Bechstein, Ludwig: Der Dunkelgraf. Frankfurt (Main), 1854.10. Ein Tag in Paris.
Ganz Paris war in brausender, flutender Bewegung. Unzählbare, unübersehbare Menschenmassen wälzten sich durch alle Straßen unter einem hellen, wolkenlosen Himmel hin; Alles war feiertäglich gekleidet, an allen Häusern prangten Laubgewinde und Kränze, wehten Tücher, Stoffe und Flaggen in den republikanischen Farben, von allen Fuhrwerken flatterten gleichfarbige Bänder, und ein Jubelruf der begeisterten Menge folgte dem anderen. Es mußte ein großer herrlicher, volksheiliger Tag sein, denn das Unerhörte fand statt, es feierte selbst -- die Guillotine. Hehr und feierlich, wie sonst, als Frankreich oder Paris noch an Gott glaubte und Gottesdienste besuchte, erklang das harmonische Geläute der Prachtkathedrale von Notre-Dame, der Genovevenkirche, der St. Sulpize und anderer durch die Morgenfrühe, aber fast wurden diese Klänge noch übertönt von kriegerischen Musikchören und endlosem Kanonendonner, der von den Höhen des Montmartre, von der Todtenstadt Pere la Chaise, von der Anhöhe über den elyseeischen Feldern und von den sanften Erhebungen der Fläche hinter den einsamen Vierteln St. Germain und der Barriere Vaugirard erscholl. Welch ein Tag war das? Es war ein Tag im Monat Juni des Jahres 1794, welchen Monat der seit dem vorigen Jahre neuersonnene republikanische Kalender Prairial nannte, Wiesenmond, dem deutschen Heumond sich gut annähernd, der Tag selbst aber trug statt des auf den achten dieses Monats fallenden Namenstag des heiligen Medardus der durch Beschluß der großen Nation abgeschafften christkatholischen Kirche den Namen Heugabel, welcher gerade so schön, obschon nicht weniger sinnlos klang, als der 5. Juni: Entrich, der 25. Schleihe oder der 10. April (Germinal): Oculirmesser, der 27. Juli (Messidor): Knoblauch, der 8. September (Fructidor): Hundskohl. Ob wohl die Verfasser dieses abgeschmackten Mischmasches von Oekonomiewerkzeugen 10. Ein Tag in Paris.
Ganz Paris war in brausender, flutender Bewegung. Unzählbare, unübersehbare Menschenmassen wälzten sich durch alle Straßen unter einem hellen, wolkenlosen Himmel hin; Alles war feiertäglich gekleidet, an allen Häusern prangten Laubgewinde und Kränze, wehten Tücher, Stoffe und Flaggen in den republikanischen Farben, von allen Fuhrwerken flatterten gleichfarbige Bänder, und ein Jubelruf der begeisterten Menge folgte dem anderen. Es mußte ein großer herrlicher, volksheiliger Tag sein, denn das Unerhörte fand statt, es feierte selbst — die Guillotine. Hehr und feierlich, wie sonst, als Frankreich oder Paris noch an Gott glaubte und Gottesdienste besuchte, erklang das harmonische Geläute der Prachtkathedrale von Notre-Dame, der Genovevenkirche, der St. Sulpize und anderer durch die Morgenfrühe, aber fast wurden diese Klänge noch übertönt von kriegerischen Musikchören und endlosem Kanonendonner, der von den Höhen des Montmartre, von der Todtenstadt Père la Chaise, von der Anhöhe über den elyséeischen Feldern und von den sanften Erhebungen der Fläche hinter den einsamen Vierteln St. Germain und der Barriere Vaugirard erscholl. Welch ein Tag war das? Es war ein Tag im Monat Juni des Jahres 1794, welchen Monat der seit dem vorigen Jahre neuersonnene republikanische Kalender Prairial nannte, Wiesenmond, dem deutschen Heumond sich gut annähernd, der Tag selbst aber trug statt des auf den achten dieses Monats fallenden Namenstag des heiligen Medardus der durch Beschluß der großen Nation abgeschafften christkatholischen Kirche den Namen Heugabel, welcher gerade so schön, obschon nicht weniger sinnlos klang, als der 5. Juni: Entrich, der 25. Schleihe oder der 10. April (Germinal): Oculirmesser, der 27. Juli (Messidor): Knoblauch, der 8. September (Fructidor): Hundskohl. Ob wohl die Verfasser dieses abgeschmackten Mischmasches von Oekonomiewerkzeugen <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0130" n="126"/> <head>10. Ein Tag in Paris.<lb/></head> <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/> <p>Ganz Paris war in brausender, flutender Bewegung. Unzählbare, unübersehbare Menschenmassen wälzten sich durch alle Straßen unter einem hellen, wolkenlosen Himmel hin; Alles war feiertäglich gekleidet, an allen Häusern prangten Laubgewinde und Kränze, wehten Tücher, Stoffe und Flaggen in den republikanischen Farben, von allen Fuhrwerken flatterten gleichfarbige Bänder, und ein Jubelruf der begeisterten Menge folgte dem anderen. Es mußte ein großer herrlicher, volksheiliger Tag sein, denn das Unerhörte fand statt, es feierte selbst — die Guillotine.</p> <p>Hehr und feierlich, wie sonst, als Frankreich oder Paris noch an Gott glaubte und Gottesdienste besuchte, erklang das harmonische Geläute der Prachtkathedrale von Notre-Dame, der Genovevenkirche, der St. Sulpize und anderer durch die Morgenfrühe, aber fast wurden diese Klänge noch übertönt von kriegerischen Musikchören und endlosem Kanonendonner, der von den Höhen des Montmartre, von der Todtenstadt Père la Chaise, von der Anhöhe über den elyséeischen Feldern und von den sanften Erhebungen der Fläche hinter den einsamen Vierteln St. Germain und der Barriere Vaugirard erscholl. Welch ein Tag war das?</p> <p>Es war ein Tag im Monat Juni des Jahres 1794, welchen Monat der seit dem vorigen Jahre neuersonnene republikanische Kalender Prairial nannte, Wiesenmond, dem deutschen Heumond sich gut annähernd, der Tag selbst aber trug statt des auf den achten dieses Monats fallenden Namenstag des heiligen Medardus der durch Beschluß der großen Nation abgeschafften christkatholischen Kirche den Namen Heugabel, welcher gerade so schön, obschon nicht weniger sinnlos klang, als der 5. Juni: Entrich, der 25. Schleihe oder der 10. April (Germinal): Oculirmesser, der 27. Juli (Messidor): Knoblauch, der 8. September (Fructidor): Hundskohl. Ob wohl die Verfasser dieses abgeschmackten Mischmasches von Oekonomiewerkzeugen </p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [126/0130]
10. Ein Tag in Paris.
Ganz Paris war in brausender, flutender Bewegung. Unzählbare, unübersehbare Menschenmassen wälzten sich durch alle Straßen unter einem hellen, wolkenlosen Himmel hin; Alles war feiertäglich gekleidet, an allen Häusern prangten Laubgewinde und Kränze, wehten Tücher, Stoffe und Flaggen in den republikanischen Farben, von allen Fuhrwerken flatterten gleichfarbige Bänder, und ein Jubelruf der begeisterten Menge folgte dem anderen. Es mußte ein großer herrlicher, volksheiliger Tag sein, denn das Unerhörte fand statt, es feierte selbst — die Guillotine.
Hehr und feierlich, wie sonst, als Frankreich oder Paris noch an Gott glaubte und Gottesdienste besuchte, erklang das harmonische Geläute der Prachtkathedrale von Notre-Dame, der Genovevenkirche, der St. Sulpize und anderer durch die Morgenfrühe, aber fast wurden diese Klänge noch übertönt von kriegerischen Musikchören und endlosem Kanonendonner, der von den Höhen des Montmartre, von der Todtenstadt Père la Chaise, von der Anhöhe über den elyséeischen Feldern und von den sanften Erhebungen der Fläche hinter den einsamen Vierteln St. Germain und der Barriere Vaugirard erscholl. Welch ein Tag war das?
Es war ein Tag im Monat Juni des Jahres 1794, welchen Monat der seit dem vorigen Jahre neuersonnene republikanische Kalender Prairial nannte, Wiesenmond, dem deutschen Heumond sich gut annähernd, der Tag selbst aber trug statt des auf den achten dieses Monats fallenden Namenstag des heiligen Medardus der durch Beschluß der großen Nation abgeschafften christkatholischen Kirche den Namen Heugabel, welcher gerade so schön, obschon nicht weniger sinnlos klang, als der 5. Juni: Entrich, der 25. Schleihe oder der 10. April (Germinal): Oculirmesser, der 27. Juli (Messidor): Knoblauch, der 8. September (Fructidor): Hundskohl. Ob wohl die Verfasser dieses abgeschmackten Mischmasches von Oekonomiewerkzeugen
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … gutenberg.org: Bereitstellung der Texttranskription und Auszeichnung in HTML.
(2013-01-22T14:54:31Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme aus gutenberg.org entsprechen muss.
austrian literature online: Bereitstellung der Bilddigitalisate
(2013-01-22T14:54:31Z)
Frederike Neuber: Konvertierung von HTML nach XML/TEI gemäß DTA-Basisformat.
(2013-01-22T14:54:31Z)
Weitere Informationen:Anmerkungen zur Transkription:
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |