Baumgart, Hermann: Handbuch der Poetik. Eine kritisch-theoretische Darstellung der Theorie der Dichtkunst. Stuttgart, 1887.pba_449.001 pba_449.028
Zweifel zu ziehen. Wenn es endlich Pol. I, 5 (1254b 24) heißt, daß die Tiere den pba_449.029 pathemasin unterworfen sind (uperetei), so ist es nach allem Gesagten außer Zweifel, pba_449.030 daß hier Aristoteles unmöglich pathesin schreiben konnte; es muß nur Wunder pba_449.031 nehmen, daß ein so ausgezeichneter Kenner des Aristoteles wie S. das nicht einsieht. pba_449.032 Nicht von den "Empfindungen" werden die Tiere beherrscht, sondern von den in pba_449.033 jedem einzelnen Falle in ihnen Platz greifenden, verwirklichten Empfindungseindrücken. pba_449.034 Wer sähe aber nicht, daß nach alledem dem Worte pathos die pba_449.035 Kraft inne wohnt, den Empfindungsvorgang seinem Begriff und Wesen nach pba_449.036 zu bezeichnen, daß dagegen dem Worte pathema die Färbung anhaftet, die individuelle, pba_449.037 mehr oder minder deteriorierte, nach der Seite des Zuviel oder Zuwenig pba_449.038 abweichende Form der Verwirklichung desselben verstehen zu lassen. -- Das sind die pba_449.039 sechs Einwendungen, welche nach der Meinung eines Teiles der Kritik die aus einem pba_449.040 überreichen Material gewonnenen Resultate der Abhandlung des Verf. widerlegen sollen. pba_449.001 pba_449.028
Zweifel zu ziehen. Wenn es endlich Pol. I, 5 (1254b 24) heißt, daß die Tiere den pba_449.029 παθήμασιν unterworfen sind (ὑπηρετεῖ), so ist es nach allem Gesagten außer Zweifel, pba_449.030 daß hier Aristoteles unmöglich πάθεσιν schreiben konnte; es muß nur Wunder pba_449.031 nehmen, daß ein so ausgezeichneter Kenner des Aristoteles wie S. das nicht einsieht. pba_449.032 Nicht von den „Empfindungen“ werden die Tiere beherrscht, sondern von den in pba_449.033 jedem einzelnen Falle in ihnen Platz greifenden, verwirklichten Empfindungseindrücken. pba_449.034 Wer sähe aber nicht, daß nach alledem dem Worte πάθος die pba_449.035 Kraft inne wohnt, den Empfindungsvorgang seinem Begriff und Wesen nach pba_449.036 zu bezeichnen, daß dagegen dem Worte πάθημα die Färbung anhaftet, die individuelle, pba_449.037 mehr oder minder deteriorierte, nach der Seite des Zuviel oder Zuwenig pba_449.038 abweichende Form der Verwirklichung desselben verstehen zu lassen. — Das sind die pba_449.039 sechs Einwendungen, welche nach der Meinung eines Teiles der Kritik die aus einem pba_449.040 überreichen Material gewonnenen Resultate der Abhandlung des Verf. widerlegen sollen. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <pb facs="#f0467" n="449"/> <p><lb n="pba_449.001"/> Wie aus des Aristoteles Büchern „Über die Seele“ und aus <lb n="pba_449.002"/> seiner nikomachischen Ethik allgemein bekannt ist, betrachtet er die <lb n="pba_449.003"/> „<hi rendition="#g">Pathe</hi>“, die Empfindungen, so zu sagen als die elementaren Vorgänge <lb n="pba_449.004"/> in der Seele, auf denen alle Lebensäußerungen derselben beruhen. 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Der überaus wichtigen Rolle entsprechend, <lb n="pba_449.010"/> die Aristoteles den Pathe zuweist, beschäftigen sich alle Disciplinen <lb n="pba_449.011"/> seiner Philosophie daher mit ihnen sehr eingehend und, nach <lb n="pba_449.012"/> seiner Weise, überall mit den einfachsten Mitteln das hellste Licht verbreitend. <lb n="pba_449.013"/> Sein System geht darauf hinaus, die unendlich große <lb n="pba_449.014"/> Menge jener elementaren Bewegungsvorgänge der Seele auf eine verhältnismäßig <lb n="pba_449.015"/> geringe Zahl von Gattungen zurückzuführen, die er als <lb n="pba_449.016"/> die Grundempfindungen mit den durch die Sprache überlieferten Namen <lb n="pba_449.017"/> bezeichnet. Jede derselben hat nun ein weites, ja unendliches, Gebiet, <lb n="pba_449.018"/> von dem sie umgeben ist und dessen Mittelpunkt sie bildet, sofern man <lb n="pba_449.019"/> unter der Bezeichnung des Grundpathos eben die Bethätigung desselben <lb n="pba_449.020"/> in der richtigen Weise, aus dem richtigen Anlaß an der richtigen Stelle <lb n="pba_449.021"/> versteht. Eine solche normale, gesunde Bethätigung erfüllt die Natur <lb n="pba_449.022"/> und Bestimmung der Seele und erweckt als die höchste Vollendung der <lb n="pba_449.023"/> nach dieser Seite hin denkbaren Energie in ihr das Gefühl der Hedone, <lb n="pba_449.024"/> der Freude. 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Wie aus des Aristoteles Büchern „Über die Seele“ und aus pba_449.002
seiner nikomachischen Ethik allgemein bekannt ist, betrachtet er die pba_449.003
„Pathe“, die Empfindungen, so zu sagen als die elementaren Vorgänge pba_449.004
in der Seele, auf denen alle Lebensäußerungen derselben beruhen. Erst pba_449.005
an ihnen üben der Verstand und die Vernunft, Logos und Nous, als pba_449.006
die der Seele eingeborenen obersten Kräfte, ihr Geschäft, welches darin pba_449.007
besteht, der Bethätigung der Empfindungen das rechte Maß anzuweisen pba_449.008
und das durch dieselbe angeregte Begehrungsvermögen zu den richtigen pba_449.009
Willensentscheidungen zu bestimmen. Der überaus wichtigen Rolle entsprechend, pba_449.010
die Aristoteles den Pathe zuweist, beschäftigen sich alle Disciplinen pba_449.011
seiner Philosophie daher mit ihnen sehr eingehend und, nach pba_449.012
seiner Weise, überall mit den einfachsten Mitteln das hellste Licht verbreitend. pba_449.013
Sein System geht darauf hinaus, die unendlich große pba_449.014
Menge jener elementaren Bewegungsvorgänge der Seele auf eine verhältnismäßig pba_449.015
geringe Zahl von Gattungen zurückzuführen, die er als pba_449.016
die Grundempfindungen mit den durch die Sprache überlieferten Namen pba_449.017
bezeichnet. Jede derselben hat nun ein weites, ja unendliches, Gebiet, pba_449.018
von dem sie umgeben ist und dessen Mittelpunkt sie bildet, sofern man pba_449.019
unter der Bezeichnung des Grundpathos eben die Bethätigung desselben pba_449.020
in der richtigen Weise, aus dem richtigen Anlaß an der richtigen Stelle pba_449.021
versteht. Eine solche normale, gesunde Bethätigung erfüllt die Natur pba_449.022
und Bestimmung der Seele und erweckt als die höchste Vollendung der pba_449.023
nach dieser Seite hin denkbaren Energie in ihr das Gefühl der Hedone, pba_449.024
der Freude. Die Arten der thatsächlichen Verwirklichungen eines jeden pba_449.025
Grundpathos, die Pathemata also, sind ihrer Möglichkeit nach unzählig, pba_449.026
unendlich viele Gradationen sind sowohl nach der Seite des pba_449.027
Zuviel als nach der des Zuwenig denkbar, ebenso hinsichtlich des richtigen 1
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Zweifel zu ziehen. Wenn es endlich Pol. I, 5 (1254b 24) heißt, daß die Tiere den pba_449.029
παθήμασιν unterworfen sind (ὑπηρετεῖ), so ist es nach allem Gesagten außer Zweifel, pba_449.030
daß hier Aristoteles unmöglich πάθεσιν schreiben konnte; es muß nur Wunder pba_449.031
nehmen, daß ein so ausgezeichneter Kenner des Aristoteles wie S. das nicht einsieht. pba_449.032
Nicht von den „Empfindungen“ werden die Tiere beherrscht, sondern von den in pba_449.033
jedem einzelnen Falle in ihnen Platz greifenden, verwirklichten Empfindungseindrücken. pba_449.034
Wer sähe aber nicht, daß nach alledem dem Worte πάθος die pba_449.035
Kraft inne wohnt, den Empfindungsvorgang seinem Begriff und Wesen nach pba_449.036
zu bezeichnen, daß dagegen dem Worte πάθημα die Färbung anhaftet, die individuelle, pba_449.037
mehr oder minder deteriorierte, nach der Seite des Zuviel oder Zuwenig pba_449.038
abweichende Form der Verwirklichung desselben verstehen zu lassen. — Das sind die pba_449.039
sechs Einwendungen, welche nach der Meinung eines Teiles der Kritik die aus einem pba_449.040
überreichen Material gewonnenen Resultate der Abhandlung des Verf. widerlegen sollen.
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