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Martens, Georg von: Die preussische Expedition nach Ost-Asien. Nach amtlichen Quellen. Vierter Band. Berlin, 1873.

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Die Stadt Kan-ton. XIX.
gekommen sein, an deren Stelle sich die Tartaren innerhalb der
Ringmauer ansiedelten. Die neuere Chinesenstadt wurde südlich
an jene ältere, jetzt die Tartarenstadt angebaut und ebenfalls mit
einer Mauer umgeben. Der ganze Umkreis soll etwa 11/4 Meilen be-
tragen. Vier Thore, die noch heute zur Nachtzeit geschlossen
werden, führen aus der Chinesen-Stadt in die tartarische. --
Bis zum zweiten englischen Kriege war Kan-ton der blühendste
Stapelplatz des fremden Handels; auf weitem Landwege kamen die
Ausfuhr-Artikel durch das rauhe Mei-lin-Gebirge aus den ent-
ferntesten Gegenden. Durch Freigebung der nördlichen Häfen und
der Schiffahrt auf dem Yan-tse-kian gelangen jetzt die Erzeug-
nisse der nördlichen Provinzen auf bequemeren und kürzeren We-
gen in die Hände der Fremden; Kan-ton wird sich zur alten Be-
deutung kaum wieder erheben.

Auf dem Uferstreifen südlich von der Stadt waren noch die
Grundmauern der verbrannten Factoreien, die Wege und Rasen-
plätze der davorliegenden Gärten sichtbar. Die Stelle, wo Yi's
Palast stand, hatten die Franzosen mit einer Mauer umschlossen;
eine Kirche und ein Missionshaus sollten dort gebaut werden. Der
zur neuen Ansiedlung der Fremden bestimmte Platz am Fluss in
der Nähe der alten Factoreien war mit einem Quai eingefasst. Vor
etwa drei Wochen hatten die englischen Truppen Kan-ton ge-
räumt, wo den ganzen Krieg durch, so gut wie in Shang-hae, der
fremde Handel ungestörten Fortgang nahm. Die nähere Berührung
mit den Bewohnern während der langen Occupation trug die heil-
samsten Früchte: ihre alten Vorurtheile schienen überwunden, der
eingewurzelte Fremdenhass völlig ausgerottet. Ueberall begegneten
sie den Fremden mit Höflichkeit und Vertrauen, auch die Haltung
der Behörden liess nichts zu wünschen übrig. Die Deutschen in
Kan-ton, besonders der preussische Consul, wünschten lebhaft,
dass der Gesandte mit dem Vicekönig Lu in Berührung träte; der
Prüfung von 8500 Candidaten wegen hatte sich Dieser jedoch seit
vierzehn Tagen in dem dazu bestimmten Gebäude eingeschlossen
und wollte einige Zeit ungestört bleiben.

Die Bevölkerung von Kan-ton und den Vorstädten soll über
eine Million betragen. Seine Gassen sind düster und winklig, hier
und da so eng, dass man in der Mitte stehend mit beiden Händen
die Häuser berühren kann, für eine chinesische Stadt aber auffallend
reinlich. Nach früheren Schilderungen zu urtheilen, muss die

Die Stadt Kan-ton. XIX.
gekommen sein, an deren Stelle sich die Tartaren innerhalb der
Ringmauer ansiedelten. Die neuere Chinesenstadt wurde südlich
an jene ältere, jetzt die Tartarenstadt angebaut und ebenfalls mit
einer Mauer umgeben. Der ganze Umkreis soll etwa 1¼ Meilen be-
tragen. Vier Thore, die noch heute zur Nachtzeit geschlossen
werden, führen aus der Chinesen-Stadt in die tartarische. —
Bis zum zweiten englischen Kriege war Kan-ton der blühendste
Stapelplatz des fremden Handels; auf weitem Landwege kamen die
Ausfuhr-Artikel durch das rauhe Mei-liṅ-Gebirge aus den ent-
ferntesten Gegenden. Durch Freigebung der nördlichen Häfen und
der Schiffahrt auf dem Yaṅ-tse-kiaṅ gelangen jetzt die Erzeug-
nisse der nördlichen Provinzen auf bequemeren und kürzeren We-
gen in die Hände der Fremden; Kan-ton wird sich zur alten Be-
deutung kaum wieder erheben.

Auf dem Uferstreifen südlich von der Stadt waren noch die
Grundmauern der verbrannten Factoreien, die Wege und Rasen-
plätze der davorliegenden Gärten sichtbar. Die Stelle, wo Yi’s
Palast stand, hatten die Franzosen mit einer Mauer umschlossen;
eine Kirche und ein Missionshaus sollten dort gebaut werden. Der
zur neuen Ansiedlung der Fremden bestimmte Platz am Fluss in
der Nähe der alten Factoreien war mit einem Quai eingefasst. Vor
etwa drei Wochen hatten die englischen Truppen Kan-ton ge-
räumt, wo den ganzen Krieg durch, so gut wie in Shang-hae, der
fremde Handel ungestörten Fortgang nahm. Die nähere Berührung
mit den Bewohnern während der langen Occupation trug die heil-
samsten Früchte: ihre alten Vorurtheile schienen überwunden, der
eingewurzelte Fremdenhass völlig ausgerottet. Ueberall begegneten
sie den Fremden mit Höflichkeit und Vertrauen, auch die Haltung
der Behörden liess nichts zu wünschen übrig. Die Deutschen in
Kan-ton, besonders der preussische Consul, wünschten lebhaft,
dass der Gesandte mit dem Vicekönig Lu in Berührung träte; der
Prüfung von 8500 Candidaten wegen hatte sich Dieser jedoch seit
vierzehn Tagen in dem dazu bestimmten Gebäude eingeschlossen
und wollte einige Zeit ungestört bleiben.

Die Bevölkerung von Kan-ton und den Vorstädten soll über
eine Million betragen. Seine Gassen sind düster und winklig, hier
und da so eng, dass man in der Mitte stehend mit beiden Händen
die Häuser berühren kann, für eine chinesische Stadt aber auffallend
reinlich. Nach früheren Schilderungen zu urtheilen, muss die

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[192/0206] Die Stadt Kan-ton. XIX. gekommen sein, an deren Stelle sich die Tartaren innerhalb der Ringmauer ansiedelten. Die neuere Chinesenstadt wurde südlich an jene ältere, jetzt die Tartarenstadt angebaut und ebenfalls mit einer Mauer umgeben. Der ganze Umkreis soll etwa 1¼ Meilen be- tragen. Vier Thore, die noch heute zur Nachtzeit geschlossen werden, führen aus der Chinesen-Stadt in die tartarische. — Bis zum zweiten englischen Kriege war Kan-ton der blühendste Stapelplatz des fremden Handels; auf weitem Landwege kamen die Ausfuhr-Artikel durch das rauhe Mei-liṅ-Gebirge aus den ent- ferntesten Gegenden. Durch Freigebung der nördlichen Häfen und der Schiffahrt auf dem Yaṅ-tse-kiaṅ gelangen jetzt die Erzeug- nisse der nördlichen Provinzen auf bequemeren und kürzeren We- gen in die Hände der Fremden; Kan-ton wird sich zur alten Be- deutung kaum wieder erheben. Auf dem Uferstreifen südlich von der Stadt waren noch die Grundmauern der verbrannten Factoreien, die Wege und Rasen- plätze der davorliegenden Gärten sichtbar. Die Stelle, wo Yi’s Palast stand, hatten die Franzosen mit einer Mauer umschlossen; eine Kirche und ein Missionshaus sollten dort gebaut werden. Der zur neuen Ansiedlung der Fremden bestimmte Platz am Fluss in der Nähe der alten Factoreien war mit einem Quai eingefasst. Vor etwa drei Wochen hatten die englischen Truppen Kan-ton ge- räumt, wo den ganzen Krieg durch, so gut wie in Shang-hae, der fremde Handel ungestörten Fortgang nahm. Die nähere Berührung mit den Bewohnern während der langen Occupation trug die heil- samsten Früchte: ihre alten Vorurtheile schienen überwunden, der eingewurzelte Fremdenhass völlig ausgerottet. Ueberall begegneten sie den Fremden mit Höflichkeit und Vertrauen, auch die Haltung der Behörden liess nichts zu wünschen übrig. Die Deutschen in Kan-ton, besonders der preussische Consul, wünschten lebhaft, dass der Gesandte mit dem Vicekönig Lu in Berührung träte; der Prüfung von 8500 Candidaten wegen hatte sich Dieser jedoch seit vierzehn Tagen in dem dazu bestimmten Gebäude eingeschlossen und wollte einige Zeit ungestört bleiben. Die Bevölkerung von Kan-ton und den Vorstädten soll über eine Million betragen. Seine Gassen sind düster und winklig, hier und da so eng, dass man in der Mitte stehend mit beiden Händen die Häuser berühren kann, für eine chinesische Stadt aber auffallend reinlich. Nach früheren Schilderungen zu urtheilen, muss die

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Zitationshilfe: Martens, Georg von: Die preussische Expedition nach Ost-Asien. Nach amtlichen Quellen. Vierter Band. Berlin, 1873, S. 192. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/berg_ostasien04_1873/206>, abgerufen am 27.11.2024.