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Baumgart, Hermann: Handbuch der Poetik. Eine kritisch-theoretische Darstellung der Theorie der Dichtkunst. Stuttgart, 1887.

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heischt. So repräsentiert der Chor hier die laute, gebieterische Volksstimme: pba_615.002
"Ja, es ist ein Gesetz, daß sterbend der Strom des vergossenen pba_615.003
Bluts Blut wieder verlangt; und es rufet der Mord die Erinnys wach, pba_615.004
von den früher Erschlagnen die Blutschuld wach, die heraufführt andere pba_615.005
Blutschuld!"

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Jn die immer bewegteren Mahnungen des Chors in frommer pba_615.007
Furcht das uralte heilige Götterrecht zu ehren mischt sich, gleichfalls pba_615.008
melisch erregt, das Gelöbnis des Orestes, das Unsühnbare zu rächen, pba_615.009
es mischt sich die Klage der Elektra darein um das unwürdig, schmachvoll, pba_615.010
ehrentblößte Leben, das die Mutter sie erdulden lassen, und weckt pba_615.011
nun auch das Mitleid:

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Jn meiner Kammer, eingesperrt wie ein böser Hund, pba_615.013
Vergaß ich das Lachen, brach in bittre Thränen aus, pba_615.014
Froh, wenn ich verhehlte meines Grames nassen Blick! pba_615.015
Was du vernommen, Bruder, schreib' es dir ins Herz!
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Chor: pba_615.017
Durchs Ohr bohre tief sich dieses Wort dir pba_615.018
Ein in des Herzens stillen Grund! pba_615.019
Das alles war wahrlich so! pba_615.020
Das andre geh' selbst zu schaun! pba_615.021
Du mußt mit furchtloser Kraft zum Kampf gehn!
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Orestes: pba_615.023
Jch rufe dich, Vater, sei den Deinen nah!
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Elektra: pba_615.025
Mit ruf' ich dich, Vater, bitterweinend dich!
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Chor: pba_615.027
Wir allzumal stimmen lauten Rufes ein! pba_615.028
Erhör' uns, steig' ans Licht empor, pba_615.029
Wider die Feinde hilf du!
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Orestes: pba_615.031
So messe sich jetzt Stärk' um Stärke, Recht um Recht!
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Elektra: pba_615.033
O Götter, jetzt endet unser Recht gerecht!
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Chor: pba_615.035
Mich überströmt Beben, hör' ich euer Flehn! pba_615.036
Das Gottverhängte harret längst; pba_615.037
Flehet ihr drum, so kommt es! pba_615.038
O du des Hauses Fluch! pba_615.039
O des verhängten Mords schneidender, blut'ger Mißlaut! pba_615.040
Weh, weh! gräßliches Amt des Sohnes! pba_615.041
Weh, weh! nimmergestillter Jammer! pba_615.042
"Dessen ein Balsam kann pba_615.043
Nimmer dem Haus' von Fremden, nur von ihm selber kommen pba_615.044
Durch bluttriefenden Hader": also pba_615.045
Das Lied drunten der dunklen Götter!

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heischt. So repräsentiert der Chor hier die laute, gebieterische Volksstimme: pba_615.002
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Bluts Blut wieder verlangt; und es rufet der Mord die Erinnys wach, pba_615.004
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Zitationshilfe: Baumgart, Hermann: Handbuch der Poetik. Eine kritisch-theoretische Darstellung der Theorie der Dichtkunst. Stuttgart, 1887, S. 615. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/baumgart_poetik_1887/633>, abgerufen am 22.11.2024.