Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Baumgart, Hermann: Handbuch der Poetik. Eine kritisch-theoretische Darstellung der Theorie der Dichtkunst. Stuttgart, 1887.

Bild:
<< vorherige Seite

pba_451.001
1) die durch die Tragödie nachzuahmende Handlung ihrem stofflichen pba_451.002
Jnhalte
nach eine solche sei, welche die Grundempfindungen pba_451.003
der Furcht und des Mitleids zu erwecken vermögend sei;
und

pba_451.004
2) die Behandlung dieses Stoffes, Aufbau, Durchführung der pba_451.005
Handlung, Form der Darstellung eine solche sei, daß in dem tragischen pba_451.006
Kunstwerk die Wirkungskraft obwalte, die mannigfachen pba_451.007
Furcht- und Mitleidsempfindungen, die der bloße pba_451.008
Stoff der Tragödie in den vielfältigsten Trübungen, Übertreibungen, pba_451.009
aber auch Verkümmerungen naturgemäß unmittelbar pba_451.010
bei den Zuhörern wach zu rufen nie und nimmer pba_451.011
verfehlen kann, von allen diesen störenden, entstellenden pba_451.012
Beimischungen zu befreien, zu läutern: ihre Wirkung also pba_451.013
damit zu vollenden, daß die von ihr nachgeahmte Handlung pba_451.014
es erzielt hat, den Zuhörer in der höchsten und lautersten pba_451.015
Gemütsverfassung zu entlassen, mit den zur völligen Reinheit pba_451.016
hergestellten Schicksalsempfindungen der echten Furcht pba_451.017
und des echten Mitleids.

pba_451.018
Es bleibt nun noch die Aufgabe, diese Empfindungen, die so pba_451.019
Großes wirken sollen, selbst näher zu betrachten.



pba_451.020
XXIII.

pba_451.021
Es ist oben gesagt worden, daß das Ziel der Wirkung in jeder pba_451.022
Kunst eine Katharsis ist, eine Läuterung des Empfindens, in den bildenden pba_451.023
Künsten wie in der Musik und in der Poesie, und in dieser nicht pba_451.024
nur in der Tragödie und Komödie, sondern ebensowohl auch in der pba_451.025
Lyrik. Nichts ist daher auch gewöhnlicher, als daß von der "heilenden" pba_451.026
Kraft der Dichtung gesprochen wird, gerade wie Aristoteles sie einer pba_451.027
gewissen Art der Musik zuschreibt. Es ist natürlich, daß dieselbe besonders pba_451.028
da hervortritt, und daß von musikalischen und von lyrischen pba_451.029
Wirkungen der Art eben nur da gesprochen werden wird, wo starke, pba_451.030
tiefe, leidenschaftliche Empfindungen der Gegenstand der nachahmenden pba_451.031
Darstellung sind. Hier aber kann als Nebenwirkung, nicht als der pba_451.032
eigentliche Zweck, um dessentwillen sie entstanden sind, auch die Eigenschaft pba_451.033
solcher Kunstwerke hervorgehoben werden, daß sie von der Leidenschaft pba_451.034
belastete, gequälte Gemüter "gleichsam wie eine Kur" befreien und pba_451.035
ihnen freudige Erleichterung gewähren. Davon handelt eine schöne pba_451.036
Stelle in Goethes "Wanderjahren" (Buch 2, Kap. 5), die mit

pba_451.001
1) die durch die Tragödie nachzuahmende Handlung ihrem stofflichen pba_451.002
Jnhalte
nach eine solche sei, welche die Grundempfindungen pba_451.003
der Furcht und des Mitleids zu erwecken vermögend sei;
und

pba_451.004
2) die Behandlung dieses Stoffes, Aufbau, Durchführung der pba_451.005
Handlung, Form der Darstellung eine solche sei, daß in dem tragischen pba_451.006
Kunstwerk die Wirkungskraft obwalte, die mannigfachen pba_451.007
Furcht- und Mitleidsempfindungen, die der bloße pba_451.008
Stoff der Tragödie in den vielfältigsten Trübungen, Übertreibungen, pba_451.009
aber auch Verkümmerungen naturgemäß unmittelbar pba_451.010
bei den Zuhörern wach zu rufen nie und nimmer pba_451.011
verfehlen kann, von allen diesen störenden, entstellenden pba_451.012
Beimischungen zu befreien, zu läutern: ihre Wirkung also pba_451.013
damit zu vollenden, daß die von ihr nachgeahmte Handlung pba_451.014
es erzielt hat, den Zuhörer in der höchsten und lautersten pba_451.015
Gemütsverfassung zu entlassen, mit den zur völligen Reinheit pba_451.016
hergestellten Schicksalsempfindungen der echten Furcht pba_451.017
und des echten Mitleids.

pba_451.018
Es bleibt nun noch die Aufgabe, diese Empfindungen, die so pba_451.019
Großes wirken sollen, selbst näher zu betrachten.



pba_451.020
XXIII.

pba_451.021
Es ist oben gesagt worden, daß das Ziel der Wirkung in jeder pba_451.022
Kunst eine Katharsis ist, eine Läuterung des Empfindens, in den bildenden pba_451.023
Künsten wie in der Musik und in der Poesie, und in dieser nicht pba_451.024
nur in der Tragödie und Komödie, sondern ebensowohl auch in der pba_451.025
Lyrik. Nichts ist daher auch gewöhnlicher, als daß von der „heilenden“ pba_451.026
Kraft der Dichtung gesprochen wird, gerade wie Aristoteles sie einer pba_451.027
gewissen Art der Musik zuschreibt. Es ist natürlich, daß dieselbe besonders pba_451.028
da hervortritt, und daß von musikalischen und von lyrischen pba_451.029
Wirkungen der Art eben nur da gesprochen werden wird, wo starke, pba_451.030
tiefe, leidenschaftliche Empfindungen der Gegenstand der nachahmenden pba_451.031
Darstellung sind. Hier aber kann als Nebenwirkung, nicht als der pba_451.032
eigentliche Zweck, um dessentwillen sie entstanden sind, auch die Eigenschaft pba_451.033
solcher Kunstwerke hervorgehoben werden, daß sie von der Leidenschaft pba_451.034
belastete, gequälte Gemüter „gleichsam wie eine Kur“ befreien und pba_451.035
ihnen freudige Erleichterung gewähren. Davon handelt eine schöne pba_451.036
Stelle in GoethesWanderjahren“ (Buch 2, Kap. 5), die mit

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <pb facs="#f0469" n="451"/>
        <p><lb n="pba_451.001"/>
1) die durch die Tragödie nachzuahmende Handlung ihrem <hi rendition="#g">stofflichen <lb n="pba_451.002"/>
Jnhalte</hi> nach eine solche sei, welche <hi rendition="#g">die Grundempfindungen <lb n="pba_451.003"/>
der Furcht und des Mitleids zu erwecken vermögend sei;</hi> und</p>
        <p><lb n="pba_451.004"/>
2) die <hi rendition="#g">Behandlung</hi> dieses Stoffes, Aufbau, Durchführung der <lb n="pba_451.005"/>
Handlung, Form der Darstellung eine solche sei, <hi rendition="#g">daß in dem tragischen <lb n="pba_451.006"/>
Kunstwerk die Wirkungskraft obwalte, die mannigfachen <lb n="pba_451.007"/>
Furcht- und Mitleidsempfindungen, die der bloße <lb n="pba_451.008"/>
Stoff der Tragödie in den vielfältigsten Trübungen, Übertreibungen, <lb n="pba_451.009"/>
aber auch Verkümmerungen naturgemäß unmittelbar <lb n="pba_451.010"/>
bei den Zuhörern wach zu rufen nie und nimmer <lb n="pba_451.011"/>
verfehlen kann, von allen diesen störenden, entstellenden <lb n="pba_451.012"/>
Beimischungen zu befreien, zu läutern: ihre Wirkung also <lb n="pba_451.013"/>
damit zu vollenden, daß die von ihr nachgeahmte Handlung <lb n="pba_451.014"/>
es erzielt hat, den Zuhörer in der höchsten und lautersten <lb n="pba_451.015"/>
Gemütsverfassung zu entlassen, mit den zur völligen Reinheit <lb n="pba_451.016"/>
hergestellten Schicksalsempfindungen der echten Furcht <lb n="pba_451.017"/>
und des echten Mitleids.</hi></p>
        <p><lb n="pba_451.018"/>
Es bleibt nun noch die Aufgabe, diese Empfindungen, die so <lb n="pba_451.019"/>
Großes wirken sollen, selbst näher zu betrachten.</p>
      </div><lb/>
      <milestone rendition="#hr" unit="section"/>
      <lb n="pba_451.020"/>
      <div n="1">
        <head> <hi rendition="#c">XXIII.</hi> </head>
        <p><lb n="pba_451.021"/>
Es ist oben gesagt worden, daß das Ziel der Wirkung in jeder <lb n="pba_451.022"/>
Kunst eine Katharsis ist, eine Läuterung des Empfindens, in den bildenden <lb n="pba_451.023"/>
Künsten wie in der Musik und in der Poesie, und in dieser nicht <lb n="pba_451.024"/>
nur in der Tragödie und Komödie, sondern ebensowohl auch in der <lb n="pba_451.025"/>
Lyrik. Nichts ist daher auch gewöhnlicher, als daß von der &#x201E;heilenden&#x201C; <lb n="pba_451.026"/>
Kraft der Dichtung gesprochen wird, gerade wie Aristoteles sie einer <lb n="pba_451.027"/>
gewissen Art der Musik zuschreibt. Es ist natürlich, daß dieselbe besonders <lb n="pba_451.028"/>
da hervortritt, und daß von musikalischen und von lyrischen <lb n="pba_451.029"/>
Wirkungen der Art eben nur da gesprochen werden wird, wo starke, <lb n="pba_451.030"/>
tiefe, leidenschaftliche Empfindungen der Gegenstand der nachahmenden <lb n="pba_451.031"/>
Darstellung sind. Hier aber kann als <hi rendition="#g">Nebenwirkung,</hi> nicht als der <lb n="pba_451.032"/>
eigentliche Zweck, um dessentwillen sie entstanden sind, auch die Eigenschaft <lb n="pba_451.033"/>
solcher Kunstwerke hervorgehoben werden, daß sie von der Leidenschaft <lb n="pba_451.034"/>
belastete, gequälte Gemüter &#x201E;gleichsam wie eine Kur&#x201C; befreien und <lb n="pba_451.035"/>
ihnen freudige Erleichterung gewähren. Davon handelt eine schöne <lb n="pba_451.036"/>
Stelle in <hi rendition="#g">Goethes</hi> &#x201E;<hi rendition="#g">Wanderjahren</hi>&#x201C; (Buch 2, Kap. 5), die mit
</p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[451/0469] pba_451.001 1) die durch die Tragödie nachzuahmende Handlung ihrem stofflichen pba_451.002 Jnhalte nach eine solche sei, welche die Grundempfindungen pba_451.003 der Furcht und des Mitleids zu erwecken vermögend sei; und pba_451.004 2) die Behandlung dieses Stoffes, Aufbau, Durchführung der pba_451.005 Handlung, Form der Darstellung eine solche sei, daß in dem tragischen pba_451.006 Kunstwerk die Wirkungskraft obwalte, die mannigfachen pba_451.007 Furcht- und Mitleidsempfindungen, die der bloße pba_451.008 Stoff der Tragödie in den vielfältigsten Trübungen, Übertreibungen, pba_451.009 aber auch Verkümmerungen naturgemäß unmittelbar pba_451.010 bei den Zuhörern wach zu rufen nie und nimmer pba_451.011 verfehlen kann, von allen diesen störenden, entstellenden pba_451.012 Beimischungen zu befreien, zu läutern: ihre Wirkung also pba_451.013 damit zu vollenden, daß die von ihr nachgeahmte Handlung pba_451.014 es erzielt hat, den Zuhörer in der höchsten und lautersten pba_451.015 Gemütsverfassung zu entlassen, mit den zur völligen Reinheit pba_451.016 hergestellten Schicksalsempfindungen der echten Furcht pba_451.017 und des echten Mitleids. pba_451.018 Es bleibt nun noch die Aufgabe, diese Empfindungen, die so pba_451.019 Großes wirken sollen, selbst näher zu betrachten. pba_451.020 XXIII. pba_451.021 Es ist oben gesagt worden, daß das Ziel der Wirkung in jeder pba_451.022 Kunst eine Katharsis ist, eine Läuterung des Empfindens, in den bildenden pba_451.023 Künsten wie in der Musik und in der Poesie, und in dieser nicht pba_451.024 nur in der Tragödie und Komödie, sondern ebensowohl auch in der pba_451.025 Lyrik. Nichts ist daher auch gewöhnlicher, als daß von der „heilenden“ pba_451.026 Kraft der Dichtung gesprochen wird, gerade wie Aristoteles sie einer pba_451.027 gewissen Art der Musik zuschreibt. Es ist natürlich, daß dieselbe besonders pba_451.028 da hervortritt, und daß von musikalischen und von lyrischen pba_451.029 Wirkungen der Art eben nur da gesprochen werden wird, wo starke, pba_451.030 tiefe, leidenschaftliche Empfindungen der Gegenstand der nachahmenden pba_451.031 Darstellung sind. Hier aber kann als Nebenwirkung, nicht als der pba_451.032 eigentliche Zweck, um dessentwillen sie entstanden sind, auch die Eigenschaft pba_451.033 solcher Kunstwerke hervorgehoben werden, daß sie von der Leidenschaft pba_451.034 belastete, gequälte Gemüter „gleichsam wie eine Kur“ befreien und pba_451.035 ihnen freudige Erleichterung gewähren. Davon handelt eine schöne pba_451.036 Stelle in Goethes „Wanderjahren“ (Buch 2, Kap. 5), die mit

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription. (2015-09-30T09:54:39Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination
Sandra Richter: ePoetics-Projekt-Koordination

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: keine Angabe; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: wie Vorlage; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: nicht übernommen; langes s (ſ): wie Vorlage; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): wie Vorlage; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: nicht übernommen; u/v bzw. U/V: wie Vorlage; Vokale mit übergest. e: wie Vorlage; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/baumgart_poetik_1887
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/baumgart_poetik_1887/469
Zitationshilfe: Baumgart, Hermann: Handbuch der Poetik. Eine kritisch-theoretische Darstellung der Theorie der Dichtkunst. Stuttgart, 1887, S. 451. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/baumgart_poetik_1887/469>, abgerufen am 22.11.2024.