Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Beck, Ludwig: Die Geschichte des Eisens. Bd. 1: Von der ältesten Zeit bis um das Jahr 1500 n. Chr. Braunschweig, 1884.

Bild:
<< vorherige Seite

Ägypten.
in der Farbe, dabei so ausdrucksvoll und verständlich, dass alles um
uns lebendig zu werden scheint und wir in den Grüften des Todes das
volle, heitere, bewegte Leben des ägyptischen Volkes empfinden. Das
"Wunderland" nannten mit Recht deshalb auch schon die Alten das
untere Nilthal.

Es ist nicht unsere Aufgabe, die Abkunft und ethnographische
Stellung des ägyptischen Volkes zu untersuchen. Ob sie von den
Äthiopiern stammen, wie Diodor behauptet, ob sie mit den Berbern
blutsverwandt sind oder ob, was die meisten Ägyptologen annehmen,
die weissen, herrschenden Kasten wenigstens von Osten her einwander-
ten als ein Zweig der semitischen Bevölkerung Westasiens, hat für die
Geschichte der Industrie des Landes wenig Bedeutung. Weit wichtiger
für dieselbe sind die Kulturbedingungen, welche das Land darbietet.
Diese sind so eigenartig, dass durch sie zumeist die Frühreife des
Volkes bedingt wurde. Das "Geschenk des Nils" nannten die Ägypter
ihr Land mit Recht. Das ganze untere Land, in dem die Kultur
Ägyptens sich entwickelte und blühte, ist aus dem fruchtbaren schwar-
zen Schlamm des mächtigen Stromes gebildet, der aus den ausgedehnten
Seeen Hochafrikas in der Nähe des Äquators entspringend, in mannig-
fachen Windungen die Hochgebirge Afrikas in nördlicher Richtung
durchschneidet, bis er in raschem Lauf, oft sprungweise in Wasser-
fällen und Stromschnellen dem Thale zueilt, das, von den Parallel-
ketten der lybischen und arabischen Bergketten eingeschlossen, das
schmale Gebiet des eigentlichen Ägyptens bildet. Nachdem der Fluss
das wilde Hochgebirge verlassen hat, verlangsamt er seinen Lauf und
dies giebt Veranlassung zu reichlichem Absatz des fruchtbaren Gebirgs-
schlammes, der den gesegneten Boden Ägyptens bildet. Von Syene,
wo der Strom den letzten Gebirgsriegel durchbricht, bis zu seiner
Mündung am Mittelländischen Meer beträgt sein ganzer Fall nur
300 Fuss. Die Schlammablagerungen des Nils sind aber keine gleich-
mässigen, sondern periodische, die mit grossartigen Überschwemmungen
des unteren Landes verbunden sind. Die ungeheuren Regengüsse,
welche in der äquatorialen Zone, in welcher der Ursprung der beiden
Nilarme liegt, in bestimmten Jahreszeiten eintreten, sind die Ursache
dieser Überschwemmungen. Mit dem Anfang des Sommers beginnt
der Strom zu steigen, bis er Ende Juli aus seinen Ufern tritt und bald
das ganze Thal zwischen den Bergketten erfüllt. Ende September pflegt
er 20 Fuss über seiner normalen Höhe zu stehen. Dann kehrt er ebenso
allmählich in sein altes Bett zurück. Die fruchtbare Schlammdecke,
die zurück bleibt, bestrahlt von der glühenden Sonne, lässt rasch die

Ägypten.
in der Farbe, dabei so ausdrucksvoll und verständlich, daſs alles um
uns lebendig zu werden scheint und wir in den Grüften des Todes das
volle, heitere, bewegte Leben des ägyptischen Volkes empfinden. Das
„Wunderland“ nannten mit Recht deshalb auch schon die Alten das
untere Nilthal.

Es ist nicht unsere Aufgabe, die Abkunft und ethnographische
Stellung des ägyptischen Volkes zu untersuchen. Ob sie von den
Äthiopiern stammen, wie Diodor behauptet, ob sie mit den Berbern
blutsverwandt sind oder ob, was die meisten Ägyptologen annehmen,
die weiſsen, herrschenden Kasten wenigstens von Osten her einwander-
ten als ein Zweig der semitischen Bevölkerung Westasiens, hat für die
Geschichte der Industrie des Landes wenig Bedeutung. Weit wichtiger
für dieselbe sind die Kulturbedingungen, welche das Land darbietet.
Diese sind so eigenartig, daſs durch sie zumeist die Frühreife des
Volkes bedingt wurde. Das „Geschenk des Nils“ nannten die Ägypter
ihr Land mit Recht. Das ganze untere Land, in dem die Kultur
Ägyptens sich entwickelte und blühte, ist aus dem fruchtbaren schwar-
zen Schlamm des mächtigen Stromes gebildet, der aus den ausgedehnten
Seeen Hochafrikas in der Nähe des Äquators entspringend, in mannig-
fachen Windungen die Hochgebirge Afrikas in nördlicher Richtung
durchschneidet, bis er in raschem Lauf, oft sprungweise in Wasser-
fällen und Stromschnellen dem Thale zueilt, das, von den Parallel-
ketten der lybischen und arabischen Bergketten eingeschlossen, das
schmale Gebiet des eigentlichen Ägyptens bildet. Nachdem der Fluſs
das wilde Hochgebirge verlassen hat, verlangsamt er seinen Lauf und
dies giebt Veranlassung zu reichlichem Absatz des fruchtbaren Gebirgs-
schlammes, der den gesegneten Boden Ägyptens bildet. Von Syene,
wo der Strom den letzten Gebirgsriegel durchbricht, bis zu seiner
Mündung am Mittelländischen Meer beträgt sein ganzer Fall nur
300 Fuſs. Die Schlammablagerungen des Nils sind aber keine gleich-
mäſsigen, sondern periodische, die mit groſsartigen Überschwemmungen
des unteren Landes verbunden sind. Die ungeheuren Regengüsse,
welche in der äquatorialen Zone, in welcher der Ursprung der beiden
Nilarme liegt, in bestimmten Jahreszeiten eintreten, sind die Ursache
dieser Überschwemmungen. Mit dem Anfang des Sommers beginnt
der Strom zu steigen, bis er Ende Juli aus seinen Ufern tritt und bald
das ganze Thal zwischen den Bergketten erfüllt. Ende September pflegt
er 20 Fuſs über seiner normalen Höhe zu stehen. Dann kehrt er ebenso
allmählich in sein altes Bett zurück. Die fruchtbare Schlammdecke,
die zurück bleibt, bestrahlt von der glühenden Sonne, läſst rasch die

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0076" n="54"/><fw place="top" type="header">Ägypten.</fw><lb/>
in der Farbe, dabei so ausdrucksvoll und verständlich, da&#x017F;s alles um<lb/>
uns lebendig zu werden scheint und wir in den Grüften des Todes das<lb/>
volle, heitere, bewegte Leben des ägyptischen Volkes empfinden. Das<lb/>
&#x201E;Wunderland&#x201C; nannten mit Recht deshalb auch schon die Alten das<lb/>
untere Nilthal.</p><lb/>
          <p>Es ist nicht unsere Aufgabe, die Abkunft und ethnographische<lb/>
Stellung des ägyptischen Volkes zu untersuchen. Ob sie von den<lb/>
Äthiopiern stammen, wie <hi rendition="#g">Diodor</hi> behauptet, ob sie mit den Berbern<lb/>
blutsverwandt sind oder ob, was die meisten Ägyptologen annehmen,<lb/>
die wei&#x017F;sen, herrschenden Kasten wenigstens von Osten her einwander-<lb/>
ten als ein Zweig der semitischen Bevölkerung Westasiens, hat für die<lb/>
Geschichte der Industrie des Landes wenig Bedeutung. Weit wichtiger<lb/>
für dieselbe sind die Kulturbedingungen, welche das Land darbietet.<lb/>
Diese sind so eigenartig, da&#x017F;s durch sie zumeist die Frühreife des<lb/>
Volkes bedingt wurde. Das &#x201E;Geschenk des Nils&#x201C; nannten die Ägypter<lb/>
ihr Land mit Recht. Das ganze untere Land, in dem die Kultur<lb/>
Ägyptens sich entwickelte und blühte, ist aus dem fruchtbaren schwar-<lb/>
zen Schlamm des mächtigen Stromes gebildet, der aus den ausgedehnten<lb/>
Seeen Hochafrikas in der Nähe des Äquators entspringend, in mannig-<lb/>
fachen Windungen die Hochgebirge Afrikas in nördlicher Richtung<lb/>
durchschneidet, bis er in raschem Lauf, oft sprungweise in Wasser-<lb/>
fällen und Stromschnellen dem Thale zueilt, das, von den Parallel-<lb/>
ketten der lybischen und arabischen Bergketten eingeschlossen, das<lb/>
schmale Gebiet des eigentlichen Ägyptens bildet. Nachdem der Flu&#x017F;s<lb/>
das wilde Hochgebirge verlassen hat, verlangsamt er seinen Lauf und<lb/>
dies giebt Veranlassung zu reichlichem Absatz des fruchtbaren Gebirgs-<lb/>
schlammes, der den gesegneten Boden Ägyptens bildet. Von Syene,<lb/>
wo der Strom den letzten Gebirgsriegel durchbricht, bis zu seiner<lb/>
Mündung am Mittelländischen Meer beträgt sein ganzer Fall nur<lb/>
300 Fu&#x017F;s. Die Schlammablagerungen des Nils sind aber keine gleich-<lb/>&#x017F;sigen, sondern periodische, die mit gro&#x017F;sartigen Überschwemmungen<lb/>
des unteren Landes verbunden sind. Die ungeheuren Regengüsse,<lb/>
welche in der äquatorialen Zone, in welcher der Ursprung der beiden<lb/>
Nilarme liegt, in bestimmten Jahreszeiten eintreten, sind die Ursache<lb/>
dieser Überschwemmungen. Mit dem Anfang des Sommers beginnt<lb/>
der Strom zu steigen, bis er Ende Juli aus seinen Ufern tritt und bald<lb/>
das ganze Thal zwischen den Bergketten erfüllt. Ende September pflegt<lb/>
er 20 Fu&#x017F;s über seiner normalen Höhe zu stehen. Dann kehrt er ebenso<lb/>
allmählich in sein altes Bett zurück. Die fruchtbare Schlammdecke,<lb/>
die zurück bleibt, bestrahlt von der glühenden Sonne, lä&#x017F;st rasch die<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[54/0076] Ägypten. in der Farbe, dabei so ausdrucksvoll und verständlich, daſs alles um uns lebendig zu werden scheint und wir in den Grüften des Todes das volle, heitere, bewegte Leben des ägyptischen Volkes empfinden. Das „Wunderland“ nannten mit Recht deshalb auch schon die Alten das untere Nilthal. Es ist nicht unsere Aufgabe, die Abkunft und ethnographische Stellung des ägyptischen Volkes zu untersuchen. Ob sie von den Äthiopiern stammen, wie Diodor behauptet, ob sie mit den Berbern blutsverwandt sind oder ob, was die meisten Ägyptologen annehmen, die weiſsen, herrschenden Kasten wenigstens von Osten her einwander- ten als ein Zweig der semitischen Bevölkerung Westasiens, hat für die Geschichte der Industrie des Landes wenig Bedeutung. Weit wichtiger für dieselbe sind die Kulturbedingungen, welche das Land darbietet. Diese sind so eigenartig, daſs durch sie zumeist die Frühreife des Volkes bedingt wurde. Das „Geschenk des Nils“ nannten die Ägypter ihr Land mit Recht. Das ganze untere Land, in dem die Kultur Ägyptens sich entwickelte und blühte, ist aus dem fruchtbaren schwar- zen Schlamm des mächtigen Stromes gebildet, der aus den ausgedehnten Seeen Hochafrikas in der Nähe des Äquators entspringend, in mannig- fachen Windungen die Hochgebirge Afrikas in nördlicher Richtung durchschneidet, bis er in raschem Lauf, oft sprungweise in Wasser- fällen und Stromschnellen dem Thale zueilt, das, von den Parallel- ketten der lybischen und arabischen Bergketten eingeschlossen, das schmale Gebiet des eigentlichen Ägyptens bildet. Nachdem der Fluſs das wilde Hochgebirge verlassen hat, verlangsamt er seinen Lauf und dies giebt Veranlassung zu reichlichem Absatz des fruchtbaren Gebirgs- schlammes, der den gesegneten Boden Ägyptens bildet. Von Syene, wo der Strom den letzten Gebirgsriegel durchbricht, bis zu seiner Mündung am Mittelländischen Meer beträgt sein ganzer Fall nur 300 Fuſs. Die Schlammablagerungen des Nils sind aber keine gleich- mäſsigen, sondern periodische, die mit groſsartigen Überschwemmungen des unteren Landes verbunden sind. Die ungeheuren Regengüsse, welche in der äquatorialen Zone, in welcher der Ursprung der beiden Nilarme liegt, in bestimmten Jahreszeiten eintreten, sind die Ursache dieser Überschwemmungen. Mit dem Anfang des Sommers beginnt der Strom zu steigen, bis er Ende Juli aus seinen Ufern tritt und bald das ganze Thal zwischen den Bergketten erfüllt. Ende September pflegt er 20 Fuſs über seiner normalen Höhe zu stehen. Dann kehrt er ebenso allmählich in sein altes Bett zurück. Die fruchtbare Schlammdecke, die zurück bleibt, bestrahlt von der glühenden Sonne, läſst rasch die

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/beck_eisen01_1884
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/beck_eisen01_1884/76
Zitationshilfe: Beck, Ludwig: Die Geschichte des Eisens. Bd. 1: Von der ältesten Zeit bis um das Jahr 1500 n. Chr. Braunschweig, 1884, S. 54. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/beck_eisen01_1884/76>, abgerufen am 03.05.2024.