grc">αἱ ἀφοσιώσεις οὐκ ἐν ὑπερβολαῖς εἰσὶν, ἀλλ' ἐν</foreign> <foreign xml:lang="grc">συνεσταλμέναις</foreign> <lb n="pba_440.021"/> <foreign xml:lang="grc">ἐνεργείαις</foreign> = „solche Beschwichtigung liegt <hi rendition="#g">nicht in ihrem <lb n="pba_440.022"/> Übermaß,</hi> sondern <hi rendition="#g">in der Einschränkung</hi> ihrer Bethätigungen“.<note xml:id="pba_440_1" place="foot" n="1"><lb n="pba_440.033"/> Vgl. hierzu den oben citierten Aufsatz des Verfassers in Fleckeisens Jahrb. <lb n="pba_440.034"/> für klass. 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Jn demselben Sinne sagt Proklos von den Schauspielen, <lb n="pba_440.035"/> daß sie die Möglichkeit gewährten: <foreign xml:lang="grc"><hi rendition="#g">ἐμμέτρως</hi> ἀποπιμπλάναι τὰ πάθη καὶ</foreign> <lb n="pba_440.036"/> <foreign xml:lang="grc">ἀποπλήσαντας <hi rendition="#g">ἐνεργὰ</hi> πρὸς τὴν παιδείαν ἔχειν</foreign> (1486<hi rendition="#aq"><hi rendition="#sup">a</hi></hi> 31), d. h. also: „daß man <lb n="pba_440.037"/> durch die Schauspiele in den Stand gesetzt werde, den Empfindungen <hi rendition="#g">im rechten <lb n="pba_440.038"/> Maße Spielraum zu gewähren</hi> und sie solcherweise für die sittliche Bildung <hi rendition="#g">in <lb n="pba_440.039"/> Thätigkeit zu erhalten.</hi>“ Also <hi rendition="#g">nicht</hi> solle man „<hi rendition="#g">von ihnen entladen</hi>“ werden, <lb n="pba_440.040"/> sondern sie sollen in der <hi rendition="#g">rechten Weise erregt</hi> und <hi rendition="#g">lebendig erhalten</hi> werden!</note></p> <p><lb n="pba_440.023"/> Hier ist nun auch der Ort der viel berufenen <hi rendition="#g">musikalischen <lb n="pba_440.024"/> Katharsis</hi> zu gedenken, von der die aristotelische Politik handelt, und <lb n="pba_440.025"/> aus welcher Bernays seine mißverständliche Auffassung abgeleitet hat. <lb n="pba_440.026"/> Aristoteles untersucht an der Stelle das Wesen der Musik hinsichtlich <lb n="pba_440.027"/> ihrer Anwendbarkeit für die Erziehung und für noch andere, weiter <lb n="pba_440.028"/> gehende Zwecke des Gesetzgebers; er unterscheidet zu diesem Behufe <lb n="pba_440.029"/> <hi rendition="#g">ethische,</hi> die sittliche Kraft spannende, <hi rendition="#g">praktische,</hi> die Seele zum <lb n="pba_440.030"/> Handeln aufregende, und <hi rendition="#g">enthusiastische,</hi> die Begeisterung weckende, <lb n="pba_440.031"/> Lieder. Diesen letzteren schreibt er die Kraft zu, „<hi rendition="#g">gleichsam eine <lb n="pba_440.032"/> Katharsis</hi>“ im Gemüt zu bewirken, und begründet diese Ansicht fol- </p> </div> </body> </text> </TEI> [440/0458]
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lage, Komposition und Abschluß es die Kraft erhalte, das pba_440.002
in seinem Verlauf unvermeidlich hier und dort erzeugte Übermaß pba_440.003
der einen und der andern tragischen Empfindung durch seine Gesamtwirkung pba_440.004
hinwegzuläutern, die Schicksalsempfindungen pba_440.005
davon befreiend zu entlasten, dem Hörer somit die Möglichkeit, pba_440.006
Bereitschaft (δύναμις) herzustellen, daß er der reinen Schicksalsempfindungen pba_440.007
sich erfreue.
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Ein späterer Gegner des Aristoteles, den wunderlicherweise Bernays pba_440.009
als Zeugen für seine Theorie heranzieht, der Neuplatoniker Proklos, pba_440.010
hat für diese Wirkung der Tragödie, also für die Katharsis, den synonymen pba_440.011
Ausdruck: τὰς κινήσεις τῶν παθῶν ἐμμελῶς ἀναστέλλειν pba_440.012
d. h. „die Bewegungen der betreffenden Empfindungen in harmonischer pba_440.013
Weise herabmindern, zur Harmonie zurückführen“. Und zu noch pba_440.014
stärkerer Bestätigung: Proklos wandte für die aristotelische Katharsis pba_440.015
als gleichbedeutend einerseits den stärkeren Ausdruck ἀπέρασις an pba_440.016
— διαμηχανᾶσδαι τῶν παθῶν τούτων ἀπεράσεις τινάς d. h. pba_440.017
„für gewisse Mittel sorgen, die diesen Empfindungen bei Überladung pba_440.018
Abhülfe schaffen“ — andererseits den milderen ἀφοσίωσις = ihnen pba_440.019
beschwichtigend gerecht werden“; zur Erklärung beider aber fügt pba_440.020
er hinzu: αἱ ἀφοσιώσεις οὐκ ἐν ὑπερβολαῖς εἰσὶν, ἀλλ' ἐν συνεσταλμέναις pba_440.021
ἐνεργείαις = „solche Beschwichtigung liegt nicht in ihrem pba_440.022
Übermaß, sondern in der Einschränkung ihrer Bethätigungen“. 1
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Hier ist nun auch der Ort der viel berufenen musikalischen pba_440.024
Katharsis zu gedenken, von der die aristotelische Politik handelt, und pba_440.025
aus welcher Bernays seine mißverständliche Auffassung abgeleitet hat. pba_440.026
Aristoteles untersucht an der Stelle das Wesen der Musik hinsichtlich pba_440.027
ihrer Anwendbarkeit für die Erziehung und für noch andere, weiter pba_440.028
gehende Zwecke des Gesetzgebers; er unterscheidet zu diesem Behufe pba_440.029
ethische, die sittliche Kraft spannende, praktische, die Seele zum pba_440.030
Handeln aufregende, und enthusiastische, die Begeisterung weckende, pba_440.031
Lieder. Diesen letzteren schreibt er die Kraft zu, „gleichsam eine pba_440.032
Katharsis“ im Gemüt zu bewirken, und begründet diese Ansicht fol-
1 pba_440.033
Vgl. hierzu den oben citierten Aufsatz des Verfassers in Fleckeisens Jahrb. pba_440.034
für klass. Phil., 1875, S. 96 ff. Jn demselben Sinne sagt Proklos von den Schauspielen, pba_440.035
daß sie die Möglichkeit gewährten: ἐμμέτρως ἀποπιμπλάναι τὰ πάθη καὶ pba_440.036
ἀποπλήσαντας ἐνεργὰ πρὸς τὴν παιδείαν ἔχειν (1486a 31), d. h. also: „daß man pba_440.037
durch die Schauspiele in den Stand gesetzt werde, den Empfindungen im rechten pba_440.038
Maße Spielraum zu gewähren und sie solcherweise für die sittliche Bildung in pba_440.039
Thätigkeit zu erhalten.“ Also nicht solle man „von ihnen entladen“ werden, pba_440.040
sondern sie sollen in der rechten Weise erregt und lebendig erhalten werden!
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