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Baumgart, Hermann: Handbuch der Poetik. Eine kritisch-theoretische Darstellung der Theorie der Dichtkunst. Stuttgart, 1887.

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Ehe nun die Darstellung dazu vorschreitet, aus dieser Entwickelung pba_678.002
die Konsequenzen für den vorliegenden Gegenstand zu ziehen, mag hier pba_678.003
noch der gewagte Versuch gemacht werden, das Resultat derselben zu pba_678.004
einer Rekonstruktion der aristotelischen Definition des Lachens zusammenzufassen. pba_678.005
Dieselbe müßte also etwa so gelautet haben: Esti men o pba_678.006
gelos kinesis edeia tes psukhes1 kai parakope tis kai apate tes pba_678.007
aistheseos di amartematos tinos kai aiskhous anodunou kai pba_678.008
ou phthartikou. "Das Lachen ist eine wohlgefällige Erschütterung pba_678.009
der Seele, die in einer Überraschung und Täuschung pba_678.010
des Empfindungsvermögens durch die weder schmerzlich pba_678.011
noch verderblich wirkende Erscheinung des Fehlerhaften und pba_678.012
Häßlichen besteht.
" Die "Täuschung" würde also grade darin bestehen, pba_678.013
daß das Fehlerhafte und Häßliche weder als schmerzlich pba_678.014
noch als verderblich wirkend,
sondern daß es wohlgefällig pba_678.015
empfunden wird.
Jene Bestimmungen des anodunon und ou pba_678.016
phthartikon in der Definition des Lächerlichen im fünften Kapitel der pba_678.017
Poetik wären also mehr als ein limitierender Zusatz, sie enthielten einen pba_678.018
Hauptteil der Wesensangabe des Begriffes.

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Aus alledem ergibt sich aber für die Kunst, die sich die Aufgabe pba_678.020
stellt, eine lächerliche Handlung nachzuahmen und durch "Lachen" also pba_678.021
zu wirken, die Aufgabe, daß sie alles aufwende, damit die wohlgefällige pba_678.022
Täuschung,
die sie erregt, eine berechtigte, das Lachen, pba_678.023
das sie hervorbringt, ein echt und wahrhaft erfreuendes sei. pba_678.024
Kaum irgendwo ist die Gefahr der Abirrung für Dichter und Zuschauer pba_678.025
so groß als eben hier. Nicht die Gefahr allein liegt vor, die Erscheinungen pba_678.026
und Handlungen hinsichtlich des Fehlerhaften, Deformen, pba_678.027
Häßlichen an ihnen falsch zu beurteilen -- und welche, fast unbesiegbare pba_678.028
Macht übt hier das Vorurteil in jeder Gestalt, nach Stand, pba_678.029
Sitte, Religion, Partei, Erziehung, Schicksal, kurz nach der Gesamtheit pba_678.030
der Lebensanschauungen und -Gewohnheiten! --, es liegt auch die nicht pba_678.031
minder große Gefahr vor, eben nur auf das Lächerliche den Blick pba_678.032
zu richten und so ein unvollständiges Bild der Erscheinung oder pba_678.033
Handlung zu entwerfen, also ein innerlich unwahres. Jm ersteren pba_678.034
Falle ist das Vorurteil zu besiegen, im zweiten die Schmähsucht und pba_678.035
die Spottlust.

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Als solche, als kinesis tes psukhes, muß Aristoteles den gelos definiert pba_678.037
haben, da er gelegentlich, in einer Stelle der ersten Analytik (I, 36, S. 48b 33) pba_678.038
es abweist, daß das Lachen als ein Symptom aufzufassen sei: ost' ou semeion pba_678.039
o gelos.

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Ehe nun die Darstellung dazu vorschreitet, aus dieser Entwickelung pba_678.002
die Konsequenzen für den vorliegenden Gegenstand zu ziehen, mag hier pba_678.003
noch der gewagte Versuch gemacht werden, das Resultat derselben zu pba_678.004
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γέλως κίνησις ἡδεῖα τῆς ψυχῆς1 καὶ παρακοπή τις καὶ ἀπάτη τῆς pba_678.007
αἰσθήσεως δἰ ἁμαρτήματός τινος καὶ αἴσχους ἀνωδύνου καὶ pba_678.008
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des Empfindungsvermögens durch die weder schmerzlich pba_678.011
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Häßlichen besteht.
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daß das Fehlerhafte und Häßliche weder als schmerzlich pba_678.014
noch als verderblich wirkend,
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empfunden wird.
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φθαρτικόν in der Definition des Lächerlichen im fünften Kapitel der pba_678.017
Poetik wären also mehr als ein limitierender Zusatz, sie enthielten einen pba_678.018
Hauptteil der Wesensangabe des Begriffes.

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Aus alledem ergibt sich aber für die Kunst, die sich die Aufgabe pba_678.020
stellt, eine lächerliche Handlung nachzuahmen und durch „Lachen“ also pba_678.021
zu wirken, die Aufgabe, daß sie alles aufwende, damit die wohlgefällige pba_678.022
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Kaum irgendwo ist die Gefahr der Abirrung für Dichter und Zuschauer pba_678.025
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1 pba_678.036
Als solche, als κίνησις τῆς ψυχῆς, muß Aristoteles den γέλως definiert pba_678.037
haben, da er gelegentlich, in einer Stelle der ersten Analytik (I, 36, S. 48b 33) pba_678.038
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[678/0696] pba_678.001 Ehe nun die Darstellung dazu vorschreitet, aus dieser Entwickelung pba_678.002 die Konsequenzen für den vorliegenden Gegenstand zu ziehen, mag hier pba_678.003 noch der gewagte Versuch gemacht werden, das Resultat derselben zu pba_678.004 einer Rekonstruktion der aristotelischen Definition des Lachens zusammenzufassen. pba_678.005 Dieselbe müßte also etwa so gelautet haben: Ἔστι μὲν ὁ pba_678.006 γέλως κίνησις ἡδεῖα τῆς ψυχῆς 1 καὶ παρακοπή τις καὶ ἀπάτη τῆς pba_678.007 αἰσθήσεως δἰ ἁμαρτήματός τινος καὶ αἴσχους ἀνωδύνου καὶ pba_678.008 οὐ φθαρτικοῦ. „Das Lachen ist eine wohlgefällige Erschütterung pba_678.009 der Seele, die in einer Überraschung und Täuschung pba_678.010 des Empfindungsvermögens durch die weder schmerzlich pba_678.011 noch verderblich wirkende Erscheinung des Fehlerhaften und pba_678.012 Häßlichen besteht.“ Die „Täuschung“ würde also grade darin bestehen, pba_678.013 daß das Fehlerhafte und Häßliche weder als schmerzlich pba_678.014 noch als verderblich wirkend, sondern daß es wohlgefällig pba_678.015 empfunden wird. Jene Bestimmungen des ἀνώδυνον und οὐ pba_678.016 φθαρτικόν in der Definition des Lächerlichen im fünften Kapitel der pba_678.017 Poetik wären also mehr als ein limitierender Zusatz, sie enthielten einen pba_678.018 Hauptteil der Wesensangabe des Begriffes. pba_678.019 Aus alledem ergibt sich aber für die Kunst, die sich die Aufgabe pba_678.020 stellt, eine lächerliche Handlung nachzuahmen und durch „Lachen“ also pba_678.021 zu wirken, die Aufgabe, daß sie alles aufwende, damit die wohlgefällige pba_678.022 Täuschung, die sie erregt, eine berechtigte, das Lachen, pba_678.023 das sie hervorbringt, ein echt und wahrhaft erfreuendes sei. pba_678.024 Kaum irgendwo ist die Gefahr der Abirrung für Dichter und Zuschauer pba_678.025 so groß als eben hier. Nicht die Gefahr allein liegt vor, die Erscheinungen pba_678.026 und Handlungen hinsichtlich des Fehlerhaften, Deformen, pba_678.027 Häßlichen an ihnen falsch zu beurteilen — und welche, fast unbesiegbare pba_678.028 Macht übt hier das Vorurteil in jeder Gestalt, nach Stand, pba_678.029 Sitte, Religion, Partei, Erziehung, Schicksal, kurz nach der Gesamtheit pba_678.030 der Lebensanschauungen und -Gewohnheiten! —, es liegt auch die nicht pba_678.031 minder große Gefahr vor, eben nur auf das Lächerliche den Blick pba_678.032 zu richten und so ein unvollständiges Bild der Erscheinung oder pba_678.033 Handlung zu entwerfen, also ein innerlich unwahres. Jm ersteren pba_678.034 Falle ist das Vorurteil zu besiegen, im zweiten die Schmähsucht und pba_678.035 die Spottlust. 1 pba_678.036 Als solche, als κίνησις τῆς ψυχῆς, muß Aristoteles den γέλως definiert pba_678.037 haben, da er gelegentlich, in einer Stelle der ersten Analytik (I, 36, S. 48b 33) pba_678.038 es abweist, daß das Lachen als ein Symptom aufzufassen sei: ὥστ' ού σημεῖον pba_678.039 ὁ γέλως.

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Zitationshilfe: Baumgart, Hermann: Handbuch der Poetik. Eine kritisch-theoretische Darstellung der Theorie der Dichtkunst. Stuttgart, 1887, S. 678. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/baumgart_poetik_1887/696>, abgerufen am 31.10.2024.