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Bechstein, Ludwig: Der Dunkelgraf. Frankfurt (Main), 1854.

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aber welche Aussicht und welche Fernsicht ließen sie frei! Oede farblose Haidestrecken, so weit das Auge reichte, und weit reichte es nicht, denn die völlige Fläche der Gegend gönnte keinen ausgedehnten Blick. Der Freund schöner, romantischer Gegenden darf nicht in diese sumpfigen Oeden wallen; hier in diesen Nordseeküstenländern erhebt nur eins die Seele, das ist das Meer, das gewaltige Meer! Zur Rechten streifte der Blick am Vareler Busch, der hier endete, ostwärts bis Seggehorn und Jürgengrave hinab, Oertchen, die der Wald verdeckte. Dort am Nordrande des beschränkten Rundes der Aussicht grenzten der Kirchthurm von Bockhorn und die Windmühle dieses Ortes jene ab. Westwärts das weitgedehnte Marschland des Amtes Neuenburg -- dort ein einsames Gehöft -- es heißt Grabhorn -- dort wieder eins -- es heißt Grabstätte -- und ganz nahe dem Hofe Clus, im Westen, da erhob sich auf einem niedrigen Hügel jener Ort, den am gestrigen Abend die alte Reichsgräfin in ihrem Zorne genannt: der Vareler Rabenstein, und zeichnete seine düstern Formen wie eine dunkle Gespensterwarte auf die graue Nebelwand, die dahinter stand und nach dieser Richtung hin den Fernblick völlig abschnitt. Das war eine Umgebung, ganz geeignet, Gedanken düsterer Melancholie zu wecken und zu nähren.

Jetzt gedachte Ludwig des empfangenen Briefes, er zog denselben hervor, und stärker klopfte sein Herz -- was konnte der Brief enthalten? Jedenfalls eine Ausforderung zum Kampfe auf Tod und Leben -- nach dem was vorgefallen war, gab es keinen andern Weg der Sühne für beiderseitige unaussprechliche Beleidigung. Folgendes schrieb der Erbherr:

"Der gestrige Vorgang trennt uns beide für dieses Leben, keiner von uns darf und wird den andern mehr kennen. Verzeihen können wir einander die gegenseitigen, in maßloser Uebereilung ausgestoßenen Beleidigungen, aber vergessen können wir sie nicht. Ein Zweikampf wäre zwecklos und widersinnig, er wäre allzuungleich. Das Leben meines Gegners ist ein noch unbeschriebenes Blatt, es beginnt erst -- warum sollte ich es zu vernichten trachten? Ich bin nicht mordlustig. Mein Leben aber gehört nicht mir allein, es gehört meiner Familie, es gehört noch höheren Zwecken, denen ich diene und treu dienen werde, es gehört meinem Vaterlande. Eines nur will

aber welche Aussicht und welche Fernsicht ließen sie frei! Oede farblose Haidestrecken, so weit das Auge reichte, und weit reichte es nicht, denn die völlige Fläche der Gegend gönnte keinen ausgedehnten Blick. Der Freund schöner, romantischer Gegenden darf nicht in diese sumpfigen Oeden wallen; hier in diesen Nordseeküstenländern erhebt nur eins die Seele, das ist das Meer, das gewaltige Meer! Zur Rechten streifte der Blick am Vareler Busch, der hier endete, ostwärts bis Seggehorn und Jürgengrave hinab, Oertchen, die der Wald verdeckte. Dort am Nordrande des beschränkten Rundes der Aussicht grenzten der Kirchthurm von Bockhorn und die Windmühle dieses Ortes jene ab. Westwärts das weitgedehnte Marschland des Amtes Neuenburg — dort ein einsames Gehöft — es heißt Grabhorn — dort wieder eins — es heißt Grabstätte — und ganz nahe dem Hofe Clus, im Westen, da erhob sich auf einem niedrigen Hügel jener Ort, den am gestrigen Abend die alte Reichsgräfin in ihrem Zorne genannt: der Vareler Rabenstein, und zeichnete seine düstern Formen wie eine dunkle Gespensterwarte auf die graue Nebelwand, die dahinter stand und nach dieser Richtung hin den Fernblick völlig abschnitt. Das war eine Umgebung, ganz geeignet, Gedanken düsterer Melancholie zu wecken und zu nähren.

Jetzt gedachte Ludwig des empfangenen Briefes, er zog denselben hervor, und stärker klopfte sein Herz — was konnte der Brief enthalten? Jedenfalls eine Ausforderung zum Kampfe auf Tod und Leben — nach dem was vorgefallen war, gab es keinen andern Weg der Sühne für beiderseitige unaussprechliche Beleidigung. Folgendes schrieb der Erbherr:

„Der gestrige Vorgang trennt uns beide für dieses Leben, keiner von uns darf und wird den andern mehr kennen. Verzeihen können wir einander die gegenseitigen, in maßloser Uebereilung ausgestoßenen Beleidigungen, aber vergessen können wir sie nicht. Ein Zweikampf wäre zwecklos und widersinnig, er wäre allzuungleich. Das Leben meines Gegners ist ein noch unbeschriebenes Blatt, es beginnt erst — warum sollte ich es zu vernichten trachten? Ich bin nicht mordlustig. Mein Leben aber gehört nicht mir allein, es gehört meiner Familie, es gehört noch höheren Zwecken, denen ich diene und treu dienen werde, es gehört meinem Vaterlande. Eines nur will

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aber welche Aussicht und welche Fernsicht ließen sie frei! Oede farblose Haidestrecken, so weit das Auge reichte, und weit reichte es nicht, denn die völlige Fläche der Gegend gönnte keinen ausgedehnten Blick. Der Freund schöner, romantischer Gegenden darf nicht in diese sumpfigen Oeden wallen; hier in diesen Nordseeküstenländern erhebt nur eins die Seele, das ist das Meer, das gewaltige Meer! Zur Rechten streifte der Blick am Vareler Busch, der hier endete, ostwärts bis Seggehorn und Jürgengrave hinab, Oertchen, die der Wald verdeckte. Dort am Nordrande des beschränkten Rundes der Aussicht grenzten der Kirchthurm von Bockhorn und die Windmühle dieses Ortes jene ab. Westwärts das weitgedehnte Marschland des Amtes Neuenburg &#x2014; dort ein einsames Gehöft &#x2014; es heißt Grabhorn &#x2014; dort wieder eins &#x2014; es heißt Grabstätte &#x2014; und ganz nahe dem Hofe Clus, im Westen, da erhob sich auf einem niedrigen Hügel jener Ort, den am gestrigen Abend die alte Reichsgräfin in ihrem Zorne genannt: der Vareler Rabenstein, und zeichnete seine düstern Formen wie eine dunkle Gespensterwarte auf die graue Nebelwand, die dahinter stand und nach dieser Richtung hin den Fernblick völlig abschnitt. Das war eine Umgebung, ganz geeignet, Gedanken düsterer Melancholie zu wecken und zu nähren.</p>
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[45/0049] aber welche Aussicht und welche Fernsicht ließen sie frei! Oede farblose Haidestrecken, so weit das Auge reichte, und weit reichte es nicht, denn die völlige Fläche der Gegend gönnte keinen ausgedehnten Blick. Der Freund schöner, romantischer Gegenden darf nicht in diese sumpfigen Oeden wallen; hier in diesen Nordseeküstenländern erhebt nur eins die Seele, das ist das Meer, das gewaltige Meer! Zur Rechten streifte der Blick am Vareler Busch, der hier endete, ostwärts bis Seggehorn und Jürgengrave hinab, Oertchen, die der Wald verdeckte. Dort am Nordrande des beschränkten Rundes der Aussicht grenzten der Kirchthurm von Bockhorn und die Windmühle dieses Ortes jene ab. Westwärts das weitgedehnte Marschland des Amtes Neuenburg — dort ein einsames Gehöft — es heißt Grabhorn — dort wieder eins — es heißt Grabstätte — und ganz nahe dem Hofe Clus, im Westen, da erhob sich auf einem niedrigen Hügel jener Ort, den am gestrigen Abend die alte Reichsgräfin in ihrem Zorne genannt: der Vareler Rabenstein, und zeichnete seine düstern Formen wie eine dunkle Gespensterwarte auf die graue Nebelwand, die dahinter stand und nach dieser Richtung hin den Fernblick völlig abschnitt. Das war eine Umgebung, ganz geeignet, Gedanken düsterer Melancholie zu wecken und zu nähren. Jetzt gedachte Ludwig des empfangenen Briefes, er zog denselben hervor, und stärker klopfte sein Herz — was konnte der Brief enthalten? Jedenfalls eine Ausforderung zum Kampfe auf Tod und Leben — nach dem was vorgefallen war, gab es keinen andern Weg der Sühne für beiderseitige unaussprechliche Beleidigung. Folgendes schrieb der Erbherr: „Der gestrige Vorgang trennt uns beide für dieses Leben, keiner von uns darf und wird den andern mehr kennen. Verzeihen können wir einander die gegenseitigen, in maßloser Uebereilung ausgestoßenen Beleidigungen, aber vergessen können wir sie nicht. Ein Zweikampf wäre zwecklos und widersinnig, er wäre allzuungleich. Das Leben meines Gegners ist ein noch unbeschriebenes Blatt, es beginnt erst — warum sollte ich es zu vernichten trachten? Ich bin nicht mordlustig. Mein Leben aber gehört nicht mir allein, es gehört meiner Familie, es gehört noch höheren Zwecken, denen ich diene und treu dienen werde, es gehört meinem Vaterlande. Eines nur will

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Zitationshilfe: Bechstein, Ludwig: Der Dunkelgraf. Frankfurt (Main), 1854, S. 45. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bechstein_dunkelgraf_1854/49>, abgerufen am 21.11.2024.