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Baumgart, Hermann: Handbuch der Poetik. Eine kritisch-theoretische Darstellung der Theorie der Dichtkunst. Stuttgart, 1887.

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pfindungen der reinen Furcht und des echten Mitleids die ihnen entsprechenden pba_467.002
Pathemata vom leidenschaftlich Trüben, beängstigend Entstellenden pba_467.003
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Die Ödipus-Sage stellt dafür die schwerste Aufgabe. Ohne jede, pba_467.005
wirklich so zu nennende "Schuld" wird Ödipus von dem grausamsten pba_467.006
Schicksal getroffen; es scheint der Fall vorzuliegen, den Aristoteles selbst pba_467.007
als untragisch bezeichnete, weil er das Entsetzliche -- das miaron -- pba_467.008
darstellt, das schwere Leiden des völlig Makellosen. Ein vor pba_467.009
seiner Geburt ergangener Götterspruch verurteilt ihn zum grauenvollsten pba_467.010
Geschick, dem er durch eifrigstes Bemühen, statt es zu vermeiden, nur pba_467.011
um so sicherer verfällt.

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Der antike Dichter ändert an diesem Thatbestande nichts und pba_467.013
erreicht dennoch die tragische Wirkung auch für unser modernes Gefühl: pba_467.014
ein höchst lehrreiches Zeugnis gegen den Satz, daß wir Neueren kein pba_467.015
Leidensgeschick als ein tragisches empfänden, wenn wir nicht die Ursache pba_467.016
desselben in einer "Verschuldung" des Leidenden erkennen könnten. pba_467.017
Dieser Satz, ein Axiom der modernen Ästhetik, enthält neben einem pba_467.018
Teil Wahrheit ein weit größeres Teil von Jrrtum, und zwar eines Jrrtums, pba_467.019
der die Grundfesten des tragischen Princips erschüttert.

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Ein Unglück, das der Leidende im vollen Umfang "verschuldet" pba_467.021
hat, ist ganz untragisch! Menschliches Mitgefühl (philanthropia) pba_467.022
empfinden wir auch mit einem solchen; das tragische Mitleid pba_467.023
verlangt einen unverdient (anaxios) Leidenden. Die Furcht pba_467.024
ferner, die ein durch "Schuld" herbeigeführtes Unglück erregt, ist diejenige pba_467.025
Furcht, deren die Moral als eines Zuchtmittels für die Schwachen pba_467.026
bedarf, die Furcht vor der Strafe: die tragische Furcht verlangt pba_467.027
einen Leidenden, der in diesem wesentlichsten Punkte uns, den Zuschauern pba_467.028
ähnlich (omoios) sei, d. h. eben nicht durch eigenes Verschulden pba_467.029
notwendig und mit Recht den damit verketteten Leiden pba_467.030
ausgesetzt. Diese Ähnlichkeit allein kann es bewirken, daß wir pba_467.031
uns dem Schicksal ganz ebenso wie der Leidende bloßgegeben fühlen, pba_467.032
daß wir also unter der Wucht der Vorstellung einer uns selbst bedrohenden pba_467.033
Macht die Furchtbarkeit dieser Macht anerkennen, d. h. daß pba_467.034
wir das Schicksal fürchten. Nur ein unverdientes Schicksal also pba_467.035
ist tragisch, nur die Furcht vor einem solchen ist tragische Furcht.

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Nicht aber als eine blinde Zufallsgewalt sollen wir das pba_467.037
Schicksal über uns empfinden und fürchten, sondern als eine göttlich pba_467.038
berechtigte, notwendige
und deshalb um so mehr unvermeidliche pba_467.039
Macht
es anerkennen und verehren. Jn dieser Gestalt hat pba_467.040
die Furcht alles Selbstische, Aengstliche, Leidenschaftliche, Ex-

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pfindungen der reinen Furcht und des echten Mitleids die ihnen entsprechenden pba_467.002
Pathemata vom leidenschaftlich Trüben, beängstigend Entstellenden pba_467.003
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Die Ödipus-Sage stellt dafür die schwerste Aufgabe. Ohne jede, pba_467.005
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Der antike Dichter ändert an diesem Thatbestande nichts und pba_467.013
erreicht dennoch die tragische Wirkung auch für unser modernes Gefühl: pba_467.014
ein höchst lehrreiches Zeugnis gegen den Satz, daß wir Neueren kein pba_467.015
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desselben in einer „Verschuldung“ des Leidenden erkennen könnten. pba_467.017
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Teil Wahrheit ein weit größeres Teil von Jrrtum, und zwar eines Jrrtums, pba_467.019
der die Grundfesten des tragischen Princips erschüttert.

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Ein Unglück, das der Leidende im vollen Umfangverschuldetpba_467.021
hat, ist ganz untragisch! Menschliches Mitgefühl (φιλανθρωπία) pba_467.022
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Nicht aber als eine blinde Zufallsgewalt sollen wir das pba_467.037
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Zitationshilfe: Baumgart, Hermann: Handbuch der Poetik. Eine kritisch-theoretische Darstellung der Theorie der Dichtkunst. Stuttgart, 1887, S. 467. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/baumgart_poetik_1887/485>, abgerufen am 22.11.2024.