Baumgart, Hermann: Handbuch der Poetik. Eine kritisch-theoretische Darstellung der Theorie der Dichtkunst. Stuttgart, 1887.pba_678.001 pba_678.019 1 pba_678.036
Als solche, als kinesis tes psukhes, muß Aristoteles den gelos definiert pba_678.037 haben, da er gelegentlich, in einer Stelle der ersten Analytik (I, 36, S. 48b 33) pba_678.038 es abweist, daß das Lachen als ein Symptom aufzufassen sei: ost' ou semeion pba_678.039 o gelos. pba_678.001 pba_678.019 1 pba_678.036
Als solche, als κίνησις τῆς ψυχῆς, muß Aristoteles den γέλως definiert pba_678.037 haben, da er gelegentlich, in einer Stelle der ersten Analytik (I, 36, S. 48b 33) pba_678.038 es abweist, daß das Lachen als ein Symptom aufzufassen sei: ὥστ' ού σημεῖον pba_678.039 ὁ γέλως. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <pb facs="#f0696" n="678"/> <p><lb n="pba_678.001"/> Ehe nun die Darstellung dazu vorschreitet, aus dieser Entwickelung <lb n="pba_678.002"/> die Konsequenzen für den vorliegenden Gegenstand zu ziehen, mag hier <lb n="pba_678.003"/> noch der gewagte Versuch gemacht werden, das Resultat derselben zu <lb n="pba_678.004"/> einer Rekonstruktion der aristotelischen Definition des Lachens zusammenzufassen. <lb n="pba_678.005"/> Dieselbe müßte also etwa so gelautet haben: <foreign xml:lang="grc">Ἔστι μὲν ὁ</foreign> <lb n="pba_678.006"/> <foreign xml:lang="grc">γέλως κίνησις ἡδεῖα τῆς ψυχῆς</foreign><note xml:id="pba_678_1" place="foot" n="1"><lb n="pba_678.036"/> Als solche, als <foreign xml:lang="grc">κίνησις τῆς ψυχῆς</foreign>, <hi rendition="#g">muß</hi> Aristoteles den <foreign xml:lang="grc">γέλως</foreign> definiert <lb n="pba_678.037"/> haben, da er gelegentlich, in einer Stelle der <hi rendition="#g">ersten Analytik</hi> (I, 36, S. 48<hi rendition="#sup">b</hi> 33) <lb n="pba_678.038"/> es abweist, daß das Lachen als ein <hi rendition="#g">Symptom</hi> aufzufassen sei: <foreign xml:lang="grc">ὥστ' ού σημεῖον</foreign> <lb n="pba_678.039"/> <foreign xml:lang="grc">ὁ γέλως</foreign>.</note> <foreign xml:lang="grc">καὶ παρακοπή</foreign> <foreign xml:lang="grc">τις καὶ ἀπάτη τῆς</foreign> <lb n="pba_678.007"/> <foreign xml:lang="grc">αἰσθήσεως δἰ ἁμαρτήματός τινος καὶ αἴσχους ἀνωδύνου καὶ</foreign> <lb n="pba_678.008"/> <foreign xml:lang="grc">οὐ φθαρτικοῦ</foreign>. „<hi rendition="#g">Das Lachen ist eine wohlgefällige Erschütterung <lb n="pba_678.009"/> der Seele, die in einer Überraschung und Täuschung <lb n="pba_678.010"/> des Empfindungsvermögens durch die weder schmerzlich <lb n="pba_678.011"/> noch verderblich wirkende Erscheinung des Fehlerhaften und <lb n="pba_678.012"/> Häßlichen besteht.</hi>“ Die „Täuschung“ würde also grade darin bestehen, <lb n="pba_678.013"/> <hi rendition="#g">daß</hi> das Fehlerhafte und Häßliche <hi rendition="#g">weder als schmerzlich <lb n="pba_678.014"/> noch als verderblich wirkend,</hi> sondern daß es <hi rendition="#g">wohlgefällig <lb n="pba_678.015"/> empfunden wird.</hi> Jene Bestimmungen des <foreign xml:lang="grc">ἀνώδυνον</foreign> und <foreign xml:lang="grc">οὐ</foreign> <lb n="pba_678.016"/> <foreign xml:lang="grc">φθαρτικόν</foreign> in der Definition des Lächerlichen im fünften Kapitel der <lb n="pba_678.017"/> Poetik wären also mehr als ein limitierender Zusatz, sie enthielten einen <lb n="pba_678.018"/> Hauptteil der Wesensangabe des Begriffes.</p> <p><lb n="pba_678.019"/> Aus alledem ergibt sich aber für die Kunst, die sich die Aufgabe <lb n="pba_678.020"/> stellt, eine lächerliche Handlung nachzuahmen und durch „<hi rendition="#g">Lachen</hi>“ also <lb n="pba_678.021"/> zu wirken, die Aufgabe, daß sie alles aufwende, <hi rendition="#g">damit die wohlgefällige <lb n="pba_678.022"/> Täuschung,</hi> die sie erregt, <hi rendition="#g">eine berechtigte,</hi> das <hi rendition="#g">Lachen,</hi> <lb n="pba_678.023"/> das sie hervorbringt, <hi rendition="#g">ein echt und wahrhaft erfreuendes sei.</hi> <lb n="pba_678.024"/> Kaum irgendwo ist die Gefahr der Abirrung für Dichter und Zuschauer <lb n="pba_678.025"/> so groß als eben hier. Nicht die Gefahr allein liegt vor, die Erscheinungen <lb n="pba_678.026"/> und Handlungen hinsichtlich des Fehlerhaften, Deformen, <lb n="pba_678.027"/> Häßlichen an ihnen <hi rendition="#g">falsch zu beurteilen</hi> — und welche, fast unbesiegbare <lb n="pba_678.028"/> Macht übt hier das <hi rendition="#g">Vorurteil</hi> in jeder Gestalt, nach Stand, <lb n="pba_678.029"/> Sitte, Religion, Partei, Erziehung, Schicksal, kurz nach der Gesamtheit <lb n="pba_678.030"/> der Lebensanschauungen und -Gewohnheiten! —, es liegt auch die nicht <lb n="pba_678.031"/> minder große Gefahr vor, <hi rendition="#g">eben nur auf das Lächerliche</hi> den Blick <lb n="pba_678.032"/> zu richten und so ein <hi rendition="#g">unvollständiges</hi> Bild der Erscheinung oder <lb n="pba_678.033"/> Handlung zu entwerfen, also ein <hi rendition="#g">innerlich unwahres.</hi> Jm ersteren <lb n="pba_678.034"/> Falle ist das <hi rendition="#g">Vorurteil</hi> zu besiegen, im zweiten die <hi rendition="#g">Schmähsucht</hi> und <lb n="pba_678.035"/> die <hi rendition="#g">Spottlust.</hi></p> </div> </body> </text> </TEI> [678/0696]
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Ehe nun die Darstellung dazu vorschreitet, aus dieser Entwickelung pba_678.002
die Konsequenzen für den vorliegenden Gegenstand zu ziehen, mag hier pba_678.003
noch der gewagte Versuch gemacht werden, das Resultat derselben zu pba_678.004
einer Rekonstruktion der aristotelischen Definition des Lachens zusammenzufassen. pba_678.005
Dieselbe müßte also etwa so gelautet haben: Ἔστι μὲν ὁ pba_678.006
γέλως κίνησις ἡδεῖα τῆς ψυχῆς 1 καὶ παρακοπή τις καὶ ἀπάτη τῆς pba_678.007
αἰσθήσεως δἰ ἁμαρτήματός τινος καὶ αἴσχους ἀνωδύνου καὶ pba_678.008
οὐ φθαρτικοῦ. „Das Lachen ist eine wohlgefällige Erschütterung pba_678.009
der Seele, die in einer Überraschung und Täuschung pba_678.010
des Empfindungsvermögens durch die weder schmerzlich pba_678.011
noch verderblich wirkende Erscheinung des Fehlerhaften und pba_678.012
Häßlichen besteht.“ Die „Täuschung“ würde also grade darin bestehen, pba_678.013
daß das Fehlerhafte und Häßliche weder als schmerzlich pba_678.014
noch als verderblich wirkend, sondern daß es wohlgefällig pba_678.015
empfunden wird. Jene Bestimmungen des ἀνώδυνον und οὐ pba_678.016
φθαρτικόν in der Definition des Lächerlichen im fünften Kapitel der pba_678.017
Poetik wären also mehr als ein limitierender Zusatz, sie enthielten einen pba_678.018
Hauptteil der Wesensangabe des Begriffes.
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Aus alledem ergibt sich aber für die Kunst, die sich die Aufgabe pba_678.020
stellt, eine lächerliche Handlung nachzuahmen und durch „Lachen“ also pba_678.021
zu wirken, die Aufgabe, daß sie alles aufwende, damit die wohlgefällige pba_678.022
Täuschung, die sie erregt, eine berechtigte, das Lachen, pba_678.023
das sie hervorbringt, ein echt und wahrhaft erfreuendes sei. pba_678.024
Kaum irgendwo ist die Gefahr der Abirrung für Dichter und Zuschauer pba_678.025
so groß als eben hier. Nicht die Gefahr allein liegt vor, die Erscheinungen pba_678.026
und Handlungen hinsichtlich des Fehlerhaften, Deformen, pba_678.027
Häßlichen an ihnen falsch zu beurteilen — und welche, fast unbesiegbare pba_678.028
Macht übt hier das Vorurteil in jeder Gestalt, nach Stand, pba_678.029
Sitte, Religion, Partei, Erziehung, Schicksal, kurz nach der Gesamtheit pba_678.030
der Lebensanschauungen und -Gewohnheiten! —, es liegt auch die nicht pba_678.031
minder große Gefahr vor, eben nur auf das Lächerliche den Blick pba_678.032
zu richten und so ein unvollständiges Bild der Erscheinung oder pba_678.033
Handlung zu entwerfen, also ein innerlich unwahres. Jm ersteren pba_678.034
Falle ist das Vorurteil zu besiegen, im zweiten die Schmähsucht und pba_678.035
die Spottlust.
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Als solche, als κίνησις τῆς ψυχῆς, muß Aristoteles den γέλως definiert pba_678.037
haben, da er gelegentlich, in einer Stelle der ersten Analytik (I, 36, S. 48b 33) pba_678.038
es abweist, daß das Lachen als ein Symptom aufzufassen sei: ὥστ' ού σημεῖον pba_678.039
ὁ γέλως.
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